Der Krieg, den die russischen Streitkräfte seit einem Jahr gegen die Ukraine führen, hat allein Putin vom Zaun gerissen. Ohne seinen grossrussischen Machtwahn und seine Obsession von angeblichen westlich-ukrainischen Eroberungsplänen gegen Russland würde dieser grauenvolle Krieg nicht stattfinden. In der russischen Bevölkerung gibt es kaum noch erkennbaren Widerstand gegen Putins Krieg – aber wohl eher aus Angst vor Repression und aus Resignation.
Wer an der alleinigen Zuständigkeit Putins für den russischen Überfall auf die Ukraine zweifelt, sollte sich den Video-Film (2. Sequenz) von seiner Sitzung mit den Mitgliedern des nationalen Sicherheitsrats im Säulen-Saal des Kremls vom 21. Februar 2022 anschauen. In dem riesigen weissen Saal sitzt Präsident Putin hinter einem Schreibtisch. Mit weitem Abstand sind auf Stühlen im Halbkreis seine Gesprächspartner versammelt, die Hände auf den Knien verschränkt, den Blick zu Putin. Es sind seine engsten Gefolgsleute seit Jahren, von Aussenminister Lawrow über Verteidigungsminister Schoigu bis zum FSB-Geheimdienstchef Bortnikow.
Die Schlüsselfigur im Kreml
Putin erklärt, dass er die Lage im Donbass besprechen wolle. Die selbst proklamierten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk würden von den «derzeitigen Machthabern in Kiew» militärisch angegriffen. Wie sollen wir auf die Bitte der beiden Republiken um Anerkennung durch Russland reagieren? fragt er in die Runde und fügt hinzu, dass die Ukraine vom Westen zunehmend «als Werkzeug der Konfrontation mit unserem Land» benutzt werde.
Der Präsident bittet dann die Mitglieder des Sicherheitsrates, hinter das Rednerpult zu seiner Linken zu gehen und ihre Meinung zu äussern. Einer nach dem andern geht ans Pult und erklärt mehr oder weniger deutlich seine Zustimmung zur Anerkennung der abtrünnigen ukrainischen Gebiete. Doch der Leiter des Auslandgeheimdienstes, Sergei Narischkin, verheddert sich und gibt zunächst nicht die richtige Antwort. Putin korrigiert ihn wie einen verdatterten Schüler. Als Narischkin schliesslich den richtigen Text artikuliert hat, entlässt ihn der Präsident mit einem schulmeisterlichen «Setzen Sie sich».
In dieser gespenstischen Kreml-Inszenierung war von einem Krieg mit der Ukraine noch nicht explizit die Rede. Auch nicht bei einem anschliessenden einstündigen Fernsehauftritt Putins am gleichen Tag, in der er dem russischen Volk erklärt, die Ukraine sei ein «unverzichtbarer Teil unserer eigenen Geschichte» und die jetzige Regierung in Kiew betreibe eine Politik der «aggressiven Russophobie und des Neonazismus».
Doch drei Tage später, am 24. Februar 2022 um sechs Uhr früh tritt Putin wieder im Fernsehen auf und behauptet, die «extremen Nationalisten und Neonazis» in der Ukraine bereiteten sich, unterstützt von den Nato-Ländern, unmissverständlich auf einen Angriff gegen Russland vor. Sie forderten jetzt sogar eigene Atomwaffen, behauptet er ohne jeden Beweis. (Dass die Ukraine ihre früheren sowjetischen Nuklearraketen an Russland übergeben hatte und Moskau als Gegenleistung 1994 im Budapester Protokoll ausdrückliche die Unantastbarkeit der ukrainischen Grenzen garantiert hatte, verschweigt der Kremlchef.) Deshalb, fuhr Putin fort, bleibe Russland keine andere Möglichkeit, sich zu verteidigen und eine «militärische Spezialoperation» durchzuführen. Um Russland zu schützen, «streben wir die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine an».
Anders als beim Beschluss zur Anerkennung der separatistischen Donbass-Gebiete drei Tage zuvor ist von irgendwelchen kollektiven Gremien, die diese Kriegsankündigung abgenickt hätten, überhaupt nicht mehr die Rede. Putin allein ist der Kriegsherr. Alle anderen Chargen im russischen Machtapparat sind nur seine Erfüllungsgehilfen.
Die Verantwortung des Kriegsherrn
Doch der Kremlchef hat sich offenkundig mit diesem Angriffskrieg schwer verrechnet. Das Kalkül, das viel kleinere und militärisch schwächere Nachbarland in wenigen Tagen zu überrennen, die Regierung in Kiew zu vertreiben oder gefangen zu nehmen und eine moskauhörige Marionettenregierung zu installieren, ähnlich wie bei der Eroberung der ukrainischen Krim vor acht Jahren, ist nicht aufgegangen. Nach einem Jahr Krieg hat das russische Militär nur rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobert. Die Regierung in Kiew sitzt fest im Sattel und Präsident Selenskyj ist als Motor des ukrainischen Widerstandes zu einem weitherum bewunderten Politstar geworden.
Dennoch sind die Opfer und die Leiden, die Putins Krieg bisher über die Ukraine und teilweise auch über das eigene Land gebracht hat, erschütternd. Zehntausende von Toten, ganz oder halb zerstörte Städte und Dörfer in der Ukraine, Millionen von ukrainischen Flüchtlingen, weit mehr als eine Million von russischen Bürgern, die ihr Land aus Verzweiflung über das repressive Regime oder aus Angst vor einer militärischen Rekrutierung verlassen haben, unter ihnen sehr viele gut qualifizierte Fachkräfte.
Für all diesen unermesslichen Horror trägt der Kriegsherr und Kriegstreiber Putin die entscheidende Verantwortung. Die russische Propaganda hämmert dagegen auf allen Kanälen dem Publikum in demagogischer Verdrehung der Tatsachen ein, Russland müsse sich gegen die Unterwerfungsabsichten des Westens und seiner Nazi-Handlanger in Kiew zur Wehr setzen.
Aber ist Putin wirklich der alleinige Verantwortliche für diese Kriegstragödie? Hätte der Westen sie verhindern können? Es gibt auch hierzulande Stimmen, die die Meinung vertreten, ohne die Erweiterung der Nato nach dem Zerfall der Sowjetunion, die in erster Linie auf Wunsch der früheren Moskauer Satelliten-Staaten erfolgte, wäre es nicht zu dieser blutigen Konfrontation gekommen. Ich halte diese Argumentation nicht für überzeugend. Denn erstens hatte Moskau 1997 mit der Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte in Paris die Erweiterung dieser Gemeinschaft ausdrücklich akzeptiert. Ausserdem stand eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine vor dem Krieg überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Und schliesslich lässt sich das Argument schwer entkräften, dass eine solche Mitgliedschaft die Ukraine möglicherweise vor Putins Invasion geschützt hätte, wie sie bis heute auch Polen oder das Baltikum vor neoimperialen Gelüsten Moskaus schützt.
Warum kaum Widerstand in Russland?
Und wie steht es mit der Verantwortung der russischen Bevölkerung für die unfassbare Zahl von Toten (unter ihnen auch Zehntausende von russischen Soldaten) und Zerstörungen in der Ukraine? Warum gibt es kaum noch wahrnehmbare Proteste und Widerstände gegen diese schrankenlose Aggression im Nachbarland und deren verlogenen Begründungen? Reagieren die meisten Russen tatsächlich mehr oder weniger gleichgültig auf diesen mörderischen Eroberungskrieg, den ihre eigenen Soldaten gegen die Ukrainer, die Putin bei seinen einäugigen historischen Exkursen als Brudervolk bezeichnete, betreiben?
Darauf gibt es keine einfachen und pauschal gültigen Antworten. Zu Beginn des Krieges und schon in den Wochen zuvor während der Massierung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze gab es in verschiedenen russischen Städten durchaus Demonstrationen gegen eine militärische Gewaltanwendung. Sie wurden, wie schon die Proteste gegen die Verhaftung und drakonische Verurteilung des Regimekritikers Nawalny, rücksichtslos niedergeschlagen. Die Bilder der Verhaftung und Vertreibung der Protestierer durch martialisch aufgerüstete Sicherheitskräfte sollten nicht vergessen werden.
In der Duma wurden neue verschärfte Repressionsgesetze durchgewinkt, durch die eine «Diskreditierung der Armee» mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Wir wissen nicht, wie viele russische Bürger heute aufgrund dieser antidemokratischen Gesetze hinter Gittern sitzen. Dass weit mehr als eine Million Bürger Russland seit Kriegsausbruch fluchtartig verlassen haben, wurde schon erwähnt.
Es mag sein, dass eine Mehrheit in Russland Putins Krieg tatsächlich gutheisst, an Versammlungen beklatscht oder jedenfalls dazu schweigt und nicht protestiert. Aber wissen wir, weshalb sie sich so konform verhalten? Tun sie das aus wirklicher patriotischer Überzeugung, aus Unwissenheit angesichts einer Propaganda-Maschinerie, die dem Publikum pausenlos eine Täter-Opfer-Umkehr eintrichtert, aus Angst vor den Folgen kritischer Äusserungen oder aus Pragmatismus und Resignation? Das alles sind nicht eindeutig zu beantwortende Fragen. Und deshalb sollte man zum Vorwurf einer russischen Kollektivschuld Distanz halten. Dieser unscharfe Begriff ist auch bei der Aufarbeitung und den historischen Debatten um die Kriegsverbrechen des Hitler-Regimes höchst umstritten geblieben.
Nicht ernsthaft widerlegen aber lässt sich meiner Meinung nach die Überzeugung, dass ohne Putins skrupellose Machtverblendung, seine komplexbeladenen Ressentiments gegen die Anziehungskraft westlich-demokratischer Gesellschaften und eine sich von Russland abwendende Ukraine dieser mörderische Angriffskrieg nicht losgetreten worden wäre. Niemand weiss, wie diese Tragödie enden wird. Aber es ist und bleibt Putins Krieg. Deshalb kann man sich schwer vorstellen, wie ein haltbarer Frieden zustande kommen soll, solange Putin im Kreml an der Macht bleibt.