
Seit Ende der Waffenruhe Mitte März führt Israel seinen Krieg in Gaza gegen die Hamas mit unverminderter Intensität. Getroffen werden dabei aber auch Zivilisten. Von Zeit zu Zeit schreckt die Weltöffentlichkeit auf, ohne aber weiter zu reagieren. Derweil erfährt die Öffentlichkeit in Israel nur wenig von dem, was in ihrem Namen geschieht.
Mitte Woche tötete ein israelischer Luftangriff auf eine Nachbarschaft in Gaza City 23 Menschen, unter ihnen acht Frauen und acht Kinder, und verwundete mehr als 70 Personen. 20 Menschen werden noch vermisst. Der israelischen Armee (IDF) zufolge galt die Attacke einem Aktivisten der Hamas, der für die Planung von Angriffen verantwortlich war.
Nähere Angaben zur Identität der Zielperson machten die IDF keine. Ein Sprecher teilte lediglich mit, die Armee treffe «mehrere Massnahmen», um den Schaden für Zivilisten zu verkleinern. Laut einem Sprecher des Zivilschutzes in Gaza zerstörte der Luftangriff in Shajaiye acht Häuser. Videoaufnahmen der Nachrichtenagentur Reuters zeigten Menschen, die mit kleinen Schaufeln, Werkzeugen oder blossen Händen nach Überlebenden gruben.
«Ein errötender Cheerleader»
Ein toter Hamas-Kämpfer, fast 30 tote Palästinenserinnen und Palästinenser – soweit, so normal und kaum der Rede wert. So sehen es mit wenigen Ausnahmen zumindest Israels Medien. Eine dieser Ausnahmen ist die Tageszeitung «Haaretz», in der Anfang Woche folgender Kommentar erschienen ist: «In Gaza tobt seit eineinhalb Jahren ein schrecklicher Krieg. Während dieser Zeit haben es israelische Medien fast vollständig vermieden, über die Grausamkeiten zu berichten, die Israel begeht. Statt als Wachhunde zu agieren, haben sich die Nachrichtenstudios verhalten wie ein eifriger, errötender Cheerleader und in der Maschinerie der Verleugnung eine Schlüsselrolle gespielt.»
Nur diese Woche liess es sich nicht mehr vermeiden, auf Berichte und Bildmaterial aus dem Ausland zu reagieren, wonach die IDF am 23. März in der Nähe von Rafah 15 palästinensische Sanitäter und Zivilschützer getötet hatten und deren Leichen und Fahrzeuge im Sand vergraben hatten. Die Begründung eines israelischen Offiziers: Die Toten seien begraben worden, um sie vor wilderden Hunden zu schützen. Zunächst hatten die IDF behauptet, der Konvoi habe sich unidentifiziert und «auf verdächtige Weise» ihrer Position genähert.
Äusserung des «Bedauerns»
Doch das Handyvideo eines der getöteten Sanitäter zeigte klar, dass die Ambulanzen und ein Feuerwehrauto mit rotierenden roten Notlichtern für einen Rettungseinsatz unterwegs waren. Ausserdem kam ein palästinensischer Gerichtsmediziner nach einer Autopsie der erst nach fünf Tagen von Uno-Teams exhumierten Leichen zum Schluss, dass die Getöteten, deren Hände und Füsse teils gefesselt waren, aus nächster Nähe erschossen, d. h. exekutiert worden waren. Eine der Leichen wies 20 Schusswunden auf.
Wie üblich in solchen Fällen dementierten die IDF, die sich «die moralischste Armee der Welt» nennen, für das Massaker verantwortlich zu sein, und räumten erst auf Druck unwiderlegbarer Fakten ein, dass ihre erste Reaktion nicht gestimmt hatte. Die Armee äusserte «Bedauern» und versprach «eine gründliche Untersuchung». In einer ersten Mitteilung der IDF hatte es geheissen, die Soldaten hätten auf sechs Mitglieder der Hamas und des Islamischen Dschihad geschossen. Nähere Angaben dazu gab es keine.
Ein Fall von «Medizid»
«Es ist nicht möglich, diesen Zwischenfall schönzureden und zu behaupten, er sei im Nebel des Krieges passiert», schreibt im «Guardian» der palästinensische Israeli Ahmad Tibi: «Wenn Soldaten Leichen in einem Massengrab vergraben, dann geschieht das nicht aus Zufall, sondern mit Absicht.» Tibi nennt das Vorgehen der IDF in Gaza «Entmenschlichung» und «Medizid»: die gezielte Zerstörung eines Gesundheitssystems. Seit Beginn des Krieges in Gaza haben die IDF über tausend medizinische Fachkräfte, Rettungskräfte und Zivilschutzpersonal getötet.
Das Massaker in Rafah, schreibt Tibi, sei nicht in einem Vakuum passiert. Die Ermordung der Sanitäter und Rettungskräfte, so der 66-jährige Politiker, sei unter Umständen einer der schlimmsten Zwischenfälle seit Kriegsbeginn, aber nicht der einzige: «Jeden Tag, jede Nacht und fast jede Stunde bombardiert Israel Schutzräume, Schulen, Spitäler, Moscheen, Kirchen und Häuser.»
«Schaden für Israels Image»
Was in Gaza geschieht, nennt Ahmad Tibi «ein andauerndes Massaker, das am besten dokumentierte und am weitesten publizierte der Geschichte. Und die Geschichte wird sich nicht nur an die Täter und jene, die geschwiegen haben, erinnern, sondern auch an die chronischen Lügner und die falschen Äusserungen der (israelischen) Armeesprecher.»
Zwar haben israelische Medien am Rande berichtet, was Ende März in der Nähe von Rafah geschehen ist. Doch ihr Fokus galt nicht dem Verdacht, Soldaten der IDF hätten unter Umständen ein Kriegsverbrechen begangen, sondern dem Bedauern, dass die widersprüchlichen Versionen des Geschehens seitens der Armee einen «Schaden für Israels Image» darstellen könnten. «Das ist das Letzte, was der Staat Israel und sicher auch die IDF jetzt gerade brauchen», sagte der internationale Korrespondent des Fernsehsenders «Channel 12». Kein Wort des Bedauerns für die Opfer des Luftangriffs.
«Jeder ist ein Feind»
Israels Medien berichteten weiter, die beim Zwischenfall in Gaza involvierten Soldaten seien Angehörige der Golani Brigade, einer Elite-Einheit der Armee, gewesen. Einer ihrer Kommandanten hatte sich wenige Tage vor der Verlegung in den Süden des Gaza-Streifens mit einer unmissverständlichen Botschaft an die Truppe gewandt. «Jeder, dem wir begegnen, ist ein Feind», sagte dem Fernsehsender «Channel 14» zufolge ein nicht näher ausgewiesener Oberstleutnant: «Wenn eine Person identifiziert ist, eröffnen wir das Feuer, eliminieren und rücken vor. Lasst euch davon nicht verwirren.»
Indes hat sich Uno-Generalsekretär António Guterres diese Woche so deutlich zum Krieg in Gaza geäussert wie selten zuvor. Er beschrieb Israels Blockade des Küstenstreifens als erneutes «Öffnen der Schleusentore des Grauens» und verurteilte sie als Verletzung des Völkerrechts: «Mehr als ein Monat ist vergangen, ohne dass ein Tropfen Hilfe Gaza erreicht hätte. Keine Nahrung. Kein Brennstoff. Keine Medikamente. Keine kommerziellen Waren», sagte der Portugiese im Uno-Hauptquartier in New York: «Gaza ist eine Todeszone – und Zivilisten befinden sich in einer endlosen Todesschleife.»
«Verleumdungen gegen Israel»
Ein Sprecher des israelischen Aussenministeriums wies Guterres’ Äusserungen zurück und beschuldigte den Uno-Generalsekretär, «Verleumdungen gegen Israel» zu verbreiten. Es gebe, so Oren Marmorstein, keinen Mangel an humanitärer Hilfe im Gaza-Streifen: Mehr als 25’000 Lastwagen mit Hilfsgütern hätten in den 42 Tagen der Waffenruhe ins Gebiet fahren können. Auf X schrieb der Offizielle, Hamas habe diese Hilfe missbraucht, um seine Kriegsmaschine wiederaufzurüsten: «Trotzdem, kein Wort in Ihren Aussagen über die Notwenigkeit, dass Hamas Gaza verlassen muss.» Kein Wort aber auch über das, was der Krieg seit dem 2. März in Gaza erneut angerichtet hat.
Der Website des Fernsehsenders «Al Jazeera» zufolge sind seit dem abrupten Ende der Waffenruhe am 18. März gemäss jüngsten Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza 1’523 Menschen getötet und 3’834 Personen verwundet worden.