Im Gegensatz zu den Kriegsparteien und ihren Verbündeten ist Indien bisher das einzige grosse Land, das vom Krieg in der Ukraine profitieren konnte. Es deckte sich mit billigem russischem Erdöl ein und stärkte trotz Sanktionsbruch sein diplomatisches Profil.
Auch in Indien war die Bestürzung gross, als vor genau einem Jahr russische Panzer über die ukrainische Grenze rollten. Die Verletzung der staatlichen Souveränität des Nachbarlands traf auch hier einen blanken Nerv. Die Unantastbarkeit der nationalen Grenzen als Voraussetzung des globalen Zusammenlebens hatte einen heftigen Schlag bekommen und bewirkte weltweit politische Nachbeben.
Sie waren umso heftiger, als der Überfall von einer Weltmacht ausgeführt wurde, die mit dem Vetorecht der Uno-Weltorganisation ausgestattet ist. Zudem kam sie vom Nachfolgestaat der Sowjetunion, die die Nachkriegsordnung wiederholt mit militärischer Aggression bedroht hatte – in Ungarn, der Tschechoslowakei, Afghanistan, Georgien usw. – und zuletzt in der Ukraine selber.
«This is not a time for war»
Auch ein Bündnispartner wie Indien sah in dieser Provokation die alte sowjetische Doktrin der «begrenzten Souveränität» wiederauferstehen – eine Herausforderung, die potentiell die Existenz jedes unabhängigen Landes in Frage stellt. Die Regierung in Delhi verurteilte den Angriff scharf, sowohl in eigenen Erklärungen als in mehreren Abstimmungen der Uno. «This is not a time for war», sagte Premierminister Modi dem russischen Präsidenten ins Gesicht, als sie sich beim zentralasiatischen Gipfeltreffen in Samarkand im September 2022 gegenübersassen.
Zudem sah Delhi mit dem an breiter Front vorgetragenen Einmarsch auch eigene Interessen gefährdet. Über zwanzigtausend junge Inder studierten an ukrainischen Universitäten und mussten raschmöglichst repatriiert werden. Trotz der panikartigen Konfusion der ersten Tage und Wochen tat die ukrainische Regierung ihr Möglichstes, Indien bei der Rückführung beizustehen. Dieses verband mit dem Dank dafür ausdrücklich seinen Rückhalt für Ukraines Souveränität.
Putins Zuckerbrot
Es zeigte sich jedoch bereits in diesem frühen Stadium, dass Moskau versuchte, die Gefährdung indischer Bürger im Kriegsgebiet zu mindern, indem es Studenten aus grenznahen Universitätsstädten einlud, über Russland in die Heimat zurückzukehren. So brachten sich mehrere tausend Studenten der Universität Charkiw in Sicherheit, indem sie die Kampflinien wechselten und sich über die Grenze absetzen konnten.
Nach der Verhängung der wirtschaftlichen Blockade offerierte Präsident Putin dem energiehungrigen – und bevölkerungsgesättigten – Grossreich im globalen Süden ein Zuckerbrot, das dieses nicht ausschlagen wollte – und konnte. Indien deckt 85 Prozent seines Erdölbedarfs aus dem Ausland. Seine eigenen Erdöl-Ressourcen gehen immer mehr zur Neige, und die Förderung von Erdgas in der Bucht von Bengalen rechnet sich angesichts der heutigen Weltmarkt-Preise bei weitem nicht.
Indiens grösster Energie-Anbieter
Seit Beginn der Sanktionen haben sich Indiens Erdöleinfuhren aus Russland, die im Dezember 2021 bei 0,2 Prozent lagen, ein Jahr später auf 20 Prozent erhöht. Russland ist damit noch vor Saudi-Arabien Indiens grösster Energie-Anbieter geworden. Dies erlaubt es dem Land, nicht nur seinen gewaltigen Energiebedarf zu decken. Es kann dabei auch davon absehen, die noch umweltschädlichere Expansion der Kohle-Produktion und -einfuhr konstant zu halten. Damit behält es seine Umweltbilanz einigermassen im Griff und verschafft sich im internationalen Umwelt-Dialog diplomatischen Spielraum.
Es sind diese Faktoren, die Aussenminister S. Jaishankar immer wieder ins Spiel bringt, wenn er den Vorwurf hört, Indien verletze die Sanktionen. «Ihr macht Euch Sorgen um Eure Bürger, die ein Pro-Kopf-Einkommen von 60’000 Euro haben», sagte er am 2. Januar dem ORF. «Ich muss mich um eine Bevölkerung mit einem PK-Einkommen von 1’860 Euro kümmern. Auch ich brauche Energie, und kann dafür keine überhöhten Preise bezahlen.»
98’000 Fass Erdöl, das aus Russland stammt
Jaishankar lässt es nicht damit bewenden und schiesst den Giftpfeil des Sanktionsbrechers an die Adresse des Westens zurück; er wirft ihm Heuchelei vor. Sowohl die EU wie die USA hätten die Ausführungsbestimmungen der Sanktionen so festgelegt, dass es ihnen immer noch gelinge, einen beträchtlichen Teil ihres Energiebedarfs mit russischem Erdgas und Erdöl zu decken.
Ein Beispiel für die scheinheilige Haltung des Westens ist für indische Kommentatoren etwa die seit Dezember geltende Bestimmung, dass Erdöltransporte und deren Versicherungsdeckung nur erlaubt sind, wenn das transportierte Erdöl weniger als 60 $ pro Fass kostet. Die Limite gilt aber nicht für russisches Öl, wenn es im Ausland raffiniert und über Dritthäfen verschifft wird. Dies ermöglicht es westlichen Ländern, in Indien Benzin und Diesel aus russischem Erdöl zu kaufen. Laut einem Bericht von «Bloomberg News» bezogen die USA von indischen Raffinerien allein im Dezember 2022 täglich 98’000 Fass Erdöl, das aus Russland stammte.
Diplomatischer Gewinn
Zum nützlichen wirtschaftlichen Plus für Indien gesellt sich der diplomatische Gewinn für Delhi als Folge der geopolitischen Verschiebungen. Die Annäherung zwischen Russland und China im Gefolge von Putins Aggressionskrieg hat die Bedeutung Indiens für die USA und dessen asiatischen Verbündeten noch erhöht und lässt Washington beide Augen zudrücken.
«We are not looking to sanction India», sagte Karen Donfried, die amerikanische Unterstaatssekretärin für Europa und Eurasien der Tageszeitung «The Hindu» vor einer Woche. «Our partnership with India is one of our most consequential relationships.» Sie liess dabei durchblicken, dass sich zu dieser politischen Schlüsselrolle Indiens wachsende Bedeutung als Wirtschaftsmacht hinzugesellt – auch dies mit Blick auf die erhöhte Verletzlichkeit des chinesischen Markts.
G-20-Aussenminister in Delhi
Diese Konstellation kommt für Indien in einem günstigen Augenblick. Es nimmt für ein Jahr den Vorsitz der G-20-Staaten-Vereinigung ein. Es ist eine prominente Plattform, um sich nicht nur als Wirtschaftsmacht in Szene zu setzen. Nächste Woche findet in Delhi das Treffen der G-20-Aussenminister statt, bei dem US-Staatssekretär Blinken, sein russische Amtskollege Lawrow und Chinas Aussenminister Wang Yi mit von der Partie sind.
Zweifellos werden sich Narendra Modi und sein Aussenminister bei diesen wechselseitigen Kontakten nicht nur als Gastgeber einbringen, die die Verhandlungstische zusammenrücken und den Tee servieren. Zwar überschätzt Delhi seine Nützlichkeit als Friedensvermittler nicht. Aber es weiss, dass Putin angesichts seiner internationalen Isolation vermeiden will, die Front der Gegner weiter anschwellen zu lassen, und schon gar nicht mit einem wichtigen Land wie Indien.
Schwelender Grenzkonflikt mit China
Einen Hinweis darauf lieferte der Diktator in seinem programmatischen «Jahres-Rapport» vom vergangenen Dienstag. Er betonte seine Absicht, das Projekt eines 7500 Kilometer langen Nord-Süd-Korridors (NSTC) zwischen Südasien und Europa via Iran und Russland mit umfassenden Infrastruktur-Ausgaben zu fördern. Es ist eine Idee, die von Indien lanciert wurde, quasi als Antwort auf Beijings grossangelegte Belt-and-Road-Initiative.
Der unselige Krieg hat nicht nur Indiens globales Profil gestärkt. Die Ironie will es, dass es ihm auch eine Chance eröffnet, quasi im eigenen Haus den schwelenden Grenzkonflikt mit China zu dämpfen. China ist in diesem Zeitpunkt auf Helferdienste angewiesen, damit seine Initiative zu einer Konfliktlösung im Ukraine-Krieg abheben kann. Delhi ist daran gelegen, im Kräftedreieck Indien-Russland-China auf «arm’s length» mit Moskau zu bleiben, um seinen diplomatischen Spielraum nicht einzubüssen.
Narendra Modi hat gepunktet
Entgegen der feindlichen Volksstimmung in beiden asiatischen Ländern haben sich die Kontakte zwischen den beiden Aussenministerien in den letzten Tagen und Wochen denn auch intensiviert – nicht nur im Hinblick auf die Ukraine, sondern auch auf die Spannungen entlang der waffenstarrenden Grenzregion.
Die Ukraine ist für die grosse Mehrheit der indischen Bevölkerung eine Region, «hinten, weit, in der Türkei, (wo) Völker aufeinander schlagen» (mit dem kleinen Unterschied zu Goethes «Faust», dass das «hinten» nicht im Osten, sondern im Westen liegt). Am Ende des ersten Kriegsjahres hat der ehrgeizige Narendra Modi international gepunktet, ohne im Inland grosse Wellen auszulösen. Doch sein politischer Instinkt sagt ihm, dass er seine Popularität auch zuhause noch stärker zementieren würde, wenn er – ein Jahr vor den Wahlen – mithelfen könnte, zumindest einen Waffenstillstand zuwege zu bringen.