Kurz vor Mitternacht meldete der ukrainische Geheimdienst, dass es um 04.00 Uhr losgehe. Selenskyj versuchte Putin anzurufen. Vergebens. Um 03.50 Uhr sprach der Kreml-Herrscher zum Volk. Kurz darauf fielen die ersten Bomben. Damit begann der längste Tag im Leben der Ukrainer und Ukrainerinnen.
VORGESCHICHTE
Am 7. Februar 2022 verhandelt der französische Präsident Emmanuel Macron im Kreml fast sechs Stunden lang mit Wladimir Putin. Macron gibt sich nach dem Treffen zuversichtlich und glaubt, dass das Schlimmste vermieden werden kann. «Ich bin sicher, dass wir zu einem Ergebnis gelangen werden», sagte er. Der französische Präsident hatte ein Treffen zwischen Putin und Biden in Genf vorgeschlagen. Putin schien einer solchen Begegnung, laut Macron, grundsätzlich zuzustimmen.
Die russische Armee hatte seit Wochen an der Grenze zur Ukraine im Norden, Osten und Süden nach amerikanischen Angaben 150’000 Mann zusammengezogen. Ziel sei die Durchführung eines «strategischen Militärmanövers», hiess es offiziell aus Moskau. Zudem stehen in den sezessionistischen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk 40’000 pro-russische Milizionäre bereit.
Der Westen lässt sich von Putin einlullen und spielt die Gefahr einer russischen Invasion herunter. Viele westliche Politiker klammern sich an Putins Versprechen, keinen Überfall zu planen. Einzig der amerikanische Präsident Joe Biden rechnet mit dem russischen Überfall. Auch die ukrainische Armee-Führung befürchtet das Schlimmste.
Mitte Februar: In den abtrünnigen ukrainischen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk brechen Kämpfe zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee aus – die schlimmsten seit 2015.
16. Februar: Das russische Verteidigungsministerium teilt mit, dass einige an der Grenze zur Ukraine stationierte russische Verbände abgezogen werden. Der Westen atmet auf.
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer nehmen an Verteidigungskursen teil und lernen in Pärken und Wäldern, mit Waffen umzugehen. In Hinterhöfen werden Flaschen mit Benzin gefüllt und als Molotow-Cocktails vorbereitet.
21. Februar: Russland anerkennt die beiden ukrainischen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk als «souveräne und unabhängige Staaten». Damit setzt Putin sich über völkerrechtlich anerkannte Landesgrenzen hinweg. Auch Russland hatte 1992 die «Unverletzlichkeit» der ukrainisch-russischen Grenze, die der Grenze der früheren «Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik» entspricht, bekräftigt. Die Anerkennung der beiden «Volksrepubliken» erfolgte, nachdem die Separatistenführer der beiden abtrünnigen Gebiete, Putin um «militärischen Beistand» gebeten hatten. Ziel sei der Schutz der dortigen Bevölkerung, der ein «Genozid» drohe.
22. Februar: Satellitenaufnahmen zeigen den Aufmarsch russischer Truppen bei Mosyr in Belarus.
23. Februar: Am Tag vor dem Überfall beobachtet der ukrainische Geheimdienst, wie die Russen Raketenwerfer an der Grenze in Stellung bringen. Die ukrainische Militärführung rechnet nun fest mit einem Angriff.
Witali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, der schon lange mit einer Invasion gerechnet hatte, inspiziert und öffnet seit Tagen Luftschutzkeller.
23. Februar, abends: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versammelt im Kiewer Regierungsplast hochrangige ukrainische Wirtschaftsvertreter um sich. Funksprüche, die die amerikanischen und britischen Geheimdienste abhörten, lassen Schlimmes erahnen.
Auf Twitter jagen sich Spekulationen, die von einem baldigen Überfall sprechen.
23. Februar, abends: Der ukrainische Geheimdienst erfährt, dass der Überfall am 24. Februar um 04.00 Uhr beginnen soll.
23. Februar, abends (MEZ): Der Uno-Sicherheitsrat tagt. Der russische Botschafter bestreitet, dass Russland die Ukraine angreifen werde.
23. Februar, kurz vor Mitternacht: Selenskyj versucht, Putin anzurufen. Der Versuch scheitert.
23./24. Februar, Mitternacht: Selenskyj hält eine Fernsehansprache und wendet sich auf Russisch an das russische Volk. Er widerspricht der russischen Propaganda, die behauptet, dass er ein Nazi sei und dass er einer faschistischen Regierung vorstehe. «Wie kann ich als Jude ein Nazi sein? Mein Grossvater hat während des ganzen Zweiten Weltkrieges in der sowjetischen Armee als Infanterist gedient.»
DER 24. FEBRUAR 2022
Mitternacht: Die Ukraine sperrt ihren Flugraum und verfügt den Ausnahmezustand.
03.40 Uhr: Erste russische Verbände dringen in die Ukraine ein, von Norden (Belarus), von Süden (Krim) und von Osten (zum Teil via die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk).
«Wer sich einmischt, muss mit Konsequenzen rechnen, wie er sie noch nie erlebt hat.» (Wladimir Putin)
Präsident Selenskyj weigert sich, Kiew zu verlassen und vom Westen des Landes aus zu regieren.
03.55 Uhr: Putin hält eine Fernsehansprache und spricht von einer «Militärischen Spezialoperation». Ziel sei es, die Bevölkerung des Donbass vor einem «Genozid» zu schützen. Mehr noch: Er will die Ukraine «entnazifizieren und entmilitarisieren». Wer sich einmische, müsse «mit Konsequenzen rechnen, die sie in ihrer Geschichte noch nie erlebt haben».
Erste Explosionen sind in Charkiw, Kramatorsk, Mariupol, Odessa, Dnipro, Saporischschja und in Kiewer Vororten zu hören.
Früher Morgen: Auf der Schlangeninsel vor Odessa sind 82 ukrainische Soldaten stationiert. Sie sehen, nachdem sich die Nebel verzogen hatten, zwei russische Kriegsschiffe: das Patrouillenboot «Wassilij Bykow» und die «Moskwa», das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte.
Früher Morgen: Das ukrainische Parlament, die Rada, wird einberufen.
Erstes Ziel der Russen ist der Flughafen Antonow bei Hostomel nördlich von Kiew. Von hier aus soll die Hauptstadt erobert werden. Mindestens 50 Russen kommen bei dem Angriff ums Leben.
08.00 Uhr: Selenskyj wendet sich in einer Video-Botschaft an sein Volk. Noch trägt er zivil.
Boris Johnson ruft an. Selenskyj sagt: «Wir werden kämpfen, Boris! Wir werden uns nicht ergeben!»
08.00 Uhr: Das Parlament trifft sich im Rada-Gebäude in Kiew. Innert weniger Minuten beschliessen die Abgeordneten den Kriegszustand.
In Kiewer Vororten schlagen Raketen ein.
Vormittag: Russische Verbände, die aus der seit 2014 von Russland besetzten Krim kommen, bewegen sich auf die südukrainische Stadt Cherson zu.
Selenskyj spricht erneut zum Volk: «Putin will meinen Staat vernichten. Er will unseren Staat vernichten. Alles, was wir aufgebaut haben.»
Mittag: Bereits befinden sich Hunderttausende Menschen auf der Flucht. Auf den Ausfallstrassen kommt es zu riesigen Staus.
«Russisches Kriegsschiff, fuck you» (Roman Hrybow)
Früher Nachmittag: Russische Panzer bewegen sich auf Charkiw zu, der zweitgrössten ukrainischen Stadt und beschiessen die Stadt aus der Ferne mit Raketen.
Russische Su-27- und Su-34-Jets beginnen, die Schlangeninsel zu bombardieren. Über Funk rufen sie die ukrainischen Soldaten auf, zu kapitulieren. Der ukrainische Soldat Roman Hrybow antwortet per Funk: «Russisches Kriegsschiff, fuck you.» Dieser Slogan wird zum Kampfruf vieler ukrainischer Einheiten auf dem Festland. Hrybow wird später mit einem Orden geehrt. Auch T-Shirts mit Hrybows Konterfei sind im Umlauf. Zudem wurde eine offizielle Briefmarke mit Hrybow und seinem Kampfruf gedruckt.
Früher Nachmittag: Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow ruft die Bevölkerung auf, sich zu bewaffnen. Waffen würden gratis verteilt.
Nachmittag: Die vorrückenden russischen Verbände geraten ins Feuer des ukrainischen Widerstands. Bereits am ersten Tag sterben Tausende russische Soldaten. Viele Kampffahrzeuge bleiben stecken. Russische Helikopter müssen wegen Materialschäden notlanden.
Überall in Kiew werden Strassensperren errichtet.
19.00 Uhr: Russische Fallschirmjäger, die am Vormittag über Kiew abgesprungen sind, nähern sich dem Regierungsviertel. Das Einsatzkommando hat die Aufgabe, Selenskyj zu töten oder gefangen zu nehmen. Selenskyj verbarrikadiert sich. Die russischen Angreifer werden getötet oder festgenommen.
«Ich weiss nicht, wie lange ich noch lebe.» (Wolodymyr Selenskyj)
Selenskyj wechselt seine Kleidung. Ab jetzt tritt er nur noch in khakifarbener Kleidung auf. Täglich hält er nun eine Video-Ansprache. Beobachter sind sich einig: Ohne Selenskyj und ohne die amerikanische Unterstützung wäre die Ukraine heute russisch.
In einem Gespräch mit dem österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer sagte Selenskyj, er wisse nicht, wie lang es sein Land noch gebe, und er wisse nicht, wie lange er noch lebe.
Abend: Präsident Selenskyj hält die erste seiner täglichen Ansprachen an die Bevölkerung. Er forderte die Ukrainerinnen und Ukrainer auf, sich zu bewaffnen. Alle Bürger, die bereit seien zu kämpfen, sollten sich melden. «Die Ukraine verteidigt sich und wird ihre Freiheit nicht aufgeben, egal was Moskau denkt.»
Präsident Joe Biden sagte: «Die Welt wird Russland zur Rechenschaft ziehen.» Biden telefonierte am frühen Donnerstagmorgen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und sicherte ihm seine Unterstützung zu. «Russland allein ist für den Tod und die Zerstörung, die dieser Krieg verursachen wird, verantwortlich», sagte Biden.
20.30 Uhr: Die EU tritt in Brüssel zu einem Sondergipfel zusammen.
21.30 Uhr: Macron ruft vom Brüsseler Sondergipfel aus Putin an. Der französische Präsident hatte den Kreml-Herrscher am 7. Februar in Moskau getroffen und gehofft, Putin käme zur Vernunft und würde an einem Genfer Treffen mit Joe Biden die Lage entspannen.
22.00 Uhr: Hunderttausende Ukrainer und Ukrainerinnen verbringen die Nacht in Kellern, Unterständen und U-Bahn-Stationen.
Am ersten Kriegstag sterben mehrere Tausend russische Angreifer. 137 Ukrainer kommen ums Leben. Putin hatte gehofft, die Ukraine in wenigen Tagen zu erobern. Er glaubte, seine Soldaten würden in Kiew mit Rosen empfangen. Mindestens 50’000 russische Soldaten nahmen an dem Überfall teil. Das war vor genau einem Jahr. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer fragten sich am Abend des 24. Februar: Ist das das Ende der Ukraine? Wird uns jemand helfen, unsere Freiheit zu verteidigen?
Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
«Man kann einen Krieg beginnen, aber niemals kann man ihn beenden, wenn man will.» (Niccolò Machiavelli)