Europa, eingeschlossen Grossbritannien, hat sich nun verpflichtet, der Ukraine «bis zum Sieg» beizustehen, also wohl auch bei der Befreiung der Krim. Das geht weit und zeigt, dass die Bedrohung der Demokratie im gesamten Europa angesichts der zügellosen Aggression durch Putin zum Nennwert genommen wird. Ohne Not steht allein die Schweiz abseits und begibt sich so auf die falsche Seite der Geschichte.
Die persönlichen Auftritte von Präsident Selenskyj im Parlament in Westminster, zusammen mit Macron und Scholz in Paris sowie in Brüssel vor dem europäischen Rat (EU-Regierungen) und dem europäischen Parlament (Europäische Abgeordnete) letzte Woche stellen eine weitere Zäsur dar im Rahmen der Zeitenwende Ukrainekrieg. Auf die Lieferung von Panzern (bis vor kurzem noch jenseits einer «roten Linie» in westlichen Hauptstädten wegen dem Risiko russischer Reaktionen) wird voraussichtlich bald die Lieferung geeigneter westlicher Kampfflugzeuge folgen.
Wer, wie der Schreibende, die nächtliche Pressekonferenz mit den drei Staatsmännern Selenskyj, Macron und Scholz am vergangenen Mittwoch im Elysée Palast verfolgte, hat auch den Fall der bislang politischen «roten Linie» Krim miterlebt. Vor den zustimmend nickenden zwei Kollegen verpflichtete sich Macron, die Ukraine «bis zum Sieg» zu unterstützen. Was, wie alle ukrainischen Entscheidungsträger seit Wochen unterstreichen, grundsätzlich auch die Befreiung aller von Russland völkerrechtswidrig besetzten und annektierten Teile der Ukraine inklusive die Halbinsel Krim bedeutet. Nach der Wiedereingliederung dieser Teile der Ukraine wird eine glaubhafte Verteidigung Kiews gegen mögliche zukünftige Übergriffe des unter Putin gewissenlos sich gebärdenden russischen Bären notwendig sein.
Alle ausser der Schweiz
Alle europäischen Länder, abgesehen vom russophilen Abweichler Serbien, tragen in präzedenzloser Weise zum Überlebenskampf der Ukraine bei, mit Waffen, mit viel Geld und vor allem im Glauben, dass auch ihre staatliche Identität, ja Existenz (Baltikum, Moldawien, Osteuropa) durch Putin und sein globales Lügengewebe in Frage gestellt wird.
Alle, ausser der Schweiz, welche sich «mit Demut und humanitärer Hilfe» (Cassis) zurückhält und auf tatsächlich gar nicht bestehende Hindernisse für eine aktivere Rolle verweist.
Cassis und Berset liegen falsch
Beide Bundesräte haben nach ihren Treffen auf hoher Ebene in «Davos» behauptet, im Ausland werde die schweizerische Neutralität respektiert. Das ist falsch. Der gegenwärtige und ein ehemaliger Nato-Generalsekretär haben die Schweiz unverblümt kritisiert wegen ihrem Versteckspiel hinter der Neutralität. Die vom schweizerischen Njet für Wiederausfuhr ihres ursprünglich in der Schweiz gefertigten Kriegsmaterials an die Ukraine betroffenen Minister aus Deutschland und Spanien haben dies nur notdürftig diplomatisch verbrämt ebenfalls getan.
Ebenso wenig greift das bundesrätliche Argument, aus gesetzlichen Gründen sei solche Wiederausfuhr, geschweige denn direkter Export an die Ukraine nicht möglich. Alle vor dem 01.03.2022, dem Inkrafttreten einer Verschärfung des entsprechenden Gesetzes gelieferten Waffen lassen sich ohne weiteres reexportieren, gestützt auf eine Ausnahmeklausel im alten Gesetz. Auch seither wäre eine Bewilligung möglich, gestützt auf Notrecht in einer ausserordentlichen Lage. Wenn eine solche aussenpolitische Notlage nicht mit dem russischen Vernichtungskampf gegen die Ukraine – von dem auch die bald 100’000 in die Schweiz geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer direkt betroffen sind – gegeben ist, dann wann?
Blocher erzählt Märchen
Zur Rechtfertigung seiner geplanten «Sanktionsverhinderungsinitiative» behauptet Blocher, die Schweiz sei seit jeher neutral gewesen. Das ist grundfalsch. Im Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz während Jahren viel mehr Kriegsmaterial an die Nazis geliefert als an die Alliierten. Was auf der Basis einer damals wohl notwendigen Aussenpolitik und gestützt auf den entsprechenden Zweckartikel in der BV (wo damals und heute die Neutralität nicht erwähnt wird) nachvollziehbar ist. Später und vor allem im Kalten Krieg hat die Schweiz de facto die Ausfuhr von Technologie in den Sowjetblock unterbunden, mit ihrer stillschweigenden Akzeptanz der sogenannten CoCom-Regeln. Auch dies entsprach einer vernünftigen Aussenpolitik.
Jetzt soll ein solcher Vorrang vernünftiger Aussenpolitik seit der Verabschiedung der Uno-Charta – welcher auch die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet ist – gegenüber überholten Prinzipien des 19. Jahrhunderts nicht mehr gelten? Dies ist umso gravierender, als der wichtigste Teil jeder Neutralitätspolitik heute wegfällt: Die internationale Akzeptanz, dass diese nicht nur für den neutralen Staat, sondern auch für die Völkergemeinschaft wertvoll ist. Wie gezeigt, trifft heute für die schweizerische Neutralität diese Akzeptanz nicht mehr zu.
Einen Gipfel der Ironie stellt wohl die Tatsache dar, dass das Sanktionsverbot, damit auch ein Verbot der Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, die ja gerade von konservativen und nationalistischen Kreisen in der Schweiz geforderte, einheimische Rüstungsindustrie schwer trifft. Wer wird noch Kriegsmaterial oder Dual-Use-Technologie aus der Schweiz importieren, also Produkte, die im Ernstfall mit einem neutralitätspolitischen Bannstrahl belegt werden können?
Was kann die Schweiz tun?
Über ihre anständige, aber keineswegs überbordende humanitäre Hilfe und die grosszügige Aufnahme von Kriegsflüchtlingen hinaus könnte die Schweiz ein Vielfaches mehr tun für die in ihrer Existenz bedrohte Ukraine. Dies zudem mit internationalem Beifall und ohne budgetrelevante Ausgaben. Die zwei Hauptposten sind Waffen und Geld.
Neben der raschen Freigabe des seit langem hängigen Gesuchs um Reexport von ausländischem, ursprünglich in der Schweiz gefertigtem Kriegsmaterial, könnten wir mindestens zwei an der ukrainischen Ostfront dringend benötigte Panzerbataillone mit schweizerischen Leopard II (hierzulande Panzer 87 genannt) ausrüsten. Diese stehen seit Jahren, eingemottet und wohl auch entsprechend eingefettet, damit betriebsbereit in schweizerischen Kasernen, weil sie offiziell ausgemustert und ihr Wert abgeschrieben worden ist. Wenn das in Form eines «Ringverkaufs» (Abgabe an eine osteuropäische Armee, welche ihre Leo an die Ukraine weitergibt) geschieht, ist dies gar ohne grosse Neutralitätsdiskussion möglich.
Eine wirklich rigorose Anwendung der bestehenden Sanktionen gegen Russland und Russen würde dem Putin-Regime schaden und damit der Ukraine ebenfalls zugute kommen. Zu denken ist etwa an den notorischen Putin-Freund Vekselberg, der direkt und allenfalls via Strohfirmen weiterhin ansehnliche Teile schweizerischer Traditionsunternehmen sein Eigen nennt. Warum Sulzer, Züblin und Oerlikon nicht alles daransetzen, einschliesslich temporärer Verluste, Vekselberg loszuwerden, ist schwer verständlich. Wenn dieser einmal von internationalen und nationalen (USA-)Gerichten wegen Mithilfe an Kriegsverbrechen angeklagt wird, dürfte der materielle und der Rufschaden für diese drei Unternehmen erheblich sein.
Schliesslich zur direkten Finanzhilfe, welche sich unser vergleichsweise reiches Land ohne weiteres leisten kann. Im Rahmen des Internationalen Währungsfonds verfügt die Schweiz über einige Milliarden sogenannter Sonderziehungsrechte, welche wir nie brauchen werden, die Ukraine aber in einem Tauschgeschäft in harte Devisen umwandeln kann. Dies ist bislang, obwohl intern bekannt und diskutiert, am früheren konservativen Finanzminister gescheitert. Ob wohl die neue freisinnige und damit offener denkende EFD-Vorsteherin hier eine mutige Entscheidung treffen wird?