Trotz steigendem Widerstand aus dem rechten Lager ist Amerika nach wie vor entschlossen, die Ukraine militärisch zu unterstützen – allerdings nur bis an einen bestimmten Punkt. Wo genau jedoch Washingtons Schmerzgrenze liegt, lässt sich kaum voraussagen.
Falls es noch Zweifel gab, wie stark die Unterstützung der Vereinigten Staaten für die Ukraine ist, dann hat der Blitzbesuch von Joe Biden Anfang Woche in Kiew diese wohl ausgeräumt. Nach einer mehrstündigen Bahnfahrt aus Polen in der ukrainischen Hauptstadt angekommen, zeigte sich Amerikas Präsident trotz eines Luftalarms mit Amtskollege Wolodimir Selenskyi unter grossen Sicherheitsmassnahmen vor dem St. Michaels-Kloster in Kiew. Und er verkündete später an einer Pressekonferenz eine weitere Tranche Militärhilfe in der Höhe von 500 Millionen Dollar. «Ein Jahr später steht Kiew noch», sagte Biden in Erinnerung an den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022: «Und die Ukraine steht noch. Und auch die Demokratie.»
Dem Weissen Haus zufolge diente die Visite des US-Präsidenten dazu, der Ukraine die Unterstützung ihrer Souveränität und territorialen Integrität zu versichern, die Russland 2014 ein erstes Mal verletzt hatte, als es die Krim annektierte und die Separatisten in der Region Donbas zu unterstützen begann. «Als Putin vor fast einem Jahr seine Invasion begann, dachte er, die Ukraine sei schwach und der Westen zerstritten», sagte Biden in Kiew: «Er glaubte, uns überdauern zu können. Aber er lag völlig falsch.»
Ähnlich deutlich hatte sich vergangene Woche Vizepräsidentin Kamala Harris an der Münchner Sicherheitskonferenz geäussert. Die USA, sagte Harris, würden alles innerhalb ihrer Möglichkeiten unternehmen, um die Position der Ukraine auf dem Schlachtfeld zu stärken, damit das Land, falls es zu irgendeinem Zeitpunkt zu Verhandlungen käme, in der bestmöglichen Lage wäre.
Strikte Geheimhaltung
Ähnlich überraschend hatte George W. Bush 2003 an Thanksgiving während eines Krieges die Truppen im Irak und Barack Obama 2010 die afghanische Hauptstadt Kabul besucht. Wie Bidens Visite in Kiew waren seinerzeit auch diese beiden Trips unter strikter Geheimhaltung und teils unter Einsatz aktiver Täuschungsmassnahmen erfolgt. Im jüngsten Fall kamen die Zuständigen in Washington DC zum Schluss, eine Bahnfahrt im Schutze der Dunkelheit sei sicherer als ein Flug nach Kiew.
Joe Bidens Trip war auch eine Antwort auf Wolodimir Selenskyjs Überraschungsbesuch in Washington DC, der ersten Auslandreise des ukrainischen Präsidenten seit Beginn der russischen Invasion. Damals traf Selenskyj Biden im Weissen Haus und hielt im Kongress eine emotionale Rede, in der er den Westen um mehr Unterstützung für sein Land bat. «Die Ukraine lebt und kickt», sagte der Ukrainer zu Amerikas Volksvertretern: «Und ich habe guten Grund, mit ihnen unseren ersten gemeinsamen Sieg zu teilen: Wir haben Russland im Kampf um die Zuneigung der Welt besiegt.»
Zwei Tage nach Selenskyjs Rede hiess der US-Kongress weitere Nothilfe für die Ukraine in der Höhe von annähernd 50 Milliarden Dollar gut. «Ihr Geld ist nicht Wohltätigkeit», hatte der ukrainische Präsident zuvor gesagt: «Es ist eine Investition in globale Sicherheit und Demokratie. Die wir mit grösstmöglicher Verantwortung behandeln.»
Opposition von rechts
Dagegen konnten Amerikas radikale Rechtsaussen dem Besuch des ukrainischen Präsidenten nichts abgewinnen. Fernsehmoderator Tucker Carlson machte sich auf Fox News darüber lustig, Wolodimir Selenskyj, im oliven Tenue, kleide sich «wie der Manager eines Strip-Clubs», während Donald Trump Jr. den Ukrainer als «internationalen Wohlfahrtsschmarotzer» bezeichnete. Derweil behauptet Donald Trump Sr., er könnte, anders als der «schwache» Joe Biden, den Ukraine-Konflikt innert 24 Stunden beenden. Nikki Haley, die innerparteiliche Rivalin Trumps im Rennen um die Präsidentschaft, kritisiert dagegen seit der russischen Invasion, der Präsident tue nicht genug, um der Ukraine zu helfen.
Noch sperrt sich Joe Biden dagegen, der Ukraine – wie von Wolodimir Selenskyj wiederholt gewünscht – im Rahmen der Militärhilfe auch Kampfjets wie die inzwischen angejahrten F-16 zu liefern, obwohl er den Widerstand im Fall von Kampfpanzern des Typs M1A2 Abrams inzwischen aufgegeben hat. Der US-Präsident begründet seine Zurückhaltung mit dem Argument, er wolle Russland keinen Vorwand liefern, den Ukraine-Konflikt eskalieren zu lassen. In der Vergangenheit hat sich Washington den Wünschen der Ukraine nach moderneren Waffen in mehreren Fällen erst widersetzt, um später dann doch nachzugeben – nicht zuletzt auch auf Dränge von Nato-Partnern, die ohne Zustimmung der USA keine Waffen liefern mögen.
Auch gilt Joe Biden nicht eben als Sympathisant jener Kreise, die der Stratege Edward Luttwalk «the victory lobby» nennt. Diese glaubt, der einzig mögliche Kriegsausgang sei eine vollständige Niederlage Russlands einschliesslich des Rückzugs aus allen besetzten ukrainischen Gebieten und möglicherweise ein Machtwechsel in Moskau. In der Zeitschrift «Foreign Affairs» hat ein früherer US-Botschafter in Moskau und aussenpolitischer Berater Barack Obamas den «incrementalism» des Weissen Hauses kritisiert und argumentiert, der Westen tue gerade genug, damit die Ukraine nicht verliere, aber zu wenig, damit sie gewinnen könne, wie ein britischer General das formuliert.
Kein «Blankoscheck»
Währenddessen lässt die Rhetorik des US-Präsidenten nicht vermuten, dass er im Fall der Ukraine eher zurückhaltend agiert. Er hat erklärt, Russlands Präsident Wladimir Putin könne nicht an der Macht bleiben und seine Regierung werde Kiew «so lange unterstützen, wie es braucht». Doch gleichzeitig wächst im Kongress der Widerstand des rechten Flügels der republikanischen Partei (GOP) gegen ein verstärktes Engagement Amerikas in der Ukraine. Kevin McCarthy, Mehrheitsführer der GOP im Abgeordnetenhaus, hat gewarnt, es gebe künftig keinen «Blankoscheck» für die Ukraine mehr.
Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass unter Wählerinnen und Wählern der Republikaner der Enthusiasmus für eine harte Ukraine-Politik schwindet. 40 Prozent befragter Parteimitglieder sowie der Partei zuneigende Unabhängige finden, die USA würden die Ukraine zu stark unterstützen. Bei Kriegsausbruch waren das lediglich neun Prozent gewesen. während der Support auf demokratischer und unabhängiger Seite noch immer mehrheitlich ungebrochen ist.
Joe Biden ist in der Lage, diesen Umstand allenfalls insofern zu seinen Gunsten zu nutzen, als er argumentieren kann, ihn würden innenpolitische Sachzwänge daran hindern, der Ukraine jene umfassende Unterstützung zukommen zu lassen, die sie sich wünscht. Entsprechend hat sich jüngst ein hochrangiger Regierungsvertreter in der «Washington Post» zitieren lassen: «Wir werden weiterhin versuchen, der ukrainischen Führung zu vermitteln, dass wir nicht jederzeit alles und jedes tun können.» Der Offizielle verwies auf möglichen Widerstand aus dem Kongress. Ähnlich zurückhaltend hatte sich im vergangenen November bereits Mark A. Milley, der Chef des amerikanischen Generalstabs geäussert, als er die Möglichkeit erwähnte, den Krieg in der Ukraine unter Umständen auf dem Verhandlungsweg zu beenden.
Pipeline-Sabotage
Inzwischen hat ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) in Washington DC auch entschieden eine Story dementiert, die Joe Bidens Zurückhaltung Lügen strafen würde. Auf der Online-Plattform «Substack» hatte der bekannte investigative Journalist Seymour Hersh gestützt auf eine einzige anonyme Quelle geschrieben, der US-Präsident habe den Befehl erteilt, am 26. September 2022 die Nord-Stream-Pipeline in der Ostsee zu sprengen. Taucher der US-Marine hätten die Unterwasser-Sprengsätze nahe der dänischen Insel Bornholm angebracht. Gesicherte Erkenntnisse, was den Urheber der Sabotageaktion betrifft, gibt es bis heute allerdings keine.
Anders als in früheren Fällen fand «Sy» Hershs dramatische Geschichte in den amerikanischen Medien kaum ein Echo, während Kreml-nahe Medien sie umgehend aufgriffen. Zu den Kritikern der Story gehört auch Bob Woodward, seinerzeit Aufdecker des Watergate Skandals. «Eine Menge Leute haben ihn (Hersh) gebeten, die Story nicht zu veröffentlichen, weil sie einfach nicht wahr ist», sagte Woodward bei einem Auftritt in New York. Auf die Frage, was den 85-jährigen Hersh dazu bewogen haben könnte, die Geschichte trotzdem zu veröffentlichen, antwortete die Reporterlegende: «Er möchte immer noch der Kreuzritter sein.»
Die USA, basierend auf Geheimdiensterkenntnissen, hatten bereits im Vorfeld des Ukraine-Krieges davor gewarnt, eine russische Invasion sei «eine ausgesprochene Möglichkeit». Nicht ganz zwei Wochen vor dem Einfall russischer Truppen am 24. Februar forderte Washington alle in der Ukraine verbliebenen Amerikanerinnen und Amerikaner dazu auf, das Land innert 48 Stunden zu verlassen. Zuvor hatte ein einwöchiger diplomatischer Austausch zwischen Vertretern Russlands und des Westens nichts gefruchtet angesichts Forderungen des Kremls, die Ukraine dürfe nie Nato-Mitglied werden und die westliche Militärallianz müsse sich aus Osteuropa zurückziehen.
Das historische Erbe
Derweil warnt in der «New York Times» Kolumnist Thomas L. Friedman seine Landsleute davor, den Krieg in der Ukraine zu unterschätzen und in selbstzufriedene Isolation zu verfallen: «Sie wissen tief in ihrem Inneren, dass die Welt, in der wir heute leben, aufgrund der amerikanischen Macht so ist, wie sie ist. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Macht immer klug eingesetzt haben, noch hätten wir ohne Verbündete Erfolg haben können. Aber in dem Masse, in dem wir unsere Macht klug und in Abstimmung mit unseren Verbündeten eingesetzt haben, haben wir seit 1945 eine liberale Weltordnung aufgebaut und geschützt, die in unserem Interesse lag – wirtschaftlich und geopolitisch.»
Der «Times»-Kolumnist zitiert ein neues Buch des US-Historikers Robert Kagan von der «Brookings Institution» über Amerika zwischen 1900 und 1941. Kagan argumentiert, dass unabhängig von den isolationistischen Zuckungen der Amerikaner die Mehrheit unter ihnen im letzten Jahrhundert und darüber hinaus den Einsatz der US-Macht zur Gestaltung einer liberalen Weltordnung befürwortet und die Welt so davor bewahrt habe, ein Hobbesscher Dschungel zu werden.
Auf Friedmans Frage, warum er den Krieg in der Ukraine nicht als etwas ansehe, in das die USA hineingestolpert seien, sondern als natürliche Fortsetzung traditioneller amerikanischer Aussenpolitik, erinnert Kagan an Präsident Franklin D. Roosevelts Rede zur Lage der Nation aus dem Jahre 1939: «Zu einem Zeitpunkt, als die Sicherheit Amerikas in keiner Weise bedroht war – Hitler war noch nicht in Polen einmarschiert und der Fall Frankreichs war kaum vorstellbar –, betonte Roosevelt, dass es dennoch Zeiten gebe, ‘in denen die Menschen sich darauf vorbereiten müssen, nicht nur ihre Häuser zu verteidigen, sondern auch die Grundsätze des Glaubens und der Menschlichkeit, auf denen ihre Kirchen, ihre Regierungen und ihre Zivilisation selbst beruhen.’»
In beiden Weltkriegen und während des Kalten Krieges, so der Historiker hätten die Amerikaner nicht in Selbstverteidigung gehandelt, sondern um die liberale Welt gegen die Herausforderungen durch militaristische, autoritäre Regierungen zu verteidigen – «so, wie sie es heute in der Ukraine tun».