Natürlich werde er mit Russland verhandeln, sagte Wolodymyr Selenskyj. «Aber erst dann, wenn Putin weg ist.» Es heisst, für Putin gebe es in diesem Krieg kein Zurück mehr. Auch für Selenskyj gibt es kein Zurück. Selenskyj hat sich vom «Friedenspräsidenten zum knallharten Kriegsführer» gewandelt, schreibt die Washington Post. Ein Kommentar.
Der Krieg hat den ukrainischen Präsidenten kaltblütig gemacht, kompromisslos – und auch zynisch. Als er das Massaker von Butscha sah, stand für ihn fest: «Mit mir wird es nie Verhandlungen mit Putin geben.» Er hat sich geschworen zu kämpfen, bis der letzte russische Soldat aus der Ukraine verschwunden ist.
Die Russen haben die souveräne, völkerrechtlich anerkannte Ukraine überfallen und eine Schlächterei angerichtet, wie man sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr sah.
Wieso also soll man sich mit diesem Kriegsverbrecher, wie ihn Joe Biden zu Recht nennt, an einen Tisch setzen! Soll man ihm entgegenkommen, damit er vielleicht seinen Genozid etwas mildert?
Es gehört zum Wesen von Verhandlungen, dass man versucht, einen Kompromiss zu finden. Verhandlungen sind immer ein Geben und Nehmen. Beide Seiten sollen sich entgegenkommen. Doch weshalb soll man diesem Aggressor entgegenkommen, was soll man ihm geben? Nichts steht ihm zu, nicht einmal der Donbass, nicht einmal die Krim.
Wer sich mit Putin an einen Tisch setzt, begibt sich in eine Position der Schwäche. Denn Putin will etwas, und bei Verhandlungen erwartet man, dass beide Seiten etwas geben. Doch Selenskyj hat recht, wenn er nicht bereit ist, ihm auch nur einen Zipfel seines Landes abzutreten.
Auch im Westen ist man kriegsmüde geworden. Viele sagen schon: Gebt doch den Russen wenigstens den Donbass, dann könnte sich Putin zu einem Waffenstillstand bereitfinden. Wieso soll man den Russen den Donbass geben? Die Region ist fester Bestandteil des international anerkannten Staates namens Ukraine – ein Staat, den auch Russland in seinen ursprünglichen Grenzen anerkannt hat.
Der russische Überfall ist eine schwere Verletzung internationalen Rechts und internationaler Konventionen. Wer diesen Überfall und die Aneignung fremden Territoriums sanktioniert, spricht die Sprache von Verbrechern.
Und glaubt jemand wirklich, Putin würde sich nur mit dem Donbass begnügen? Wieso haben dann die russischen Truppen die ganze Ukraine angegriffen? Wieso will er das «Nazi-Regime» in Kiew stürzen? Wieso hat er sich nicht auf den Donbass beschränkt? Wieso sind seine Truppen am ersten Tag in Hostomel und Kiew gelandet?
Es ist ziemlich töricht zu glauben, Putin würde von seinem Ziel, die gesamte Ukraine zu erobern, abkommen. Ein Waffenstillstand nach einer ukrainischen Abtretung des Donbass wäre für ihn nur eine Verschnaufpause, um seine Truppen neu zu formieren. Er würde sicher den Krieg bald wieder aufnehmen. Mit Putin wird es keinen Frieden geben. Er versteht nur die Sprache der Gewalt, die Sprache der Waffen. Das hat er schon mehrmals bewiesen. Und nichts, wirklich nichts, rechtfertigt das Blutbad, das er in der Ukraine anrichtet.
Wer sich Verbrechern gegenüber untätig und neutral verhält und sich im Schneckenhaus versteckt, macht sich zum Komplizen der Verbrecher.
Westlichen Kreisen, die sich gegen Waffenlieferungen und für eine neutrale Haltung aussprechen, möchte man zurufen: Pazifismus ist eine edle Haltung. Wenn aber eine Seite Völkermord begeht, ist Pazifismus ganz einfach nur einfältig.
Wer sich Verbrechern gegenüber untätig und neutral verhält und sich im Schneckenhaus versteckt, macht sich zum Komplizen der Verbrecher.
Putin ist ein Ideologe. Sein Krieg in der Ukraine versteht er als ersten Schritt, «alles Russische heimzuholen». Zumindest einen Teil der 1991 zerbrochenen Sowjetunion will er wieder herstellen. Putin würde nach einer Eroberung der Ukraine nicht haltmachen. Er ist ein Besessener und wird von seinem Kreuzzug, alles seiner Meinung nach «Russische» zurückzuholen, nicht abkommen. Das sind keine Verschwörungsphantasien. Putin hat das selbst ganz klar gemacht.
Am 9. Juni letzten Jahres verglich sich der Kreml-Führer mit Peter dem Grossen, dem ersten Kaiser des russischen Reiches, der an jenem Tag vor 350 Jahren geboren wurde. Putin sagte wörtlich:
«Peter der Grosse führte 21 Jahre lang den Grossen Nordischen Krieg. Er kämpfte gegen Schweden und versuchte, dem Land einige seiner Teile zu entreissen. Er hat nichts genommen, sondern er hat das Land zurückgeholt. Ja, er holte das Land zurück und stärkte es. Genau das hat er getan. Offensichtlich sind jetzt wir an der Reihe, das Land zurückzuholen und zu stärken. Und wenn wir davon ausgehen, dass diese Werte die Grundlage unseres Daseins sind, dann werden wir die Aufgaben, vor denen wir stehen, sicher erfolgreich lösen.»
Deutlicher geht es nicht: Er will die Ukraine «zurückholen» und dann – wenn dem jetzt 70-Jährigen Zeit bleibt – auch Moldawien, das Baltikum, den Norden Kasachstans, wo Russisch-Stämmige in der Mehrheit sind und Belarus.
So will er wohl als neuer Zar in die Geschichte eingehen. Vor zwei Jahren hatte er gesagt, die 1922 zwischen den Sowjetrepubliken festgelegte Grenze sei eine «illegitime Grenze». Russland sei damals zahlreicher Siedlungsgebiete «beraubt» worden. Vorgestern doppelte er nach. Im Lushniki-Stadion erklärte er an einer patriotischen Versammlung, Russland kämpfe um seine «historische Erde».
Schon zündelt er weiter. Im kleinen Land Moldawien, das sich dem Westen zugewandt hatte, verdichten sich die Gerüchte, wonach die Russen das Land besetzen könnten – dies, nachdem Putin am Mittwoch dieser Woche ein elfjähriges Dekret annulliert hat. Darin war Moldawien «Souveränität, territoriale Integrität und Neutralität» zugesichert worden. Jetzt erklärt das russische Verteidigungsministerium, die Ukrainer würden eine «bewaffnete Provokation» gegen das zu Moldawien gehörende Transnistrien vorbereiten. Bereitet man so einen Überfall vor? Natürlich gibt es auch Gerüchte, wonach Putin die von Russland besetzten georgischen Regionen Südossetien und Abchasien als russisches Staatsgebiet anerkennen könnte.
Selbst wenn die Russen militärisch siegen sollten: Sie haben die Ukraine verloren.
Als Selenskyj 2019 zum ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, glaubte Putin mit der Ukraine leichtes Spiel zu haben: Ein Komödiant, ein Hampelmann. Wie kann man sich täuschen. «Selenskyj wird eher sterben, als Putin nachzugeben», heisst es in seiner Regierung. Damit hat der Kreml-Diktator nicht gerechnet – und beisst sich jetzt die Zähne aus.
Das ukrainische Volk wird nie vergessen, was ihm Putin jetzt antut. Russland kann sich – vielleicht – die Ukraine mit Gewalt holen, doch es wird sie längerfristig nicht halten können – nicht einmal mit Gewalt. Die Grausamkeiten, das Gemetzel, die Bombardierungen ziviler Ziele, die Vergewaltigungen, die Massenmorde, die Putin verordnet hat, haben sich tief in die ukrainische Volksseele eingegraben. Den putinschen Terror und den Genozid vergisst man nicht. Der Krieg hat die Ukraine, selbst den ostukrainischen Donbass, dem Osten entfremdet und dem Westen in die Arme getrieben. Selbst wenn die Russen militärisch siegen sollten: Sie haben die Ukraine verloren.
Wie der Krieg weitergeht, weiss niemand. Er könnte noch Jahre dauern. Vielleicht wird er einst dahindümpeln, ohne klaren Sieger, ohne klaren Verlierer.