Eine «Zeitenwende» hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar vorigen Jahres vor dem Deutschen Bundestag beschworen. Wie hat der Krieg das Leben und Denken der Deutschen verändert?
Der Krieg ist wieder nahe. Er ist – lange unvorstellbar – tatsächlich wieder möglich geworden. In Europa. Wo doch alles so schön und gut geordnet worden war seit dem Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Seit der deutschen Wiedervereinigung, seit dem Zusammenbruch von Kommunismus, Sowjetunion und Warschauer Pakt. Seit sich Russland und der Westen (eingeschlossen Nato und EU) immer mehr einander annäherten und wirtschaftlich wie auch (zumindest vereinzelt) militärisch vernetzten. Es sind ja keineswegs nur die permanent über die Bildschirme flimmernden Bilder von dem entsetzlichen Geschehen in der Ukraine, die so verstören. Nein, jedermann hierzulande kann die Folgen dieses Krieges mittlerweile täglich in Gestalt der millionenfach Geflüchteten, vor allem Frauen und Kindern, erkennen.
Dieser Krieg, dieser brutale Überfall auf ein kräftemässig weit unterlegenes Land, trifft (natürlich nicht allein, aber besonders) in Deutschland auf mindestens vier Generationen, für die ein Leben in Frieden die Normalität bedeutet. Nur noch wenige, die sich an das 1945 zu Ende gegangene Völkergemetzel und die Jahre danach erinnern können. Not, Hunger, Kälte, Verzicht, Enge – man kennt so etwas, wenn überhaupt, nur aus alten Filmen, Schwarzweiss-Fotos oder aus den Erzählungen.
Selbst jene, die heutzutage in Rente gehen, sind weitgehend mit der Versicherung aufgewachsen, dass der Kalte Krieg und der Ost-West-Konflikt ein für allemal vorbei sind, die nach dem Krieg gezogenen Grenzen anerkannt wurden, das Gegeneinander einem Miteinander wich und Streitigkeiten nicht mehr auf Schlachtfeldern, sondern nur noch am Verhandlungstisch gelöst werden sollen. Die «Friedensdividende», so hiess es allenthalben, könne in diesem Zeitalter endlich kassiert werden.
«Stell Dir vor, es ist Krieg …»
Dass die Welt «davor» durchaus bereits mehrfach an der Schwelle sogar eines atomaren Konflikts stand, ist allerdings den Älteren im Land durchaus noch bewusst. Und nicht wenige denken (vielleicht sogar mit einer gewissen Wehmut) an die machtvollen Demonstrationen zurück, an denen sie selbst als Schüler oder Studenten beteiligt waren. Ein in der deutschen Friedensbewegung der 60er und 70er Jahre gern gebrauchter «Schlachtruf» war der (fälschlicherweise Bert Brecht zugeschriebene) Spruch «Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin». Zumeist vergessen wurde seinerzeit der zweite Teil, der da hiess «Dann kommt der Krieg zu Dir».
Heute, ein halbes Jahrhundert später, gibt es zwischen der Waterkant und dem Bodensee keine Massenaufläufe, Demos und Friedensmärsche mit Hunderttausenden und dem Schrei «lieber rot als tot», angeführt von Ärzten, Lehrern und Pastoren «gegen den Krieg». Damals – 1974 – wurde der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt von seiner Partei im Stich gelassen und damit faktisch gestürzt, weil er (Nato-Doppelbeschluss) verlangte, der Westen müsse den atomar bestückten sowjetischen Kurz- und Mittelstreckenraketen etwas gleichwertig Abschreckendes entgegensetzen. Diese «Nachrüstung» wurde dann von seinem christdemokratischen Nachfolger Helmut Kohl umgesetzt und führte letztendlich zu beiderseitiger Abrüstung.
Ironie der Geschichte?
Aus, vorbei? Tempi passati? Man könnte es eine Ironie der Geschichte nennen. Denn jetzt – rund 50 Jahre später – ist mit Olaf Scholz erneut ausgerechnet ein sozialdemokratischer Regierungschef gezwungen, sich am Bau einer Brandmauer gegen Hegemonial-Streben aus Moskau zu beteiligen. Und dies auch noch mit einem «grünen» Koalitionspartner an der Seite, der vor vier Jahrzehnten mit einem Sonnenblumen-Emblem und dem «Pazifismus»-Banner aus der Friedensbewegung hervorgegangen war.
Als Peter Struck, der vorerst letzte bedeutende, von der SPD gestellte, Bundesverteidigungsminister Anfang Dezember 2002 den Satz prägte, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde (auch) «am Hindukusch verteidigt», erntete er – vornehmlich medial und aus intellektuellen Kreisen – haufenweise Hohn und Spott. Der von Putin vor einem Jahr befohlene russische Überfall auf die Ukraine hingegen hat beim überwiegenden Teil der Deutschen die Überzeugung wachsen lassen, dass Unterstützung und Solidarität für das das zerbombte Land auch im ureigensten Interesse liegt. Mehr als 50 Prozent der Deutschen, weisen ziemlich einhellig die Umfragen aus, unterstützen die umfangreiche humanitäre, wirtschaftliche und finanzielle Hilfe; knapp die Hälfte befürwortet selbst die Lieferung so genannter schwerer Waffen.
Niemand (ausser er selbst natürlich) weiss, wie weit Olaf Scholz vor einem Jahr den Begriff «Zeitenwende» inhaltlich gefasst hatte. Tatsächlich hat sich in Deutschlands Öffentlichkeit und Politik schon vieles geändert, seit Putin den Schiessbefehl auf die Ukraine erteilte. Vor allem, nachdem mit einem Male aller Welt klar wurde, wie leichtfertig, ja mit welch blindem Eifer man sich im Verlauf der Jahre besonders auf dem Energiesektor in russische Abhängigkeit begeben hatte.
Und dies sogar ungeachtet immer dringlicher werdenden Warnungen ausländischer Freunde und Partner. Als Stichworte seien die beiden Nord-Stream-Erdgas-Leitungen durch die Ostsee genannt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren es ja durchaus nicht allein «die Politiker», war es keineswegs bloss die (gegenwärtig gern als «Putin-Freundin» verunglimpfte) Angela Merkel, die sämtliche Mahnungen etwa Polens, der Baltischen Staaten, der Ukraine, aber auch der USA in den Wind schlugen. Der Import des billigen Russengases fand auch volle Billigung in Gesellschaft, Wirtschaft und Medien: «Es ist allein unsere Entscheidung, woher wir Energie beziehen. Das geht die anderen überhaupt nichts an!»
Traum von einer schönen, heilen Welt
Ein Zweites wurde den Deutschen in ihrer heimelig eingerichteten Friedens- und Wohlfühl-Oase mit einem Male bewusst. Die Erkenntnis nämlich, sich selbst eine schöne Welt vorgegaukelt, darüber jedoch vergessen zu haben, diese auch sicher und wehrhaft zu gestalten. Seit Anfang der 90er Jahre haben schliesslich sämtliche Bundesregierungen immer zuerst in den Säckel des Verteidigungsministeriums gegriffen, wenn es galt (und das geschah oft), sich mit sozialen Geschenken des Wohlwollens der Bürger zu versichern. Sicherheits- und Aussenpolitik spielte in Bonn und später in Berlin allenfalls zu Wahlkampfzeiten noch eine Rolle – und selbst da nur eine marginale.
Jetzt plötzlich, als man praktisch hautnah miterleben konnte, wie Putins Granaten und Raketen keineswegs «nur» die ukrainischen Städte zertrümmerten, sondern auch unfassbare Gräuel an Zivilisten begangen wurden, nahm man zwischen Rhein und Oder erschrocken zur Kenntnis, in welch desolaten Zustand die eigenen Streitkräfte heruntergewirtschaftet worden waren. Panzer konnten nicht mehr über Truppenübungsplätze rasseln, U-Boote nicht mehr tauchen, Kampfjets füllten – flugunfähig – die Hangars der Fliegerhorste. Das wenige verbliebene und einsatzfähige Gerät und Material musste zusammengekratzt werden, um die in Afghanistan, Mali, auf dem Balkan und im Baltikum eingesetzten Bundeswehr-Angehörigen einigermassen auszurüsten.
Dieses jähe Erschrecken plus die Ankündigung des Kanzlers, den Streitkräften mit 100 Milliarden Euro wieder auf die Beine helfen zu wollen, scheinen (mit gewiss ungewollter Hilfe Putins) die Armee erstmals seit langem wieder einmal ins Bewusstsein der Bundesbürger zu hieven. Wann sie allerdings, selbst im Verbund mit den Nato-Verbündeten, wieder eine auf welchen Aggressor auch immer abschreckende Wirkung ausüben, steht noch in den Sternen.
Führen, aber nicht dominieren
Noch einmal «Zeitenwende». Deutschland, so klingt es nahezu unisono aus den Hauptstädten der EU- und Nato-Partner, müsse gerade in dieser von Spannungen aufgeladenen Zeit, «führen». Oder besser: Eine «führende Rolle» einnehmen. Am besten natürlich mit Frankreich. Aber so richtig klappt das nicht. Wie schon in der Vergangenheit auch. Dabei stehen die Deutschen mit Ausrüstungs-, Nahrungsmittel-, Kleidungs- und Waffenlieferungen im Wert von mehr als 3 Milliarden Euro an Nummer 2 der Geberländer. Nur noch getoppt von den USA. Und das immerhin veranlasst von einer Berliner rotgrüngelben Ampel-Regierung! Angeführt von einer SPD, die – zumindest in Teilen – immer noch in einem schmerzhaften Prozess damit beschäftigt ist, zu begreifen, dass sich der Glaube an eine ständig haltbarere gegenseitige Verknüpfung von Wirtschaft, Politik, Verträgen und damit Frieden durch Putins Krieg in Illusion aufgelöst hat.
Ganz zu schweigen von den Kröten, welche die vor Jahresfrist mit ganz anderen Zukunftserwartungen angetretenen grünen Friedens-, Fortschritts- und Klimarettungs-Apologeten seither schlucken mussten und noch müssen. Lieferung schwerer Panzer, Munition jedes Kalibers an die Ukraine, Laufverlängerung von Kernkraftwerken, wenigstens zeitweilig noch mehr Kohle-Einsatz zur Stromerzeugung, Räumung des Dorfes Lützerath etc., etc., etc.
Wie schwer sich die SPD damit tut, die veränderte geostrategische Situation und die sich darauf ergebenden macht- und sicherheitspolitischen Konsequenzen zu akzeptieren, konnte man nicht zuletzt an dem Zaudern und den Ausflüchten von Olaf Scholz im Zusammenhang mit dem immer lauter werden Ruf des ukrainischen Präsidenten Selenskyj nach deutschen Leopard-2-Panzern ablesen. Mal ganz abgesehen davon, dass der heutige Bundeskanzler in seinen Schüler- und Studentenjahren politisch ganz links aussen agierte und damals von der DDR und deren Chef Honecker vermutlich grösseres Heil erwartete als von der westlichen Führungsmacht USA – mal abgesehen davon graust es nicht unwesentlichen Teilen der SPD vor dem Begriff «Führung». Mehr als 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft wirkt der «Führer»-Begriff in der deutschen Politik immer noch nach. Die Kunst von Scholz’ Vorvorgänger, Helmut Kohl, bestand allerdings darin, zum Zentrum seiner Aussenpolitik die Kooperation mit Frankreich zu machen, dabei aber gleichzeitig den Rat der «kleinen» Partner zu suchen, um den Vorwurf «deutscher Dominanz» zu entgehen.
Es liegt jetzt an Olaf Scholz, das politische Kunststück zu entwickeln, es möglichst vielen in dieser schwierigen Zeit recht zu machen. Erstens: Zusammen mit den Verbündeten in Nato und EU Wege zu finden, um dem zunehmenden amerikanischen Druck nach erkennbar grösseren europäischen Beiträgen zur gemeinsamen westlichen Verteidigung gerecht zu werden. Zweitens: Die noch immer bestehenden Kommunikationsstränge zu Putin und (möglicherweise) weiteren russischen Eliten nicht vollständig zu kappen. Drittens im eigenen Land die Hilfe für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, aber auch aus anderen umkämpften Regionen der Erde wachzuhalten, aber gleichzeitig acht zu geben, dass die Menschen daheim sich nicht überfordert fühlen. Massenhaft fehlende Wohnungen, steigende Preise überall, bis an den Rand strapazierte Sozialkassen, Regierungsschulden in hoher Milliardenhöhe durch staatliche «Entlastungs»-Programme.
Die Liste liesse sich leicht noch verlängern. Deutschland und die Zeitenwende.