
«Black Dog», die neue Kinoperle des chinesischen Filmkünstlers Guan Hu, spielt in einer maroden Stadt nahe der Gobi-Wüste 2008, kurz vor den Olympischen Sommerspielen in Peking. Der heimkehrende Häftling Lang und der herrenlose Hund Xin nähern sich vorsichtig an.
Die Eröffnungstotale zeigt eine farblich herbe, hügelige Landschaft, über die der Wind Tumbleweed-Büschel treibt. So beginnen etliche US-Westernklassiker. Doch die Schauplätze in «Black Dog» sind die westchinesische Wüste Gobi und eine angrenzende Stadt im Jahr 2008, kurz vor der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele, mit der das totalitäre Reich der Mitte global glänzen will.
Auf der Leinwand ist bald ein im Hintergrund heranfahrender Minibus zu sehen. Plötzlich rennen Hunde ins Bild, das Fahrzeug gerät ins Schlingern, überschlägt sich, bleibt liegen. Passagiere krabbeln aus dem Autowrack. Einer schreit, man habe ihm sein Geld gestohlen, verlangt, dass niemand weggeht, ehe die Polizei eintrifft. So beginnt ein extravagantes Beziehungsdrama mit systemkritischer Würze. Geschaffen hat es der chinesische Filmvirtuose Guan Hu (56).
Auf Bewährung entlassen
Unter den Verunfallten fällt ein stoisch wirkender, hagerer Mann auf: der Protagonist des Dramas, Lang. Nach etlichen Jahren im Gefängnis ist er auf Bewährung entlassen worden, kehrt in seine Heimatstadt zurück. Wissend, dass er dort umgehend mit der Vergangenheit konfrontiert sein wird. Der skrupellose Giftschlangen-Züchter «Butcher» hat Rachegelüste, weil er seinen Neffen bei einem Motorrad-Crash verloren hat, der vor Gericht als Totschlag-Delikt beurteilt wurde und Lang als Mitschuldigen hinter Gitter brachte.
Noch belastender ist, dass sich Lang um den Vater sorgt. Er leitet einen verwahrlosten Zoo, darbt als schwerstkranker Säufer dahin und bedarf dringend der pflegerischen Fürsorge eines nahen Angehörigen.
Suboptimale Aussichten für Lang, der weder einen Job noch eine feste Beziehung hat, dafür aber unter polizeilicher Beobachtung steht. Kommt dazu, dass die einstige Kohlen-Bergbaustadt zur freudlosen Trümmerlandschaft geworden ist. Mit lädierten Wohnhäusern, leerstehenden Geschäften, Theatern, Kinos – obwohl in wenigen Wochen die Olympischen Sommerspiele in Peking stattfinden.
Abseits des Booms
Blick zurück ins Jahr 2001, wo das prestigeträchtige Ereignis von Regierungsseite so angekündigt wurde: «Der Gewinn der olympischen Bewerbung für 2008 ist ein Beispiel für die internationale Anerkennung der sozialen Stabilität Chinas, des wirtschaftlichen Fortschritts, des gesunden Lebens des chinesischen Volkes.»
In den folgenden Jahren wurde im totalitären Reich der Mitte ein gigantischer Aufwand betrieben, um für den bedeutendsten globalen Sportevent gerüstet zu sein. Dazu gehörten sogenannte Stadterneuerungen, die Regisseur und Co-Autor Guan Hu zu einem Kernelement seines Filmplots machte: «Ich lebe in China, habe die enorm rasante Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnten miterlebt. Ich wollte ergründen, wie die Menschen abseits der grossen Städte und abgelegenen Regionen leben. Zwangsläufig gibt es da Zurückgelassene und Verdrängte. Mich interessierte, wie sie damit umgehen.»
In Langs Heimatort ist also von der angekündigten «Stadterneuerung» nichts zu sehen. Bewohner und Familien wurden umgesiedelt, viele (oft junge) Leute haben die Gegend überstürzt verlassen, weil es ihnen an Zukunftsperspektiven mangelt. «Black Dog» spiegelt die Situationen der verbliebenen Abgehängten wider, zunächst dokumentarisch distanziert und nüchtern.
Doch dann wird die Story emotionaler und bewegter. Weil Guan Hu zum Beispiel die eingangs erwähnte Hundemeute-Szene in der Wüste weiterdenkt, ins Urbane verlegt. Man erfährt, dass es sich um ausgesetzte Haustiere handelt, die aus instinktiver Überlebensnot heraus Rudel bilden und eine unberechenbare Gesundheitsgefahr darstellen.
Ab sofort ist klar, dass «Black Dog» mit dem sozialromantischen Genre der «Lassie»-Familienfilme, die ab den 1960er-Jahren die kuschelige Mär vom Hund als des Menschen bestem Freund idealisierten, nichts gemein haben wird.
Tragikomische Mensch-und-Tier-Fabel
Zuhause wird Lang unmittelbar mit dem Problem konfrontiert, das viele im Ort Verbliebene verängstigt: Er begegnet dem ihm wohlgesonnenen Onkel Yao, der vom prominenten Regisseur Jia Zhangke in einer Gastrolle fein gespielt wird. Yao hat von den mittlerweile beunruhigten, weil für das Malaise verantwortlichen Behörden den Auftrag erhalten, ein Hundefängerteam zu formieren und bietet Lang einen Job an. Der ist zunächst skeptisch, wird aber hellhörig bei der Meldung, dass für das Ergreifen eines Whippet-Mischlings eine Sonderprämie ausgelobt ist. Der windhundartige Rüde heisst Xin, ist solo unterwegs, gilt als bissig, soll sogar an Tollwut leiden. Trotzdem ist Lang parat, voll ins Risiko zu gehen.
Nun fokussiert «Black Dog» auf eine tragikomische Mensch-und-Tier-Fabel: Schon die erste Begegnung der so unterschiedlichen Beteiligten in einem Scherbenviertel ist von einer Art Empathie-Magnetismus umflort. Und man ahnt, dass diese Sache trotz beidseitigen Angstattacken und schmerzvollen Blessuren nicht auf einen letalen Showdown zwischen Jäger und Gejagtem zusteuert. Das wirkt authentisch, weil Guan Hu nun fast kammerspielartig choreographiert. Bis in eine anrührende Intimität hinein vermittelt er, dass zwischen Lang und Xin ein Solidaritätspakt entsteht.
Was natürlich auch der tollen Besetzung geschuldet ist: Der China-Superstar Eddie Penn verkörpert den wortkargen Lang «con brio», modelliert ihn als smarten Typen, der dem ähnelt, was im Amerikanischen ein «Loner» – ein ungeselliger Einzelgänger – genannt wird. Vor seiner Zeit im Gefängnis war er als tollkühner Show-Motorrad-Stuntmann und Band-Gitarrist in der Region populär. Nun strahlt er eine rätselhafte Lakonie aus, die an klassische Westernhelden erinnert.
Wer dabei an den jungen Clint Eastwood denkt, liegt nicht falsch. Doch Eddie Penn kopiert nicht, sondern wirkt originär. Regisseur Guan Hu: «Er hat die animalische Naivität, die ich suchte und die man nicht oft findet. Meine Schauspieler sind einem breiten Publikum bekannt, doch weil der Film in der Weite Westchinas spielt, wollten wir, dass sie mit dieser Umgebung verschmelzen.»
Zu seiner extravaganten, überraschenden filmischen Beziehungsstory liess sich Guan Hu unter anderem von einer alten chinesischen Legende inspirieren: «Mein Filmheld heisst ‘Lang’, weil das an die Gottheit ‘Erlang‘ erinnert. Sie wird oft mit einem mageren Jagdhund an der Seite dargestellt, der ihre Einsamkeit bei Streifzügen durch den Himmel lindert.» Im Film sind es die mannigfaltigen Formen des Einsamseins hienieden auf Erden, die bewältigt werden wollen.
Wie gut diese mythische Symbiose zwischen der animalischen und der menschlichen Hauptfigur klappt, wird in einer verblüffenden Wendung verdeutlicht: Eines Tages baut Lang das Motorrad, das fast schon mit ihm verwachsen ist, zu einem schnittigen Seitenwagen-Gespann um, damit ihn der agile Xin bequem überallhin begleiten kann.
Kritische Ansätze trotz Zensur
Chinesisches Filmschaffen versteht es immer wieder, trotz eingeschränkter Meinungsfreiheit und scharfer Überwachung aller oppositionellen Regungen heikle und kritische Akzente ins Narrativ einfliessen zu lassen. Exemplarisch seien in diesem Kontext Regiemeister wie Chen Kaige und Zhang Yimou («Rotes Kornfeld») genannt. Sie gehören zur sogenannten fünften Generation des chinesischen Films, die seit den frühen 1980er-Jahren auch leidvolle Erfahrungen mit der chinesischen Geschichte reflektiert.
Obwohl einzelne Werke mit inländischer Zensur belegt wurden, gelangten doch einige auf den massgebenden internationalen Filmfestivals zur Aufführung. Sie wurden nicht selten gefeiert und ausgezeichnet, was das Ansehen des modernen chinesischen Filmschaffens notabene mehrte.
Mittlerweile ist die sechste Generation der Filmkreativen, die sich mit Erfahrungen seit den 1990er-Jahren mit Reform- und Öffnungstendenzen in China befasst, auf dem Höhepunkt angelangt. «Black Dog»-Schöpfer Guan Hu gehört dazu. Er hat zuletzt den aufwändigen Kriegsfilm-Blockbuster «The 800» (2020) realisiert und sich nun mit «Black Dog» dem zugewandt, was man Arthouse-Film nennt. Guan Hu: «Ich spürte den Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte nach, mit ihren positiven und negativen Auswirkungen auf die Menschen. Nach etlichen Mainstream-Filmen in China kam für mich der Moment, mir mehr Zeit fürs Zuhören und Mitfühlen zu nehmen. Und für mich selber eine ruhigere Arbeitsposition zu suchen.»
Das bestechende Resultat dieser Reflexionsphase ist sein stupender neuer Film. Wobei «Black Dog» die Tauglichkeit des Kinoprinzips bestätigt, dass sich Gesellschaftskritik im Spielfilm mit einer scharf durchdachten, auf das Menschliche zugeschnittene Story, die nah an den Charakteren bleibt, stärkere Wirkungen erzielt, als das über eine rein dokumentarische Aufarbeitung möglich wäre.
Auffällig in «Black Dog» ist, dass es keine grosse Frauenrollen gibt. Obwohl Hu erwähnt: «Weibliche Rollen sind in meinen Filmen sehr wichtig, weil sich in ihnen die Resilienz und Reife widerspiegeln, wie ich sie selbst im Leben suche.» Immerhin gibt es wenigstens einen Nebenstrang, in dem eine kernige Frauenfigur dominiert. Sie heisst Grape, ist Tänzerin im Ensemble eines Wanderzirkus, der in der Stadt Halt macht, um das Publikum etwas aufzuheitern. Als Lang, der als Ex-Töff-Stuntmann und Musiker ein Flair fürs circensische Entertainment hat, mit Grape ins Gespräch kommt, liegt sofort Sympathie-Energie in der Luft und man spürt, dass sich mehr als ein kurzer Flirt anbahnen könnte. Doch dazu kommt es nicht, warum? Guan Hu: «Wie Grape das Leben betrachtet, ist erwachsen und reflektiert und verrät klare Zukunftspläne. Doch vorgezeichnete Lebensstrukturen sind nicht das, was Lang im Moment braucht.» Das leuchtet – mit dem ganzen Film vor Augen – natürlich ein, aber dem Duo Grape und Lang hätte man gerne noch länger zugeschaut und gelauscht.
«Pink Floyd», ein Natur-Lichtspiel und Jack Kerouac
Sei’s drum, «Black Dog» fundiert auf einem starken Plot, ist homogen besetzt, brillant fotografiert und ediert, dramaturgisch durchdacht. Zudem finden sich in den Tableaus zahlreiche vexierbildhafte Graffitis, Plakate, Signale, Vignetten, die über das Handlungsgeschehen Zusatzinformationen vermitteln. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen.
«Black Dog» ist ein Filmbijou, das eine sogartige atmosphärische Spannkraft entwickelt, ohne je überfrachtet anzumuten. Das gilt auch für die erstaunlich sparsam zugespielte Musik, die umso prägnanter einfährt: Zum Finale gibt es elegische Pink-Floyd-Klänge aus Songs wie «Hey You» und «Mother» aus dem Konzeptalbum «The Wall» (1979): ein elegant-poetisches Cachet in Guan Hus Plädoyer für motivierende Zuversicht, Courage, Neubeginn in bewegten Zeiten generell. Und in «Black Dog» speziell: «Der Lauf der Dinge», so noch einmal der Regisseur, «treibt den noch jungen Lang an, seine Würde zu finden, weil ihn ein routiniertes, eintöniges Leben erdrücken würde. Ich erinnere mich dabei an Worte von Jack Kerouac: ‘Wir müssen gehen, und wir dürfen nie damit aufhören, bis wir am Ziel sind.’»
Diese Kernbotschaft des unvergessenen Autors und Exponenten der Beat Generation in den 1950er-Jahren, Jack Kerouac («On the Road», 1957), passt zum «Black Dog»-Ausklang mit einem bis ins Surreale hineinspielenden Kleinszenen-Rondo: Da gibt es eine mystisch-magische Sonnenfinsternis, die 2008 fast zeitgleich mit dem offiziellen Eröffnungs-Pomp der Olympischen Sommerspiele in Peking in der Gobi-Wüste gut zu sehen war und die Menschen ebenso betörte wie die Wildtiere im eingangs erwähnten Stadt-Zoo mit einem Tiger als Gallionsfigur.
Die Klimax bildet ein herzbewegendes Aperçu mit den Leitfiguren Lang und Xin. Zwei, die sich im Malheur gesucht, gefunden und vereint haben, um Neues zu wagen. Mehr dazu natürlich nicht hier, aber unbedingt im Kino. «Black Dog» ist eine kluge, sinnliche Filmperle. Nachhall garantiert.
Kinos und Spielzeiten: https://www.movies.ch/de/film/gouzhen/