Portugal verstand sich bisher gern als ein Land, das Ausländer mit offenen Armen aufnimmt. An diesem Prinzip scheiden sich aber immer mehr die Geister. Eine kurz vor Weihnachten realisierte Grossoperation der Polizei in einem sehr «asiatischen» Quartier von Lissabon wirft Fragen auf. Gibt beim Umgang mit Migranten gar die xenophobe Partei Chega jetzt die Agenda vor?
«Wir sind jetzt wohl alle verdächtig, gegen irgendein Gesetz verstossen zu haben», klagt der junge Student aus Bangladesch, der etwas Portugiesisch versteht, sich aber lieber auf Englisch verständigt. Wir sprechen in der Rua do Benformoso, im Herzen der portugiesischen Hauptstadt, nahe der Praça Martim Moniz, wo sich Lissabon von der asiatischen Seite zeigt. An diesem Platz bilden Touristen lange Schlangen, um ein Uralt-Tram der Linie 28 besteigen zu können. Sie verirren sich eher selten in die schmale Rua do Benformoso mit ihren Halal-Fleischereien, exotischen Krämerläden sowie Restaurants für indische und bangalische Kost. Seit einigen Tagen ist diese Strasse aber in aller Munde.
Grosse Razzia, magere Ausbeute
Der junge Student war nicht dort, als am letzten Donnerstagnachmittag die Polizei zu einer Grossoperation anrückte. Er äussert sich aber fassungslos über das, was er gehört hat und was landesweit in den Medien zu sehen war. Einige Dutzend, wenn nicht gar über hundert Männer, die weitaus meisten von ihnen Migranten, wurden auf dem Gehsteig aufgereiht, die Rücken zur Strasse, die erhobenen Hände an die Hauswände gedrückt, um sich von der Polizei abtasten oder durchsuchen zu lassen.
Das Ergebnis der Aktion? Die Festnahme von zwei Männern, beide mit portugiesischer Staatsangehörigkeit. Einer trug ein Messer und mehr Drogen, als für den Eigenkonsum erlaubt ist; der andere war verdächtig, einige Diebstähle begangen zu haben. Im Raum steht die Frage, welches Ergebnis eine ähnliche Aktion bei Fussball-Schlachtenbummlern oder Besucherinnen und Besuchern schicker Diskotheken gezeitigt hätte.
Eine Operation ganz im Sinne der Rechtspopulisten?
Ein Sturm der Empörung liess nicht auf sich warten. Aus einer rein juristischen Perspektive erklangen Zweifel an der – in der Verfassung verlangten – Verhältnismässigkeit dieser Aktion. Auf politischer Ebene bekamen Regierung und Polizei vorgeworfen, sich die Agenda von der rechtspopulistischen und xenophoben Partei Chega, die im Parlament 50 Abgeordnete stellt, vorgeben zu lassen oder ihr die Wählerschaft streitig machen zu wollen.
Ein Verantwortlicher der Polizei liess offen, ob die Operation mit der Regierung abgestimmt war. Ministerpräsident Luís Montenegro, der seit diesem April eine bürgerliche Minderheitsregierung führt, verteidigte die Operation aber. Oft müsste es nicht viel Kriminalität geben, damit sich Menschen unsicher fühlten, sagte er. Mit derartigen Operationen mache sich die Polizei bei der Überwachung von illegalen Aktivitäten sichtbar. Ob die Polizei den besten Weg gewählt hat, um sich bürgernah zu geben, steht auf einem anderen Blatt. Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa, der sich fast täglich zu aktuellen Fragen äussert, enthielt sich einer Bewertung. Er begrüsste aber die Einleitung einer internen Untersuchung mit nicht-disziplinärem Charakter.
Ein offener Brief des Protestes
Menschen an der Wand aufgereiht, ausgewählt nach Kriterien wie Herkunft, kultureller Unterschiedlichkeit oder Hautfarbe, das erinnere an frühere, überwunden geglaubte Zeiten, fanden 21 Persönlichkeiten aus unterschiedlichen, zum grössten Teil aber linken politischen Lagern in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten, dessen Regierung im Parlament auf die Stimmen oder wenigstens Stimmenthaltung entweder der Sozialisten oder von Chega angewiesen ist.
Die Unterzeichner kritisierten auch zwei Beschlüsse, die das Parlament am Tag der Operation gefasst hatte, mit den Stimmen der Regierungsparteien und Chega. Ausländer, die sich in einer irregulären Situation befinden, sollen demnach die Leistungen des staatlichen Gesundheitsdienstes nicht mehr kostenlos in Anspruch nehmen dürfen.
Ein friedliches Land – oder etwa nicht mehr?
Portugal gilt dabei als eines der friedlichsten Länder der Welt. Für 2024 errechnete das in Sydney beheimatete Institute for Economics & Peace zum 18. Mal seinen «Global Peace Index». In einer Rangliste, die fast alle Länder der Welt berücksichtigt, erschien Portugal als eines von elf «sehr friedlichen» Ländern. Es belegte den siebten Platz, hinter Spitzenreiter Island, Irland, Österreich, Neuseeland, Singapur und der Schweiz, und vor Dänemark, Slowenien, Malaysia und Canada.
Ein Zusammenhang zwischen Einwanderung und einem Anstieg der Kriminalität ist nach Ansicht von Fachleuten nicht nachweisbar. In der Bevölkerung geht dennoch offenbar ein gewisses Unbehagen über die Einwanderung vor allem vom indischen Subkontinent um, Hiervon zeugen die Ergebnisse einer Studie «Barometer der Immigration» der Stiftung Francisco Manuel dos Santos, die zwei Tage vor der polizeilichen Operation bekannt wurden.
Fremdheitsgefühl und Informationsdefizite
Bei einer Umfrage fanden 81% der Befragten, dass die Einwanderer vom indischen Kontinent – also aus Indien, Pakistan, Bangladesch und Nepal – «sehr unterschiedlich» zu den Portugiesen waren. 60 Prozent sprachen sich für eine Reduzierung ihrer Präsenz aus. In Bezug auf diese Gruppe war das Gefühl des «sehr unterschiedlich» teils viel stärker als gegenüber Personen aus China, Afrika, Osteuropa und Brasilien. An Schwarze sowie an Leute, die Portugiesisch mit brasilianischem Akzent sprechen, mögen sich die Portugiesen gewöhnt haben. Gerade die Einwanderung vom indischen Subkontinent ist aber stark gestiegen, obwohl die Menschen von dort 2023 nur 11% der Ausländer mit legalem Aufenthalt in Portugal stellten.
Die Gesamtzahl der Immigranten ist gerade in den letzten Jahren indes enorm gestiegen, von knapp 662’000 im Jahr 2020 auf 1,044 Millionen im Jahr 2023. Und da grassiert eine teils schockierende Unkenntnis über gewisse Fakten. In der erwähnten Studie wusste nur rund ein Drittel der Befragten, dass die Ausländer mehr in die Sozialversicherung einzahlen, als sie an Sozialleistungen bekommen – und war rund fünfmal mehr im Jahr 2023. Immerhin erkannten gut zwei Drittel der Befragten an, dass die Einwanderung gut für die Wirtschaft sei. Sie ist gar unverzichtbar. Weil die Arbeitskraft knapp ist, dürfte es schwer sein, einige aus Mitteln des EU-Wiederaufbaufonds finanzierte Projekte termingerecht zu realisieren.
Die Regierung hat vor einigen Monaten die Regeln für die Einwanderung bereits verschärft. Mit dem Ziel, diese besser zu reglementieren, strebt sie einen Pakt mit den Arbeitgebern an. Sie sollen sich dazu verpflichten, die Migranten beruflich zu qualifizieren und Unterkunft zu stellen. Auf unternehmerischer Seite hielt sich die Zustimmung in Grenzen.