Die Töne in der Migrationsdebatte werden zunehmend schärfer und die Massnahmen härter. Was lange Zeit nur am rechten Rand gefordert und diskutiert wurde, ist in die Mitte der politischen Debatten gerückt. Wie sehr sich das Problem der Migration zugespitzt hat, beschreibt Beat Stauffer.
Beat Stauffer, als Journalist spezialisiert auf die Länder Nordafrikas, will aufrütteln: Zur Zeit gebe es «keine Alternative zu einer massiven Eindämmung der irregulären Einwanderung» nach Europa, und dies auch, so schreibt er, im Interesse der Migranten selbst – denn die irreguläre Migration sei zu einer Sackgasse geworden, «zu einem Phänomen, das weder für die Auswanderer noch für die Aufnahmestaaten gut ist.»
Der Traum von Europa
«Die Sackgasse der irregulären Migration» zeichnet ein düsteres Bild: In allen Ländern südlich und östlich des Mittelmeers, schwerpunktmässig in Tunesien, Marokko und Ägypten, harren Millionen von Menschen, hauptsächlich junge Männer zwischen 18 und 30, auf die Gelegenheit, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Hinzu kommen, so schreibt Stauffer, weitere 12 bis 15 Millionen, die aus weiter entfernten Ländern stammen und deren Traum ebenfalls «Europa» heisst. Die meisten sind potentielle irreguläre Migranten.
Nur: Wo genau verläuft die Trennlinie zwischen «Irregulären» und «Anspruchsberechtigten», also Menschen, die Anspruch auf Asyl oder zumindest eine seriöse Überprüfung auf einen entsprechenden Anspruch haben? Theoretisch klar ist, dass Menschen, die politisch verfolgt und bedroht sind, oder auch solche, die vor Kriegen flüchten, in Europa Asyl beantragen können. Die Millionen, die Beat Stauffer meint, werden aber weder politisch verfolgt, noch flüchten sie vor einem Krieg, aber sie sehen in ihren eigenen Ländern für sich selbst keine ökonomisch sinnvolle Zukunft und sind der Überzeugung, dass die «reichen» Europäer ihnen genau das bieten können oder sogar schulden: ein Leben in relativem Wohlstand und in Freiheit.
Täuschende «Erfolgsstories»
Für Vertriebene aus Kriegs- und Krisenregionen müsse sich die EU (das gilt wohl auch für die Schweiz) engagieren – Stauffer: «Durch die Schaffung von grossen und sicheren Aufnahmezentren in der Nähe der wichtigsten Konfliktherde vor allem.» In der Praxis die Trennlinie zwischen Berechtigten auf Asyl und den Irregulären zu ziehen, dürfte allerdings schwerfallen. Das erkennt der Autor auch selbst, wenn er von «gemischter Migration» schreibt, also von den Grenzfällen, mit denen die Behörden der potentiellen Aufnahmeländer in irgend einem europäischen Land sich befassen müssen.
Beat Stauffer fokussiert in seinem Buch auf die Länder des Maghreb (Marokko, Tunesien, Algerien) und, eher am Rand, auf Libyen und Ägypten. Die Anerkennungsquoten beispielsweise tunesischer Asylsuchender (Tunesien ist, neben Marokko, Stauffers Spezialgebiet) liegt bei unter einem Prozent, also müsste sich bei jungen Auswanderungswilligen in diesem Land eigentlich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass ihre das eigene Leben gefährdende Reise bis in die Mitte Europas praktisch zum Scheitern verurteilt sei. Aber aus ihrer eigenen Perspektive sieht das anders aus, denn es gibt ja doch immer wieder «Erfolgsstories» (etwa von einem Landsmann, der einen Job in einem Restaurant ergattert hat, oder von einem anderen, der durch Heirat die Aufenthaltsbewilligung im Zielland erhalten hat), und die werden übers Handy oder über die sozialen Medien rückübermittelt. So verbreitet sich fortlaufend die Illusion, Europa biete eben doch genau jene Chancen, die sich die im tunesischen Sfax oder einem anderen «Sprungbrett» für die Reise über das Mittelmeer noch Zurückgebliebenen, aber zu allem Entschlossenen, erträumen.
Riesige Frustration
Beat Stauffer plädiert für radikale Lösungen, um die irreguläre Migration einzudämmen. Nicht so eindeutig im Buch selbst, aber in einem Interview für die Sonntagszeitung (25. August 2024) lobte er die rigide Asylpolitik der italienischen Rechts-Regierung von Giorgia Meloni. Fordert er für die Schweiz eine vergleichbare Politik? Das käme einer der Schweiz eigentlich nicht entsprechenden radikalen Wende gleich. Und man könnte ihm entgegen halten, dass die Zahl der Asylsuchenden aus Tunesien pro Jahr immer nur einige hundert beträgt und dass es nicht angebracht ist, aufgrund von Erfahrungen mit diesen irregulären Migranten aus Tunesien Konsequenzen für die politische Linie eines Landes, beispielsweise der Schweiz, zu ziehen.
Nur entspricht auch das der Wahrheit: Die kleine Minderheit der irregulär in die Schweiz Zugewanderten aus Tunesien wird medial und in der breiten Öffentlichkeit vor allem deshalb negativ wahrgenommen, weil einige von ihnen durch Kleinkriminalität (Einbrüche in parkierte Autos beispielsweise) straffällig werden. Stauffer schreibt dazu: «In der Schweiz hat die hohe Delinquenz von jungen Männern aus dem Maghreb grossen Unmut ausgelöst, und verschiedene Vorstösse im nationalen wie auch in kantonalen Parlamenten waren die Folge.» Er erkennt aber auch: «Die Chancenlosigkeit auf einen legalen Status in Europa löst bei jungen maghrebinischen Migranten eine riesige Frustration aus.»
Negative Bilanz der Millionen-Hilfen
Beat Stauffer beschreibt eine für europäische Länder, aber auch für die irregulären Migranten und die Herkunftsländer angespannte und frustrierende Situation. Was allfällige Abhilfemassnahmen betrifft, ist er selbst aber einigermassen ratlos: «Neben einer Reihe von Massnahmen zum besseren Umgang mit irregulären Migranten und abgewiesenen Asylbewerbern ist auf kurze Frist einzig eine enge Zusammenarbeit mit den erwähnten Staaten erfolgversprechend.»
Nur zeigte die Erfahrung, dass solche Formen der Zusammenarbeit an enge Grenzen stossen. Für die EU ist die Bilanz ihrer Millionen-Hilfen für Tunesien negativ – für die Schweiz ist sie durchzogen. Tunesien hat zwar Migranten zurückgenommen, aber das primäre Ziel, das man sich in Bern von einem Kooperationspaket mit der Regierung in Tunis erhofft hat und für das innerhalb von drei Jahren 101 Millionen Franken überwiesen worden sind (nämlich mehr Demokratie), hat sich nicht erfüllt – im Gegenteil: Tunesien wird immer autoritärer, was mit ein Grund dafür ist, dass mehr und mehr junge Tunesier das Risiko der irregulären Migration eingehen wollen.
Beat Stauffer: Die Sackgasse der irregulären Migration. NZZ Libro, 2024.