Als die Rebellen am 7. Dezember auf Damaskus vorrückten, rief Präsident Assad in seiner Verzweiflung den russischen Präsidenten an. Doch Putin ging nicht ans Telefon. Und die iranischen Revolutionsgarden stellten fest: «Es ist vorbei.» Dies geht aus einer ausführlichen Recherche hervor, die die New York Times (NYT) nun veröffentlichte.
Das staatliche syrische Fernsehen stellt im Präsidentenpalast in Damaskus Scheinwerfer und Kameras auf. Man wartet auf eine Rede von Präsident Assad, in der er sich bereiterklärt, die Macht mit Mitgliedern der politischen Opposition zu teilen. Das hätte ein friedliches Ende des 13-jährigen Bürgerkriegs bringen sollen.
So schildert die New York Times die Lage an diesem Samstag, 7. Dezember. Das Weltblatt hat für seine Recherche mehrere seiner besten Reporter eingesetzt und Dutzende Direktbetroffene befragt. Der Artikel mit dem Titel «Deception and Betrayal: Inside the Final Days of the Assad Regime» (Täuschung und Verrat: Die letzten Tage des Assad-Regimes) basiert auf Interviews mit syrischen, iranischen, irakischen und türkischen Beamten, Diplomaten in Damaskus sowie mit Mitarbeitern von Assad. Auch Rebellen, die an seinem Sturz beteiligt waren, wurden befragt. Viele von ihnen sprachen unter der Bedingung der Anonymität aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen.
Keine Alarmstimmung im Präsidentenpalast
Assad habe seiner Entourage nicht das Gefühl gegeben, dass bald alles zu Ende sein könnte, erklärt ein Palastinsider der Zeitung. Die Verteidigungsanlagen der Hauptstadt seien verstärkt worden, so der Informant, auch durch die mächtige 4. gepanzerte Division der syrischen Armee. Diese wird vom Bruder des Präsidenten, Maher al-Assad, angeführt.
Im Präsidentenpalast habe keine Alarmstimmung geherrscht, erinnert sich ein Insider. Man glaubte, Assad sei in seinem Büro und versuche, die Krise zu bewältigen. «Die Leute waren noch dabei, Szenarien zu entwerfen» wie es jetzt weitergehen könnte, sagte der Insider, «und niemand kam auf die Idee, dass Damaskus fallen könnte».
Warten auf eine Rede
Das Palastpersonal habe den Tag damit verbracht, auf die Rede Assads zu warten – eine Rede, die den Vormarsch der Rebellen «irgendwie stoppen würde». Es habe viele Leute im Palast gegeben, die sagten, «es sei an der Zeit, dass Assad auftritt, um die Armee zu unterstützen und die Menschen zu beruhigen», so der Insider gegenüber der New York Times.
Aber die Dreharbeiten zur Aufzeichnung der Rede seien immer wieder ohne Erklärung verschoben worden. Bei Einbruch der Dunkelheit «war das Personal nicht mehr sicher, wo sich Assad aufhielt», sagte der Insider.
Eine halbe Million Tote, Millionen Flüchtlinge
Ende November, als die Rebellen im Nordwesten Syriens eine Offensive starteten, um Assads Truppen zurückzudrängen, sei der Präsident zu einem freudigen Familienfest in Russland gewesen, schreibt die NYT. Sein älterer Sohn, Hafez al-Assad, habe gerade seine Doktorarbeit an der Moskauer Staatsuniversität verteidigt.
13 Jahre lang hat Assad einen brutalen Bürgerkrieg gegen bewaffnete Gruppen geführt, die seinen Sturz anstrebten. Der Konflikt hat das Land verwüstet, mehr als eine halbe Million Menschen getötet und Millionen von Flüchtlingen hervorgebracht. Iran und sein Verbündeter, der libanesische Hisbollah, haben Assads Truppen unterstützt. Russland hat Kampfjets geschickt, die die Stellungen der Rebellen verwüsteten.
Fall von Aleppo
Um das Jahr 2020 habe sich der Krieg in einer Pattsituation befunden, schreibt die NYT. Die syrische Wirtschaft sei am Boden, und ein Grossteil des Territoriums habe sich nicht mehr in den Händen von Assad befunden. «Dennoch blieb er an der Macht und arbeitete in letzter Zeit daran, seinen Status als internationaler Paria loszuwerden.»
Am 30. November eroberte eine Rebellenkoalition unter der Führung von Hayat Tahrir al-Sham, einer islamistischen Gruppe mit Wurzeln bei Al-Kaida, die nördliche Stadt Aleppo, ein wichtiges Wirtschaftszentrum. Assad eilte zurück nach Damaskus und stellte fest, dass sein Personal beunruhigt war, erinnerte sich der Palastinsider, obwohl niemand dachte, dass die Hauptstadt gefährdet sei.
Für Assad «ist es zu spät»
In Doha, der Hauptstadt Katars, hatten sich in der Zwischenzeit mehrere Machthaber der Region versammelt, «um einen Weg zu finden, eine weitere Eskalation der Situation in Syrien zu verhindern». Viele von ihnen hätten Assad gehasst, «sich aber damit abgefunden, dass er den Krieg überlebt hatte, und sie vertrauten nicht darauf, dass die Rebellen Syrien zusammenhalten könnten». So die New York Times.
Unter den versammelten Beamten aus fünf arabischen Ländern sowie der Türkei, Russland und Iran seien viele gewesen, die zu dem Schluss gekommen seien, «dass es für Assad zu spät sei», so drei anwesende Beamte aus verschiedenen Ländern.
Diplomaten aus einem halben Dutzend Länder hätten nach Wegen gesucht, den Diktator friedlich von der Macht zu vertreiben, um der Hauptstadt Damaskus eine blutige Schlacht zu ersparen. Dies bestätigten der Zeitung gegenüber vier regionale Beamte. Einer der Vorschläge sei gewesen, dass Assad die Macht seinem Militärchef abtrete.
Suche nach ausländischer Hilfe
In seinen letzten Tagen an der Macht habe Assad «vergeblich um ausländische Militärhilfe aus Russland, Iran und dem Irak» nachgesucht. Dies gehe aus geheimen Berichten hervor, die die New York Times einsehen konnte.
Assad sei sich bewusst gewesen, dass seine Armee durch die jahrelangen Kämpfe zermürbt worden war. So suchte er Hilfe bei den ausländischen Mächten, die ihm zuvor geholfen hatten.
Assad «schätzt die Situation nicht richtig ein»
Zwei Tage nach dem Fall von Aleppo sei der iranische Aussenminister Abbas Araghchi nach Damaskus gereist und habe berichtet, die Hauptstadt sei stabil. Fernsehkameras filmten Araghchi, wie er mit Familien auf der Strasse für Fotos posierte und mit seinem syrischen Amtskollegen in einem beliebten Schawarma-Restaurant ass. Gegenüber den iranischen Nachrichtenmedien versicherte er, dass Iran immer an der Seite von Assad stehen werde.
Araghchi sagte staatlichen Medien, dass Assad «verwirrt und wütend darüber sei, dass es seiner Armee nicht gelungen sei, Aleppo zu halten». Doch der syrische Präsident «schätzt die Situation nicht richtig ein», sagte Araghchi. Assad habe den Rückzug aus Aleppo als «taktischen Schachzug bezeichnet, um die Verteidigung von Damaskus zu verstärken».
Putin lässt ihn im Stich
Ein weiterer wichtiger Fürsprecher Assads war der russische Präsident Wladimir Putin. Russland unterhielt einen Militärstützpunkt in Nordsyrien und einen Marinestützpunkt an der Mittelmeerküste in Tartus. Während des Syrienkrieges 2015 kam Putin Assad militärisch zu Hilfe und überwältigte die Rebellen.
November 2024: «In den ersten Tagen des Vormarschs der Rebellen nach dem Fall von Aleppo spürte Assad eine plötzliche Abkühlung in seinen Beziehungen zu Putin», so der Palastinsider gegenüber der NYT. Ein türkischer Beamter sagte der Zeitung: «Der russische Staatschef nahm seine Anrufe nicht mehr entgegen.»
Iran zieht Personal ab
Nachdem die Rebellen Aleppo eingenommen hatten, zogen sie weiter nach Süden und nahmen die Assad-Hochburg Hama ein, was für das Regime ein weiterer Schock war. In Teheran, so zitiert die NYT vier iranische Beamte, hätten «die Militärkommandanten dem obersten Führer, Ajatollah Ali Khamenei, mitgeteilt, dass die Rebellen zu schnell vorrückten, als dass Iran ihnen helfen könne».
«Schockiert» habe Ajatollah Khamenei einen hochrangigen Berater, Ali Laridschani, auf eine geheime Reise nach Damaskus geschickt, um Assad zu sagen, er solle «Zeit gewinnen». Der syrische Präsident solle «politische Veränderungen und eine neue Regierung unter Einschluss der Opposition versprechen». Doch Iran habe im Stillen begonnen, sein diplomatisches und militärisches Personal aus Damaskus abzuziehen. In einem internen Vermerk der Revolutionsgarden, der der New York Times vorliegt, heisst es. «Die Menschen in Syrien und die Armee sind nicht bereit für einen weiteren Krieg. Es ist vorbei.»
Als Assad erkannte, dass ihn Russland nicht retten würde und Iran dazu nicht in der Lage sei, habe er ein Letztes versucht. Er habe, zitiert die New York Times drei regionale Beamte, seinen Aussenminister nach Bagdad entsandt. Dieser habe den Irak um militärische Unterstützung gebeten, doch die Spitzenpolitiker des Landes – der Premierminister, der Präsident und der Parlamentspräsident – hätten abgelehnt.
Flucht
Samstagabend, 7. Dezember: Nach Einbruch der Dunkelheit verliess der Präsident die Hauptstadt. Heimlich flog er zu einem russischen Militärstützpunkt in Nordsyrien und dann weiter mit einem russischen Jet nach Moskau. Dies bestätigen gegenüber der NYT sechs Regierungs- und Sicherheitsbeamte aus dem Nahen Osten.
Nach Angaben von zwei irakischen Beamten floh Maher al-Assad am Abend zusammen mit anderen hochrangigen Militärs durch die Wüste in den Irak. Sein derzeitiger Aufenthaltsort bleibt unbekannt.
«Das ist ein Verrat»
Der Palastinsider, mit dem die New York Times sprach, habe knapp vor dem Eintreffen der Rebellen entkommen können. «Er versteckte sich vor Syriens neuen Machthabern weit weg von Damaskus und kämpft immer noch damit, die plötzliche Flucht von Assad zu begreifen.» Zur Flucht des Präsidenten sagt er: «Das ist ein Verrat, den ich nicht glauben kann.»
Syrer, die Assad währen des jahrelangen Bürgerkriegs die Treue gehalten hätten, so die NYT, seien «wütend, dass er ohne ein Wort gegangen ist und sie ihrem Schicksal überlassen hat». Jahrelang hätten sie dem Diktatort die Stange halten, für ihn gekämpft, und jetzt sei er plötzlich weg.
«Möge Gott ihn verfluchen. Er hat uns verlassen!»
Assad habe sein Land so heimlich verlassen, «dass einige seiner Helfer noch Stunden nach seiner Abreise im Palast blieben und auf eine Rede warteten», so der Insider. Nach Mitternacht sei dann die Nachricht eingetroffen, dass der Präsident weg war, und «sie (Assads Mitarbeiter) flohen in Panik und liessen die Tore des Palastes für die Rebellen weit offen». Wenige Stunden später drangen die Aufständischen in eben diesen Palast ein.
Assad lebte mit seiner Frau und seinen drei Kindern in einer vierstöckigen modernen Villa, umgeben von Palmen und Springbrunnen, im gehobenen Damaszener Stadtteil al-Maliki. Das Leben in seiner Nähe sei ein Ärgernis gewesen, erzählten Anwohner. Soldaten blockierten den Zugang zur Strasse und verhörten Passanten und Besucher.
Am Sonntagmorgen, 8. Dezember, kurz vor Sonnenaufgang hörten die Anwohner Schreie von Assads Bewachern. «Leute, flieht, flieht! Sie kommen!», erinnerte sich ein Nachbar an die Schreie. «Möge Gott ihn verfluchen. Er hat uns verlassen!».
«Er hat uns ausgetrickst», sagte der Insider gegenüber der NYT. Frage: «Ist er bei seinem Volk noch beliebt?» – Antwort: «Nein. Ganz im Gegenteil. Er hat uns verraten.»
(Übersetzung Journal 21)