Nachdem Anfang der 1970er Jahre der katholische Moraltheologe Stephan Pfürtner die theologische Fakultät in Freiburg i.Ue. mit seinen Auffassungen über Sexualmoral in Unruhe versetzt hatte, wählte man mit dem jungen Theologen Diemar Mieth erstmals einen Laien als neuen Lehrstuhlinhaber. Sieben Jahre später wurde er für Theologische Ethik/Sozialethik an die Universität Tübingen berufen und war dort Mitbegründer des Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften. Nach seiner Emeritierung wandte sich Mieth der Mystik des Meister Eckhart zu.
Wer die gut 400 Seiten seines Buches «Jede Wende – ein Anfang» mit anspruchsvollen Gedankengängen über das Tun des Menschen durchackert, mag sich gelegentlich nach der einfachen Sprache der zehn biblischen Grundgebote sehnen. Nur eben, als Moses vom Berg runterstieg und dem Volk Israel die legendären Steintafeln mit dem Dekalog überbrachte, war er noch nicht mit der sog. «Künstlichen Intelligenz» konfrontiert, die Befruchtung im Reagenzglas lag ausserhalb seines Vorstellungshorizontes, und dass die Menschheit durch die technische Ausbeutung ihres Planeten in den Abgrund stürzen könnte, war wohl die apokalyptische Angst vor der Strafe eines furchterregenden Gottes, niemals jedoch ein potentielles Faktum wissenschaftlicher Weltphysik.
Kein Ethiker kommt heute um diese und tausend weitere Fragen herum. Damit befindet er sich freilich mitten in brandaktuellen Diskursen der Gegenwart und ist gehalten, sich mit Fachwissen und Unterscheidungsvermögen auszuweisen, um auf Augenhöhe mitdebattieren zu können. Je weiter draussen der Mensch die Pflöcke seines Handelns einschlägt, desto weitsichtiger müssen die Zeichen der Zeit erkannt und desto intensiver die Felder menschlichen Tuns reflektiert werden. Blosse Berufung auf Tradition und kirchliche Dogmatik hilft nicht weiter, und dass man sich anlehnt an identitäre Gruppen und autoritäre Strukturen heutiger Art, verspricht ebenso wenig Nutzen. Kaum vorstellbar, wie grundlegend sich die Verhältnisse in einem Menschenalter verändert haben, muss doch Dietmar Mieth gestehen: «In meinem Philosophiestudium (1959–1967) war Ethik ein sträflich vernachlässigtes Fach, in meinem Theologiestudium war es enthalten, aber oft ein scholastischer Langweiler» (208).
In welche Richtung Dietmar Mieths Reflexionen gehen, sei anhand von drei Problemstellungen erläutert.
«Künstliche Intelligenz» – wer ist ihr Subjekt?
Die Computer-gestützte Rationalität namens «KI» hat nach Mieth ihre Wurzeln nicht erst in der technischen Revolution der Neuzeit. «Die Vorstellung von technisch an der Welt handelnden Menschen ist durch die Vorstellung mitgetragen, die sich das Christentum von der Schöpfung gemacht hatte.» In der Neuzeit wurde die Technik dann gleichsam zur «Basis einer Mentalität». Das Bewusstsein ist heute beherrscht von Machbarkeit, Herstellbarkeit, Verwertbarkeit, Reproduzierbarkeit und Vermarktbarkeit. Mieth macht aber entschieden klar, dass Grenzerfahrungen mit technologischen Entwicklungen nicht «zu einer fundamentalen Ablehnung der technischen Lebenswelt» führen dürfen (109f.).
Dietmar Mieth kommt aufgrund zahlreicher naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Wissenschaftler und auch Literatinnen zu wichtigen Schlussfolgerungen: «KI kann nicht begründen, wie sie zur Entscheidung kommt. …Maschinen sind nicht in dem Sinne intelligent, wie es Menschen sind. … KI kann keine eigenständige Zielsetzung verfolgen» (111). «Die persönliche, emotionale Prägung durch Erfahrungen … kann KI weder ersetzen noch erzeugen» (113). «Lernen zu erleichtern ist mit technischen Hilfsmitteln möglich – Bildung dagegen ist mehr, und sie ist mit der besonderen Würde jeder Person verbunden (116). «Das Geheimnis der Freiheit ist die Unauslotbarkeit der vorgegebenen Unfreiheiten, die Selbstentzogenheit des Menschen als Programm» (123). «Man stelle sich einmal vor, ein Mensch würde die Frage, ob er hinreissend von Liebe erfasst ist, in Rechenvorgänge auflösen» (124).
Werturteile etwa bei juristischen Entscheiden müssen jedoch abgewogen und begründet werden, Urteile können also human und sozial verantwortlich nicht an Maschinen delegiert werden. Auch millionenfache quantitative Zerlegungen schaffen den Sprung zur Qualität nicht. Religion, Kunst und Moral sind als Ganzes nicht digitalisierbar. Gefühle, Philosophie und Leben können nicht in eine simulierte Welt überführt werden. Kurz: Hinter dem Ich, das Chat-GPT auszusprechen gelernt hat, steckt kein Subjekt, das ethisch zur Verantwortung gezogen werden könnte.
Doch Transformationen des modernen Bewusstseins rufen nicht nur nach Differenzierungen in der Wahrnehmung von Verantwortung. Sie bedingen auch eine Besinnung auf den Ort der Ethik in der Theologie. Mieth versucht Klärungen herbeizuführen durch Bezüge auf die Politische Theologie von Johann Baptist Metz und auf die Mystik von Meister Eckhart.
Wer hat eine Antwort auf Erfahrungen des Bösen?
Für das Leid des Menschen hat die Theologie so wenig eine Antwort wie die Philosophie. Die Anhäufung uneindeutiger Antworten auf eine eindeutige Frage bringt nichts (Ockham). Unglück wird gegengerechnet, Opfer werden vergessen. Dass dies nur schief gehen kann, bezeugt schon Hiob in der Bibel und Auschwitz in unserer Zeit. «Nicht nur in der Leidensgeschichte Israels, sondern auch in der Christentumsgeschichte verstummt der Schrei der Leidenden nicht. … Jesus war nicht Sünden-, sondern Leid-empfindlich». Die Christentumsgeschichte ist diesem Zeugnis des Neuen Testamentes nicht gefolgt, insofern sie in erster Linie Sünden bekämpft und Vergeltung bzw. Vergebung von Schuld zum wichtigsten Bekenntnis gemacht hat. «Damit wurde der christliche Ursprung bei Jesus ‘paralysiert'» (330).
Theologie ist nach Metz eine Wissenschaft der Brüche, nicht eine Festung ausweichender Antworten. Sie braucht die «Sprache des Zweifels» und die «Erfahrung der Negativität», statt einer Sprache der Affirmationen, die verdächtigt und anklagt. Theologen haben kein geoffenbartes Wissen über alles. Ihre Antworten sind Stückwerk. «Das eigentliche Abenteuer des Christentums sind die offenen Ohren und Augen für das Leid, die in eine unausweichliche Praxis führen» (331). Vor diesem Erfahrungshorizont fordert Metz eine Theologie nach Auschwitz, die nur eine «Politische Theologie» sein könne. Denn Aggressionen, Gewalt und Krieg sind gesellschaftliche Faktoren, die fortdauernd neues Leid erzeugen, und die Bekämpfung seiner Ursachen kommt an der Politik nicht vorbei, auch wenn es gewiss persönliches Leid jenseits der Politik gibt. «Alles ist politisch, aber Politik ist nicht alles» (Edward Schillebeeckx). Von der Kirche verlangt Metz eine «Transformation ihres institutionellen Verhaltens». Sein Schlüsselwort für die Ethik heisst Compassion – Mitleiden.
Man kann nicht behaupten, dass die radikalen Anfragen von Johann Baptist Metz – er ist vor fünf Jahren gestorben – ernsthaft aufgegriffen worden wären. Sie betreffen die Kirchen der Reformation nicht weniger als die katholische. Interreligiös gerät das Christentum mit diesem Ansatz in eine unerwartete Nähe zum Buddhismus. Eine Ethik, die daraus die Konsequenzen für ihre Disziplin zieht, steht freilich noch ganz am Anfang. Zu weit reichen die erforderlichen Transformationen.
Mystik und Ethik – oder Demokratie von innen
Dass die moderne Ethik Anleihen macht bei der mittelalterlichen Mystik eines Meister Eckhart, sprengt die üblichen Erwartungen. Mystik bindet Eckhart freilich nicht an religiöse Sondererlebnisse, sondern an «die Faszination, die mit dem Mysterium Gott – Mensch zusammenhängt und die eine Leidenschaft des Denkens, des neuen Werdens und des neuen Handelns hervorbringt» (92).
Eine Leidenschaft des Gott-Denkens kann Eckhart sogar im Gotteslästerer erkennen: «Wer Gott lästert, lobt Gott». Diesen Satz hat ein kirchliches Inquisitionsgericht und später eine päpstliche Bulle als häretisch verurteilt. Nachdem jedoch die Anklage Gottes schon in der Bibel Vorbilder kennt, ist eher zu vermuten, dass die Klerikerkommission in Avignon «die zündende Kraft dieser ‘Demokratisierung von innen’ als gefährlich einschätzte» (88).
Der Sprengsatz von Eckharts Lebenslehre bestand darin, «dass er die Möglichkeit einer vernünftigen Selbstvergewisserung jedes einzelnen Menschen, gestärkt von den Glaubensmotiven, so hoch ansetzte, dass er dabei den Glauben vollständig in eine philosophische Übersetzung zwang». Damit hat er ein in der Scholastik übliches Programm radikalisiert: «Es ist ein Zeichen von Stolz und Verwegenheit, nicht glauben zu wollen, wenn man nicht vorher mit dem Verstand es einsieht; aber ebenso ist es ein Zeichen von Feigheit und Nachlässigkeit, wenn man das, was man glaubt, nicht mit Überlegungen der natürlichen Vernunft und mit Gleichnissen erforschen wollte» (95).
Diese «Demokratisierung von innen», gewissermassen eine «Demokratisierung Gottes», war von nun an nicht mehr aus den spirituellen Köpfen und frommen Herzen zu tilgen. Die mittelalterliche Frauenbewegung der Beginen zeugt davon. Ihre Bestseller-Autorin Marguerite Porete hat es in ihrem Büchlein «Der Spiegel der einfachen Seelen» zum Ausdruck gebracht, es wurde aus dem altfranzösischen Original ins Lateinische, Italienische und Englische übersetzt. Porete wurde jedoch als Ketzerin verurteilt und erlitt ein Schicksal, das Eckhart erspart blieb: Sie wurde 1310 in Paris hingerichtet (vgl. Dietmar Mieth: Ketzerflammen in Paris. Marguerite Porete, Meister Eckhart und die Intrigen der Inquisition. Hannover 22024).
Die Demokratisierung der Zugänge zur Wahrheit und die Befreiung von Konventionen zeigen, dass «von innen» zugleich ein «von unten» ist. «Alle, jeder Mann und jede Frau, sind aufgrund ihres Menschseins fähig, die Wahrheit zu verstehen und ihr in ihrem Leben zu gleichen. Aufgrund ihres Menschseins deswegen, weil Gott Mensch geworden ist. Dies bedeutet eine Aufwertung des ganzen Menschengeschlechtes. Denn ‘Mensch’ bedeutet christlich insofern eine objektive Gottesbeziehung, als jedem der Zugang zu Gott offensteht, auch wenn er ihn nicht erkennt und anerkennt.» Den damit zum Ausdruck gebrachten ‘Adel’ des menschlichen Wesens deutet Mieth als «Vorbegriff der heutigen Menschenwürde» (86).
Die Weihnachtsgeschichte macht somit Gott im Menschen inwendig. Gott nimmt Platz in des Menschen «Seelenspitze». «Gott ist mir innerlicher als ich mir selbst bin», formuliert Augustinus. Eine Transformation der theologischen Ethik müsste ausbuchstabieren, welche Bedeutung der so verstandene Weihnachtsglaube für das Tun des Menschen hat – jenseits aller Verbots- und Angstmoral.
Wenden und Neuanfänge
So wie in den dargestellten drei Verstehens- und Handlungsbereichen eröffnet eine theologische Ethik in vielen anderen Lebensfeldern Wenden und Neuanfänge. Wie kann der barmherzige Samariter zum Motor der Gerechtigkeit werden statt nur zum nachgeschobenen Gepäckwagen der Caritas? Welche Reform in der Kirche ist von einer autonomen Ethik abzuleiten? Hat die Ethik eine Antwort auf die Narrative, die viele Demokratien in einen Lügensumpf schlittern lassen? Welche spirituelle und politische Kraft liegt in der Selbstauslieferung eines Alexei Anatoljewitsch Nawalny? Gibt es einen Ausweg aus dem Wirtschaftsmodell, in dem «überflüssige Güter das Leben überflüssig machen» (Dorothee Sölle)? Wie kommen wir von ethischen Axiomen für das Individuum zu ethischen Modellen von Haltungsbildern für eine Kulturethik? Kann die Menschheit jene «ökologische Umkehr» schaffen, die Papst Franziskus fordert? Darf ein Pferd als Sportgerät benutzt werden? Und nicht zuletzt: Kann gutes Leben im Sterben gelingen? Schliesslich eine Anfrage des Rezensenten in Anbetracht der globalisierten Welt: Welche Ethik gilt für Menschen, die nicht mit den sozialstaatlichen Privilegien des Westens ausgestattet sind?
Angesichts des fast völligen Fehlens der Sexualethik im Band von Dietmar Mieth könnte man zur Vermutung kommen, dass er nach der Affäre Pfürtner in Freiburg i.Ue. diesbezüglich Abstinenz geloben musste, um den Lehrstuhl für theologische Ethik zu bekommen. Sollte es so sein, kann man nur beifügen: Die Ausweitung seiner ethischen Reflexionen auf so viele sonst sträflich vernachlässigte Felder hat sich gelohnt.
Dietmar Mieth: Jede Wende – ein Anfang. Eine theologisch-ethische Analyse gegenwärtiger Transformationen. Edition Exodus, Luzern 2024