Im Schatten des Umsturzes in Syrien geht Israels Krieg in Gaza auch in der Weihnachtszeit unerbittlich und ungesehen weiter. Der UNRWA zufolge, die sich auf Zahlen der UNICEF beruft, stirbt im Küstenstreifen jede Stunde ein Kind. Derweil setzt sich die israelische Armee im Norden Gazas fest.
«Jede Stunde wird ein Kind getötet», heisst es im jüngst Post der Uno-Agentur für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) auf X (früher Twitter): «Das sind keine Zahlen. Das sind Leben, die vorzeitig beendet werden. Das Töten von Kindern ist nicht zu rechtfertigen. Jene, die überleben, leiden unter physischen und emotionalen Wunden.»
Ihrer Ausbildung beraubt, würden Knaben und Mädchen in Gaza die Trümmer durchwühlen, schreibt die Organisation: «Die Uhr tickt für diese Kinder. Sie verlieren ihre Leben, ihre Zukunft und am meisten ihre Hoffnung.»
Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die israelische Armee (IDF) in Gaza gemäss jüngsten Angaben des lokalen Gesundheitsministeriums 45’338 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, unter ihnen 14’500 Kinder. 107’764 Personen sind verwundet worden. Gemäss Israel, wo die Hamas an jenem Oktobertag 1’200 Menschen ermordet und 251 Geiseln genommen hat, befinden sich unter den Toten in Gaza rund 17’000 Kämpfer der Hamas. Die IDF derweil haben seit Kriegsbeginn mehr als 380 Soldaten verloren.
Eigenen Angaben zufolge greifen die IDF keine Zivilisten, sondern allein und präzis palästinensische Kämpfer an, die sich unter Zivilisten verstecken. Solche Angriffe, heisst es, erfolgten im Einklang mit dem Völkerrecht, einschliesslich des Ergreifens von Massnahmen, um unbeteiligten Zivilisten nicht zu schaden. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig verifizieren – nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil Israel ausländischen Medienschaffenden den Zugang zu Gaza verwehrt oder höchstens unter Aufsicht der Armee begrenzt erlaubt.
Eine zehnköpfige Familie getötet
Laut den Behörden in Gaza, deren Informationen sich extern ebenfalls nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen lassen, sind am Montag in Gaza innert 24 Stunden 58 Menschen gestorben, unter anderem bei einem Angriff auf ein Zeltlager im Distrikt al-Mawasi, einer von Israel als humanitär deklarierten Zone. Diese Attacke tötete gemäss Angaben von Ärzten des Nasser-Spitals acht Menschen, unter ihnen zwei Kinder.
Derweil hat ein israelischer Luftangriff in Jabalia al-Nazla im Norden Gazas am Freitag letzter Woche eine zehnköpfige Familie, unter ihnen sieben Kinder, ausgelöscht und 15 Menschen verwundet. «Es gibt zehn Märtyrer … alle Opfer eines Luftangriffs auf ihr Heim in Jabalia. Alle Märtyrer kommen aus derselben Familie, einschliesslich sieben Kinder, das älteste unter ihnen sechsjährig», zitiert die Nachrichtenagentur AFP einen Sprecher der Lokalbehörde. Die IDF indes liessen gegenüber der Agentur verlauten, sie hätten mehrere Terroristen getroffen, die innerhalb einer militärischen Struktur der Terrororganisation Hamas operiert und für die Truppen der IDF eine Gefahr dargestellt hätten.
Intensive Kämpfe in Nord-Gaza
Die israelische Armee hat seit Anfang Oktober ihre Angriffe im Norden Gazas intensiviert mit dem Ziel, ein Erstarken der Hamas zu verhindern. Dagegen sagen Kritiker, Israel versuche die palästinensische Bevölkerung aus der Region zu vertreiben, und sie sprechen von ethnischer Säuberung. Zumindest zeigen eine visuelle Analyse der «Washington Post» sowie Interviews mit Betroffenen, dass die IDF in den Wohngebieten Nord-Gazas massive Zerstörungen hinterlassen und militärische Befestigungen bauen – Massnahmen, die seit dem 5. Oktober 2024 Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser in die Flucht getrieben haben.
Am 29. Oktober zerstörte ein israelischer Luftangriff in Beit Lahia das fünfstöckige Gebäude des Abu Nasr Clans, wo in zehn Wohnungen jeweils drei vertriebene Familien Zuflucht gesucht hatten. Narmeen Abu Nasr und ihr Mann überlebten mit ihren drei Kindern im Parterre des Hauses, aber mehr als 125 Mitglieder der Grossfamilie, einschliesslich zwei Dutzend Kinder, wurden der «Washington Post» zufolge getötet. Die Frau, die ihren Familienangehörigen zu Hilfe eilen wollte, fand «Geliebte und Verwandte zerrissen und zerfetzt».
Tausende von Gebäuden zerstört
Die IDF teilten tags darauf mit, sie hätten auf dem Dach des Gebäudes einen Spotter mit Feldstechern ins Visier genommen. Wochen später hiess es, der Angriff in Beit Lahia sei einer von 16 Vorfällen mit massiven Verlusten, die aufgrund eines «Verdachts einer Verletzung des Rechts» intern näher untersucht würden. Heute kümmert sich Narmeen Abu Nasr, die mit ihrer Familie aus Beit Lahia geflohen ist, um zehn verletzte Kinder.
In Gebieten, welche die Einheimischen verliessen, haben israelische Truppen ganze Quartiere dem Erdboden gleichgemacht, Militäranlagen und neue Strassen gebaut. Satellitenaufnahmen zeigen, dass zwischen dem 14. Oktober und dem 15. Dezember fast die Hälfte des Flüchtlingslager Jabayla zerstört oder geräumt worden ist.
Gemäss Satellitenaufnahmen der Uno sind in Jabalia seit Kriegsbeginn 5’340 Gebäude zerstört worden, Auch ist, flankiert von militärischen Aussenposten, im Norden Gazas ein Strassenkorridor vom Mittelmeer bis zum israelischen Grenzzaun etabliert worden, der den IDF zufolge aber nicht Ausdruck einer längerfristigen Politik, sondern lediglich ein «logistischer Kanal» ist.
Die IDF dementieren wiederholt
Israels Armee äussert sich nicht näher zu ihren Aktivitäten. Sie wiederholt lediglich, sie greife allein militärische Ziele an und treffe dabei alle möglichen Massnahmen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung gering zu halten, einschliesslich der Aufforderung, Gebiete zu verlassen, in denen heftig gekämpft wird. Ein Sprecher der IDF dementierte gegenüber der «Washington Post» ausdrücklich, dass ihre Militäroperationen dazu dienten, den Norden Gazas zu isolieren oder Palästinenserinnen und Palästinenser zu vertreiben.
Der Uno zufolge lebt weniger als ein Achtel der Vorkriegsbevölkerung – 30’000 bis 50’000 Menschen – noch im Norden Gazas. Ausserdem berichten Hilfsorganisationen, dass aufgrund israelischer Einschränkungen kaum mehr humanitäre Hilfe das Gebiet erreicht. Experten warnen, dass an einigen Orten unter Umständen bereits Hungersnot herrscht. In einem 184-seitigen Bericht ist die NGO «Human Rights Watch» vergangene Woche zum Schluss gekommen, die Einschränkung der Wasserversorgung Gazas unter das überlebensnotwendige Minimum komme einem Akt des Völkermords gleich.
Anfang Dezember war Amnesty International (AI) zum selben Schluss gelangt, da Israel gegenüber einer Bevölkerung von 2,3 Millionen «unverfroren, andauernd und völlig ungestraft … die Hölle entfesselt» habe. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Vorwürfe des Völkermords oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als «falsch und unerhört» zurückgewiesen.
Spitalevakuation befohlen?
Israel hat ferner befohlen, das Kamal-Adwan-Spital zu evakuieren, das eines der letzten noch funktionierenden Spitäler im Norden Gazas ist. Spitalchef Hussam Abu Safiya zufolge ist es jedoch «fast unmöglich», dem Befehl Folge zu leisten, weil es an Krankenwagen mangelt, um Hospitalisierte zu verlegen: «Wir haben derzeit an die 400 Patientinnen und Patienten, einschliesslich Säuglingen in der Abteilung für Neugeborene, deren Leben von Sauerstoff und Inkubatoren abhängen.»
Betroffene ohne Hilfe, Geräte und genügend Zeit zu evakuieren, so Abu Safiya, funktioniere nicht: «Wir senden diese Botschaft unter heftigen Bombenangriffen und dem ins Visiernehmen von Brennstofftanks, die, falls sie getroffen werden, eine grosse Explosion auslösen und unter den Zivilisten ein Massensterben bewirken.» Die IDF verneinen, für das Wochenende einen Evakuationsbefehl ausgesprochen zu haben.
«Absolutes Chaos herrscht»
Anfang Dezember hatte Israels früherer Verteidigungsminister Mosh Ya’alon in einer Reihe von Interviews mitgeteilt, die IDF würden den Norden Gazas «ethnisch säubern»: «Beit Lahia gibt es nicht mehr, Beit Hanoun gibt es nicht mehr, und nun arbeiten sie sich an Jabalia ab.» Was die IDF wiederum dementierten mit dem Hinweis, sie würden im Norden Gazas im Einklang mit dem Völkerecht operieren.
Laut einem Vertreter der britischen Hilfsorganisation Oxfam haben die IDF in den vergangenen zehn Wochen lediglich zwölf von 34 Lastwagen erlaubt, Gazas Bevölkerung mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen: «Nach 14 Monaten unerbittlicher Bombenangriffe und des Aushungerns einer ganzen Bevölkerung beginnen einige Leute aus Verzweiflung zu handeln und es herrscht derzeit in Gaza absolutes Chaos.»
Organisierte Kriminalität nimmt zu
Internationale Hilfsorganisationen berichten denn, dass kriminelle Gangs vermehrt dazu übergehen, Hilfslieferungen überfallen. So wurde am 17. November ein Lastwagenkonvoi ausgeraubt, der genügend Mehl transportierte, um eine Woche lang für zwei Drittel der Bevölkerung des Küstenstreifen Brot zu backen. Ein palästinensischer Offizieller nannte den Überfall «organisierte Kriminalität grossen Ausmasses». Schätzungen zufolge wird heute mindestens ein Drittel aller Hilfslieferungen für Gaza gestohlen – häufig in Sichtweite der Drohnen der IDF, die aber nichts dagegen unternehmen.
Derweil ähneln die Zerstörung, die Vertreibung und die Verweigerung von Hilfe im Norden Gazas dem «General’s Plan», einem Vorschlag, den ein früherer Kommandant der IDF der Regierung in Jerusalem unterbreitet hat. Der Plan empfiehlt, den Norden des Küstenstreifens zu kontrollieren, indem man die Zivilbevölkerung aushungert und alle Menschen, die bleiben, als Kämpfer einstuft. Nachdem die USA Bedenken geäussert hatten, versicherten Verteidigungsminister Israel Katz und Strategieminister Ron Dermer der Regierung Biden in einem Brief, Berichte, wonach der Plan umgesetzt werde, seien «völlig falsch».
Dagegen sagte der rechtsextreme Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir dem israelischen Armeeradio Anfang Dezember, er befürworte die Besetzung von Gebieten in Gaza, die freiwillige Einwanderung von Palästinensern und den erneuten Bau jüdischer Siedlungen: «Ich überlege mir ernsthaft, meine Familie in den Gaza-Streifen umzusiedeln.»
Waffenstillstand in Sicht?
Derweil sind Anfang Woche auf beiden Seiten vermehrt Stimmen laut geworden, die von einem baldigen Waffenstillstand in Gaza sprechen. «Die Möglichkeit, ein Abkommen zu erreichen, ist grösser, als sie es je war, vorausgesetzt, der Feind hört auf, neue Bedingungen zu stellen», heisst es in einem seltenen gemeinsamen Statement der Hamas, des Islamic Jihad und der linken PFLP aus Kairo. Auch Israels Premier Benjamin Netanjahu hat am Montag gemutmasst, ein Abkommen, das die Rückkehr der israelischen Geiseln beinhalte, zeichne sich ab: «Wir können nicht alles verraten, was wir tun. Wir machen Schritte, um sie (die Geiseln) zurückzubringen. Gern sage ich vorsichtig, dass es Fortschritte gegeben hat und wir nicht aufhören werden, alles zu tun, bis wir sie alle heimholen.»