„Eigentlich mögen wir uns ja, es gibt sogar eine Art Zärtlichkeit zwischen uns, selbst gegenüber den Flamen, auch wenn sie eine etwas merkwürdige Sprache sprechen“, schrieb der Leitartikler der grossen Sportzeitung „L'Equipe“ dieser Tage zur Einstimmung auf dieses Halbfinale, in dem so mancher ein vorgezogenes Finale sieht bei dieser WM, wo erstmals weder Brasilien noch Argentinien, Deutschland oder Italien unter den letzten Vieren sind, dafür ausschliesslich Europäer unter sich. Für Frankreich ist es bereits das fünfte Halbfinale bei einer WM, für Belgien das zweite – 32 Jahre nach 1986, als man gegen Maradonas Argentinien mit 2:0 verlor.
Alte Bekannte
Es ist bereits die 74. Begegnung zwischen den beiden Nationalmannschaften in 114 Jahren. Gegen kein anderes Team ist die Equipe Tricolore so häufig angetreten wie gegen die Roten Teufel aus Belgien – eine Bezeichnung, die die Nationalelf des nördlichen Nachbarn übrigens bereits 1911 nach einem deutlichen Sieg gegen Frankreich bekam. Auch am 24.12.1944, im ersten Spiel der französischen Nationalmannschaft nach der Befreiung von Paris, hiess der Gegner wie selbstverständlich Belgien. Es war ein Benefizspiel für Kriegsgeschädigte.
Rein statistisch liegt die jetzt in Russland begeisternd aufspielende Truppe in roten Trikots in den bisherigen 73 Begegnung mit 30:24 Siegen vorne, 19 Mal trennte man sich unentschieden. Und auch im letzten Aufeinandertreffen Ende 2015 unterlagen die Blauen zu Hause im Frankreichstadion zu Saint-Denis ihren Nachbarn mit 3:4. Was den angeblichen Marktwert der beiden Mannschaften angeht, liegt allerdings Frankreich vorne: da spielen heute Abend in Sankt Petersburg 1,4 Milliarden Euro gegen „nur“ 920 Millionen.
Man kennt sich
Es wird eine Begegnung, bei der sich viele der 22 Akteure so gut kennen, wie das bei praktisch keinem anderen Länderspiel der Fall sein kann. Die Zusammensetzung der beiden Nationalmannschaften ist ein Paradebeispiel für die Globalisierung des Fussballs. Entweder spielen Belgier und Franzosen im selben ausländischen Verein, zumindest aber in derselben Liga oder man begegnet sich seit Jahren in den europäischen Wettbewerben. Von den 22 Akteuren, die in Sankt Petersburg auflaufen, spielen 21 nicht im eigenen Land, nur Frankreichs neues Sturmwunder, Kylian Mbappé, verdient sein Geld in Frankreich bei Paris Saint-Germain. Dort spielt aber auch der geniale Rechtsverteidiger der belgischen Nationalmannschaft, Thomas Meunier, der heute Abend allerdings gelb gesperrt ist.
Rund 15 belgische und französische Profis dieses Halbfinales stehen in der englischen 1. Liga unter Vertrag: bei Manchester City, Manchester United, FC Chelsea und Tottenham. Und auch der FC Barcelona beschäftigt mit Vermaeren auf der einen und Umtiti auf der anderen Seite einen Belgier und einen Franzosen.
Lehre in Frankreich
Der Mannschaftkapitän der Roten Teufel, Eden Hazard, dieser hoch ästhetische Dribbelkünstler, eine Art belgischer Neymar, ist nur 50 Kilometer von der französischen Grenze entfernt aufgewachsen und genoss seine Profiausbildung bei OSC Lille, der Mannschaft, die letztes Jahr abstiegsbedroht war, mit Hazard – bevor er zu FC Chelsea wechselte – aber 2011 noch französischer Meister geworden war. Diese Erfahrung der Ausbildung beim nordfranzösischen Proficlub in Lille, wenn auch nicht zeitgleich, teilt Hazard im Übrigen mit dem erst 22 jährigen Rechtsverteidiger der französischen Nationalmannschaft, Benjamin Pavard .
Und Eden Hazards Bruder – Thibault – ebenfalls im Aufgebot der belgischen Nationalmannschaft und in der deutschen Bundesliga bei Mönchengladbach unter Vertrag – er lernte sein Geschäft beim legendären nordfranzösischen Verein, dem ehemaligen Club der Bergarbeiter und Stahlgiesser, dem FC Lens.
Der Spion
Sozusagen das Sahnehäubchen bei diesem Halbfinale ist die Tatsache, dass an der Seite des katalanischen Trainers der Belgier, der mit seinen Spielern auf englisch kommuniziert, ein Co-Trainer auf der Bank sitzen wird, der 1998 mit dem jetzigen Coach der Equipe Tricolore, Didier Deschamps, als Jungspund in der damaligen Weltmeisterschaftsmannschaft stand: der lange, etwas schlacksige Thierry Henry, mit 51 Toren Rekordschütze für die Equipe Tricolore, bevor er nach der WM 2010 seine internationale Karriere beendete. Seit 2016 berät der heute 41-Jährige nun Belgiens Nationalmannschaft und dort besonders die Stürmer. Experten sind der Meinung, dass Henrys Tätigkeit durchaus mitverantwortlich ist für das fulminante Auftreten der Roten Teufel in Russland.
In Frankreich hat das in den letzten Tagen für einige chauvinistische Sticheleien, ja Ausrutscher gesorgt. Aus der französischen Nationalmannschaft hiess es, man werde Henry schon zeigen, dass er die falsche Entscheidung getroffen habe. Andere fragten sich, welche Nationalhymne er heute Abend kurz vor 20 Uhr wohl anstimmen wird. Und der Kommentator eines Info-TVs verstieg sich sogar dazu, Henry als Verräter zu bezeichnen, und legte ihm nahe, heute nicht auf der Bank Platz zu nehmen, schliesslich sei er doch in erster Linie Franzose.
Schluss mit Überheblichkeit?
Man spürt in Frankreich dieser Tage und besonders nach Belgiens phänomenalem Viertelfinalsieg gegen Brasilien einen enormen Respekt vor den Roten Teufeln, fast könnte man auch sagen so etwas wie Angst oder eine Art Unwohlsein in der Bauchgegend. Von der generellen Überheblichkeit, die den Belgiern bei den Franzosen seit jeher auf die Nerven geht, ist vor dem Anpfiff heute Abend südlich der belgisch-französischen Grenze kaum etwas zu verspüren. Höchstens dass man zur Beruhigung und um sich Mut zu machen wieder öfter die unzähligen Belgierwitze herauskramt, in denen die Franzosen die Menschen in ihrem nördlichen Nachbarland als eine Ansammlung von Dummerchen darstellen, die schwerfällig bis halb debil sind.
Die meisten Menschen in Frankreich sind sich im Klaren, dass ihr Nationalteam heute Abend gewiss nicht der Favorit ist. Auch wenn der Sturm beider Mannschaften jeweils extrem schnell und technisch hoch versiert ist, ihre Abwehren ähnlich stabil sind und hinten auf jeder Seite ein Weltklassetorhüter im Gehäuse steht – Belgien hat einen Vorteil: Diese Nationalmannschaft, die schon seit 2012 bei Europa- und Weltmeisterschaften mit mehr oder weniger denselben Spielern um die beiden Genies Kevin de Bruyn und Eden Hazard und den wuchtigen Mittelstürmer Lukaku stets als Geheimfavorit galt, sie ist mit Sicherheit besser eingespielt als die Equipe Tricolore, die sich in ihrer jetzigen Formation erst im Lauf des letzten Jahres zusammengefunden hat.