Da ist der Eindruck, dass es bei dieser WM – vielleicht mit Ausnahme von Saudi -Arabien – praktisch keine so genannten kleinen Mannschaften mehr gibt. Was taten sich die Favoriten in diesem ersten Durchgang schwer. Mit Ausnahme der Auftritte von Spanien und Portugal bei dem bisher besten Spiel dieser WM und dem 3:0 von Belgien gegen Panama kamen sie alle gewaltig ins Straucheln gegen die als deutlich schwächer eingeschätzten Teams. Denn diese haben ganz offensichtlich inzwischen durchaus auch gelernt, sehr kompakt zu verteidigen und die Räume eng zu machen. Die Konsequenz daraus: Extrem viele Tore fielen bislang aus Standardsituationen heraus – Elfmeter, Freistoss und Eckball – so zum Beispiel die drei Tore beim 1:2 von Kolumbien gegen Japan.
Frankreich
Als Erste traf das Grosswerden der so genannten Kleinen die Franzosen, die sich an der Mauer der sich vehement verteidigenden Australier regelrecht festbissen, ihre viel gerühmte Schnelligkeit im Sturm fast nie ausspielen konnten, hilflos wirkten und ihre enormen technischen Fähigkeiten kaum zum Einsatz bringen konnten. Ihren knappen 2:1-Sieg verdanken sie unter anderem der Technologie. Ohne Videobeweis hätten sie keinen Elfmeter bekommen und ohne Torlinienkamera wäre vielleicht der Siegtreffer, bei dem der Ball wieder ins Feld zurücksprang, nicht anerkannt worden. Zudem war es für Frankreich ein ausgesprochen glückliches Tor, das nur durch Beihilfe eines australischen Verteidigers zustande kam.
Argentinien
Es folgte Argentinien, Weltmeister von 1978, sowie mehrmaliger Finalteilnehmer. Jetzt die Hilflosigkeit der Mannschaft, die ihr gesamtes Spiel auf Superstar Messi zugeschnitten hatte. Gegen athletische Isländer und ihr Bollwerk in der Abwehr sollten die Südamerikaner über ein 1:1 nicht hinauskommen. Es reichte den Nordländern, einem immer entnervteren Messi zwei, manchmal sogar drei Spieler entgegenzustellen, damit Argentiniens ruhmreiche Elf kaum etwas zustande brachte. Den rundlichen Altstar und ehemaligen Fussballgott Maradona mit den Diamanten an den Ohren brachte das derartig in Rage, dass er trotz Rauchverbots eine Havannah nach der anderen konsumieren musste und 90 Minuten lang wild gestikulierend auf der Ehrentribüne zu sehen war.
Der Weltmeister
Und Deutschland, der Weltmeister? Pomadig und blutleer kam die Mannschaft daher, vor allem das defensive Mittelfeld schien das Laufen verlernt zu haben, liess gigantische Lücken frei, in die die absolut hungrigen und wieselflinken Mexikaner immer wieder vorstossen konnten, mit mehr als einem halben Dutzend torreifen Kontern, während Deutschlands Balltreter so taten, als gäbe es bei diesem Spiel im Moskauer Stadion, das die mexikanischen Fans in ein zweites Atzteken-Stadion verwandelt hatten, nur etwas zu verwalten. Dementsprechend verloren sie gegen die Tricolore-Elf aus Mexiko tatsächlich zwei Drittel aller Zweikämpfe. Die 0:1-Niederlage war für den amtierenden Weltmeister am Ende sogar noch schmeichelhaft.
Es war, als wäre mit diesem Spiel gegen Mexiko eine Ära der deutschen Nationalmannschaft zu Ende gegangen, in der noch 8 Weltmeister von 2014 aufgestellt waren. Allzu deutlich wurde sichtbar, dass diese Herren inzwischen 4 Jahre älter geworden sind. Von Spritzigkeit, Spielwitz , Passgenauigkeit und perfekter Raumaufteilung, die die Weltmeistermannschaft 2014 ausgezeichnet hatte, blieb keine Spur mehr. Wie sehr sich Deutschlands Nationaltrainer Jogi Löw mit seiner Einschätzung des Gegners Mexiko getäuscht hatte, mag man einer Äusserung des filigranen Technikers und sprintstarken Mittelfeldspielers Marco Reus entnehmen, der erst in der 60. Minute und damit zu spät eingewechselt worden war. Er habe gewusst, so Reuss hinterher, dass er in den ersten Spielen zunächst auf der Bank sitzen werde. Der Trainer wollte ihn angeblich ursprünglich für die wichtigen Spiele schonen, verplapperte sich der offensive Mittelfeldstratege aus Dortmund bei einer Pressekonferenz.
Währenddessen hörte man von Mexikos Trainer, man habe schon seit 6 Monaten an einem Plan gegen den amtierenden Weltmeister gearbeitet. Ganz offensichtlich hat man sich die deutsche Elf sehr genau angeschaut und die Erkenntnisse über deren Schwächen im behäbigen Mittelfeld zu nutzen gewusst und die Schlüsse daraus auch noch perfekt umgesetzt. Dazu passt, dass von deutscher Seite eher betreten zu hören war, man habe einen ganz anderen Gegner erwartet. Alles in allem eine herbe Enttäuschung für die sage und schreibe 26 Millionen deutschen Fernsehzuschauer – ein Drittel der Deutschen, Kleinkinder und Greise eingerechnet, sass an diesem denkwürdigen Sonntagnachmittag vor der Mattscheibe.
Ein Vergleich: Bei Frankreichs erstem Spiel waren es zu Hause nur 15 Millionen – ein Viertel der Bevölkerung. Ein Beweis dafür, dass Frankreich bei weitem nicht das Fussball-verrückte Land ist, für das es sich manchmal gerne ausgibt, sondern auch ein Land, in dem man etwa mit einem Rugby-Spiel ein Stadion mit 80’000 Plätzen füllen kann.
Selecao
Brasilien und Weltstar Neymar mit der frisch gepflanzten Spaghetti-Frisur, die er inzwischen schon wieder getilgt hat, wollten es kaum glauben, dass sie gegen gut aufgestellte und nicht zimperliche, grossartig verteidigende Schweizer mit einem exzellenten Torwart nicht über ein 1: 1 hinauskamen, auch wenn man wohl sagen muss, dass der Schiedsrichter den Eidgenossen eher wohlgesonnen war. Der Schubser von Steven Zuber genau im richtigen Moment gegen einen brasilianischen Abwehrspieler just vor dem Ausgleichstor war grenzwertig und die Catch-Einlage eines Schweizer Verteidigers gegen Brasiliens Mittelstürmer Jesus im Strafraum in der 74. Minute roch doch sehr nach Elfmeter. Der brasilianische Fussballverband hat jetzt sogar mit einem dreiseitigen Brief an die FIFA offiziell Protest gegen die Benachteiligung seiner Mannschaft eingelegt und will Aufklärung über den Nicht-Einsatz des Videobeweises haben.
England
Und schliesslich England , das gegen das vermeintlich kleine Tunesien erst in der 91. Minute das 2:1 schaffte. Harry Kane, der zweifache Torschütze, der sich darüber beklagt, dass er auf den Matrjoschka-Puppen, die mit den Konterfeis der Fussballstars auf Russlands Strassen verkauft werden, zu dick geraten sei, hat das Zeug zum Torschützenkönig dieser WM. Zudem hat England endlich wieder einmal einen Haufen von jungen, spritzigen Spielern im Team, die dieses vielleicht sogar etwas weiterbringen könnten als bei den vergangenen Weltmeisterschaften. Paul McCartney jedenfalls bedankte sich schon mal bei den Three Lions für das schöne Geschenk, das sie ihm zu seinem 76. Geburtstag gemacht hätten. Vor Ort in Russland aber sind der englischen Elf anscheinend die Fans abhanden gekommen. Man zählt deutlich weniger als bei vorhergehenden Turnieren. Und die, die in Russland sind, haben sich bisher auch nicht einmal daneben benommen.
Südamerika
Auffallend nach dem ersten Durchgang der Vorrunde: Die südamerikanischen Teams mit ihren Stars, die ihr Geld weitgehend in Europa verdienen, sind ausgesprochen schlecht gestartet. Brasilien und Argentinien mit einem Unentschieden, Peru und vor allem Kolumbien haben verloren und Urugay mit den Topstars Cavanni (Paris Saint Germain) und Suarez (FC Barcelona) gegen Ägypten haben unsäglich schlecht gespielt, auch wenn die Albiceste kurz vor Ende, schon wieder durch eine Standardsituation, letztlich mit 1:0 gewann.
Videobeweis
Festzuhalten bleibt auch: Der erstmals bei einer Weltmeisterschaft eingeführte Videobeweis – auch wenn nicht alles perfekt war – hat bisher eher gut funktioniert und den Spielfluss nicht wirklich gehemmt. Und er hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass dieser erste Durchgang so fair war wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr bei einer WM. Wenige gelbe, bislang keine einzige gelb-rote Karte und nur eine rote für die Vertretung Kolumbiens wegen klar absichtlichen Handspiels im Strafraum.