Der mit Hoffen und Bangen erwartete Beginn des Friedensprozesses zwischen der Hamas und Israel ist nach Verzögerungen in Gang gesetzt. Die Hamas steht vor dem Abgrund, Netanjahu sieht sich als Gewinner. Der Nahe Osten verändert sich gerade grundlegend.
Am Sonntag, den 19. Januar um 8.30 Uhr Ortszeit sollte in Gaza der Waffenstillstand zwischen den israelischen Streitkräften (IDF) und den bewaffneten Einheiten der Hamas und ihrer Verbündeten beginnen. Doch schon kurz vor Inkrafttreten der Waffenruhe zeichneten sich absehbare Komplikationen ab: Ein Hamas-Vertreter erklärte, aufgrund «technischer Probleme vor Ort» sei es noch nicht möglich, eine Namensliste der freizulassenden Geiseln vorzulegen. Dennoch präsentierte sich die Hamas als Siegerin, die alles unter Kontrolle habe. Begleitet von propagandistisch aufbereiteten Bildern schickte sie Patrouillen einer «Polizei der Widerstandsregierung» durch die Strassen von Rafah, liess ihre Leute in Verwaltungsgebäude einziehen und paradierte mit bewaffneten, nun durchweg uniformierten Formationen durch die Ruinenstädte Südgazas.
Um 11:30 Uhr Ortszeit hat die Waffenruhe dann doch begonnen. Die Hamas hatte die Namen der ersten drei freizulassenden Geiseln genannt, es sind Doron Steinbacher, Romi Gonen und Emily Damari. Israel hat seinerseits die Namen von 90 palästinensischen Gefangenen, die freigelassen werden sollen, bekannt gegeben. Die IDF verkündeten, dass sie ihre militärischen Aktionen eingestellt haben.
Doch es will der Hamas nicht so recht gelingen, die administrative Kontrolle über Gaza zurückzugewinnen. Zivile Akteure, vor allem aus den Bereichen Technisches Hilfswerk, Sanität und Zivilschutz, demonstrieren ihren Willen, Gaza nicht erneut der Willkür der Hamas-Gruppen auszusetzen, und formieren sich zu einer eigenständigen politischen Kraft. In einer bemerkenswerten Aktion begannen sie am Sonntagmorgen einen Marsch in den Norden Gazas, um dort eine Art Nothilfe zu organisieren.
Auch die überwiegend Fatah-nahen Anhänger der palästinensischen Autonomieregierung meldeten sich zu Wort. Zwar ist ihr in der Vorwoche gestarteter Versuch einer Strassenmobilisierung in der so genannten Sicherheitszone gegen die Hamas gescheitert, weil deren «Polizei» massiv gegen die sich zum Protest versammelnden Oppositionellen vorging und die Hamas damit drohte, Andersdenkende mit Schüssen in die Knie zu bestrafen. Allerdings ist die Rhetorik der Fatah gegenüber der Hamas inzwischen so feindselig geworden, dass die Hamas mit erheblichem internem Widerstand rechnen muss.
Das Dilemma der Hamas
Angesichts dieser Situation steht die Hamas vor einem kaum auflösbaren Dilemma: Einerseits kann sie sich ein Scheitern des Waffenstillstandsprozesses nicht leisten, da nur er ihre Machtbasis in Gaza und damit ihre innere Organisation retten könnte. Andererseits wäre sie mit der Verpflichtung zur Umsetzung der Waffenstillstandsbedingungen gezwungen, offenzulegen, wie weit ihre Durchsetzungsmacht in Gaza überhaupt noch reicht, ob sie noch die Kontrolle über die lokalen Verbände und Banden ausübt, in deren Gewalt sich einige der Geiseln befinden dürften, und ob ihr Machtapparat noch intakt ist.
Da die Unkenntnis über die soziale Reichweite der Hamas gross ist und niemand mit Sicherheit sagen kann, welches der von der Hamas-Propaganda errichteten potemkinschen Dörfer der Realität entspricht, gehen israelische und US-amerikanische Stellen sicherheitshalber davon aus, dass es der Hamas gelungen ist, ihre Machtbasis in Gaza zu stabilisieren. US-Aussenminister Blinken sprach sogar davon, dass es der Hamas gelungen sei, Zehntausende neue Bewaffnete zu rekrutieren.
Politische Annäherung
Die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand waren günstig. Die Weltöffentlichkeit erwartete ihn mit dem Amtsantritt des designierten US-Präsidenten Donald Trump. Für die israelische Regierung bot sich die Chance, den amerikanischen Druck zu nutzen und eine innenpolitische Krise zu überwinden. Premierminister Netanjahu zog ein verlässliches Abkommen unter der Ägide von Präsident Biden einem diplomatischen Abenteuer Trumps vor, bei dem Israel alle Gewinne wieder verlieren könnte. Denn auch Netanjahu wird wissen, dass Trumps demonstrativ pro-israelische Haltung angesichts seiner zum Teil offen antisemitischen Unterstützerkreise keineswegs in Stein gemeisselt ist und Trump seine Israelnähe skrupellos seinen machtpolitischen Interessen opfern könnte.
Trump seinerseits wollte das Abkommen Biden überlassen und sich als eigentlicher Urheber im Hintergrund feiern lassen. Aus diesem Grund war Trumps Unterhändler Steve Witkoff, der bisher keinerlei Verbindungen zum Nahen Osten hatte, bei den entscheidenden Verhandlungen am 12. Januar in Doha anwesend. Sollte das Abkommen scheitern, könnte Trump der Biden-Administration die Schuld in die Schuhe schieben. Und Biden hätte die Chance, seine blasse und ziellos wirkende Nahostpolitik mit einem «versöhnlichen» Abschluss aufzuwerten. Das setzt allerdings voraus, dass der Waffenstillstand über die 42 Tage der ersten Phase hinaus hält und in dieser Zeit tatsächlich die Weichen für die zweite Phase gestellt werden.
Saudische Pläne
Die eigentliche treibende Kraft hinter dem Gaza-Abkommen dürfte jedoch Saudi-Arabien gewesen sein. Das Königreich verstand es, im Hintergrund die Fäden zu ziehen und die geopolitischen Verwerfungen durch den dramatischen Niedergang der iranisch geführten «Achse des Islamischen Widerstands» politisch zu nutzen. Das Königreich will das für die eigenen grossen Entwicklungsziele unabdingbare Projekt einer Normalisierung der Beziehungen zu Israel wieder ins Spiel bringen und die Zweistaatenlösung bereits zum Gegenstand der Verhandlungen über die zweite und dritte Phase machen. Schliesslich wird von den Golfstaaten erwartet, dass sie einen wesentlichen Teil der auf fast 100 Milliarden Dollar geschätzten Kosten für den Wiederaufbau Gazas in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren tragen.
Diese günstige Konstellation weckte auch die Lebensgeister der PLO. Die Entscheidung der Kader um Präsident Mahmoud Abbas, die Hamas massiv anzugreifen, beruhte auch auf den Erfahrungen der letzten Wochen, als deutlich wurde, dass die Hamas versuchte, in der Westbank, vor allem im Norden, im Gebiet zwischen Tulkarm und Jenin, Fuss zu fassen und dabei auf die besser etablierten Netzwerke des Palästinensischen Islamischen Jihad (PIJ) zurückgriff. Dies bedrohte nicht nur die lokale Macht der Fatah/PLO, sondern die Legitimität der Autonomiebehörde insgesamt. Kein Wunder, dass die PLO der Hamas vorwarf, ihre «abenteuerliche Militanz», mit der sie die Bevölkerung von Gaza ins Unglück gestürzt habe, nun auf die Westbank übertragen zu wollen.
Netanjahu als Sieger
Für Benjamin Netanjahu ist das Abkommen eine Win-win-Situation, die den Austritt der Utsma-Yahudit-Partei von Itamar Ben-Gvir aus der Regierungskoalition erträglich macht. Er kann sich nun als eigentlicher Architekt der Geiselfreilassung feiern lassen, der demonstrierenden Zivilgesellschaft entgegenhalten, dass er für die Freilassung sogar seine Koalition und damit sein Amt aufs Spiel gesetzt hat und dass er mit dem Vorbehalt der Sicherheitskontrolle über Gaza den IDF Freiheiten garantiert, die sogar von Trump ausdrücklich zugesichert wurden. Dies gelte sogar für den Fall, dass die Kriegshandlungen in sechs Wochen wieder aufgenommen würden. Damit kann Netanjahu vergessen machen, dass es seine rechtsextremen Minister waren, die im Mai 2024 die Zustimmung zu einem ganz ähnlichen Vertragstext verhindert hatten.
Nach anfänglicher Verzögerung kann der Waffenstillstand, der eigentlich ein Prozess ist, beginnen: Die sukzessive Freilassung der ersten 33 Geiseln in den kommenden sechs Wochen und im Gegenzug die Freilassung von knapp 800 palästinensischen Gefangenen, der schrittweise Rückzug der IDF auf einen knapp einen Kilometer breiten Sicherheitsstreifen an der Grenze zu Israel, die Konfiguration der israelischen Checkpoints am Philadelphi-Korridor zu Ägypten und schliesslich die angestrebte Öffnung der Grenze in Rafah mit der Möglichkeit, dass bis zu 500 LKWs pro Tag die Grenze für Hilfslieferungen passieren. Damit ist klar: Der Waffenstillstand ist auch der Zeitraum, in dem ein dauerhafter Waffenstillstand ausgehandelt werden soll.
Eine neue nahöstliche Welt
Die Konvergenz der Interessen aller beteiligten Akteure hat es ermöglicht, dass das Abkommen, das in seinen Grundzügen bereits vor 13 Monaten ausgearbeitet wurde und im Mai 2024 fast unterschriftsreif war, nun Wirklichkeit werden konnte. Es bedurfte jedoch eines Katalysators, um diese politische Konvergenz zu ermöglichen. Entscheidend war, dass die Hamas mit dem Zusammenbruch der proiranischen Herrschaft des Assad-Regimes in Syrien einen weiteren Verbündeten verloren hatte. Schon die mit dem Waffenstillstand von Ende November 2024 eingeleitete politische Neuorientierung der Hizbullah an die libanesische Nationalpolitik, die am 27. Januar mit dem Abzug der israelischen Truppen aus dem Südlibanon gekrönt werden soll, hatte die Hamas ihres wichtigsten Verbündeten beraubt.
Schliesslich hat der Umbruch in Syrien das Umfeld der Hamas völlig verändert. Der Iran hat sich zumindest vorläufig von der nahöstlichen Bühne verabschiedet. Der Zerfall der «Achse des Islamischen Widerstands», die die iranischen Revolutionswächter vor mehr als zwölf Jahren als Bündnis ihres nationalreligiösen Messianismus geschaffen hatten, ist mehr als nur eine strategische Niederlage der Islamischen Republik. Sie könnte auch zur schrittweisen Entmachtung proiranischer parastaatlicher Akteure im Irak führen und die schiitische Tradition von der Hegemonie ihrer khomeinistischen Umdeutung in eine «imperiale Religion» befreien. Daraus könnten sich neue regionalpolitische Umfelder im Nahen Osten ergeben, in denen sich die Türkei, Saudi-Arabien und Israel die Gewichte teilen. Auch das Huthi-Regime der Ansarullah im Nordjemen wird sich neu positionieren müssen, will es nicht in den iranischen Niedergang hineingezogen werden.
Die Hamas steht so auf verlorenem Posten und wird versuchen zu retten, was zu retten ist. Rudimente ihrer Machtbasis kann sie aber nur in Sicherheit bringen, wenn sie nicht durch einen politischen Prozess in Gaza herausgefordert wird. Nur dieser kann den Waffenstillstand mit Leben füllen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Waffenstillstand tatsächlich in einen Befriedungsprozess mündet, der nicht nur Gaza, sondern auch die Westbank betrifft. Andernfalls droht entweder die Wiederaufnahme kriegerischer Gewalt oder eine für Israel wie für Palästina verhängnisvolle Friedhofsruhe.