Die WM-Vorrunde in Russland endete mit einer mächtigen Enttäuschung, einer ganzen Reihe von Überraschungen und einigen Erkenntnissen.
Deutschland raus
Die grosse Enttäuschung dieser WM bleibt natürlich die Vorstellung der Auswahl des Deutschen Fussballbundes. Mit einem Tor Unterschied hätte sie gegen Südkorea gewinnen müssen, man verlor 2:0, vor allem aber präsentierte sich die Truppe, genau so wie gegen Mexiko im verlorenen Auftaktspiel, mit einer gewissen Selbstherrlichkeit behäbig bis lustlos, verzagt und ohne Ideen, als Mannschaft, die so gut wie nie zusammenfand und fast orientierungslos über das Feld stolperte.
Fiasko, Erniedrigung, Ohrfeige, Katastrophe – der Griff in die lexikalische Schatzkammer war vielfältig, um die deutsche Schlappe zu charakterisieren und die Nationalmannschaft aus dem In- und Ausland mit reichlich Häme zu übergiessen. Eine der schönsten und zugleich bösesten Schlagzeilen kam vom italienischen Corriere dello Sport, sozusagen von Verlierer zu Verlierer: „Ci vediamo in spiaggia“.
Und da Sport ja bekanntlich irgendwo immer auch etwas mit Politik zu tun haben soll, fragen sich jetzt manche schon, ob nach dem Rauswurf der deutschen Nationalmannschaft und dem wahrscheinlichen Abschied ihres fast ewigen Teamchefs, Joachim Löw, jetzt nicht auch das Ende von Angela Merkel bevorsteht. Da wird geschrieben über die Gleichzeitigkeit von sportlicher und politischer Tragödie. Selbst das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ meint, Parallelen zwischen Löw und Merkel ausmachen zu können, bis hin zu Ähnlichkeiten bei der Frisur. Da wären die Langlebigkeit, der relative Erfolg, eine übertriebene Besonnenheit und die Gelassenheit in schwierigen Situationen mit ähnlich reduzierter Gestik.
Fluch der Weltmeister
Die erfolgsverwöhnte deutsche Nationalmannschaft, die nach dem historischen Ausscheiden innerhalb weniger Stunden aus Russland regelrecht geflohen ist, tröstet es letztlich auch ziemlich wenig, wenn man ihr sagt, dass eben auch sie mit dem Fluch des Weltmeisters behaftet ist:
Vier Mal in den letzten 20 Jahren schied der amtierende Weltmeister beim nächsten Mal bereits in der Vorrunde aus. Als ersten erwischte es Frankreich, den Weltmeister von 1998, der sich vier Jahre später bei der WM in Japan und Südkorea noch mehr blamierte als die Deutschen jetzt in Russland. Die Franzosen holten unter Roger Lemerre, einem reichlich blassen Trainer der alten Schule, gerade einen von 9 möglichen Punkten, schossen kein einziges Tor und fuhren als Gruppenletzter am Ende der Vorrunde nach Hause. Mit einem angeschlagenen Zinedine Zidane, dem grossen Idol der Weltmeistermannschaft von 98, der in die Jahre gekommen war und seine Spritzigkeit auch durch eine Kur in einem berühmten 5-Sterne-Hotel im Südtiroler Kurort Meran nicht wiedergefunden hatte – einer vom internationalen Jet-Set gern besuchten Institution, wo der Eigenblutaustausch zu den Behandlungsmethoden gehört. Als dies Jahre später bekannt wurde, sprach im Fall der nationalen Ikone Zidane natürlich niemand von Eigenblutdoping, wie man es bei den Radfahrern schon Jahre vorher entdeckt hatte.
Es folgten 2010 Italien, 2014 Spanien und jetzt eben Deutschland, mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Nationalelf ein ähnliches Ungemach in ihrer gesamten WM Geschichte vorher noch nie widerfahren war.
Argentinien doch noch
Ein weiterer, mutmasslich Grosser unter den Titelanwärtern hat es gerade noch so geschafft: der zweimalige Weltmeister und mehrmalige Vizeweltmeister Argentinien. Ganze 4 Punkte aus 3 Spielen und das 2:1 gegen Nigeria erst in der 86. Minute, erzielt durch einen Abwehrspieler.
Superstar Messi, der angeblich eine Palastrevolution gegen den Trainer durchgesetzt und letzteren zum Statisten degradiert hatte, dankte hinterher Gott und dies gleich mehrmals. Immerhin hat er jetzt auch sein erstes Tor in seiner genialen Messi-Art erzielt, die er dem Publikum bislang vorenthalten hatte.
Maradonas grosse Schau
Auf der Tribüne zog während des Spiels Diego Armando Maradona erneut seine grosse Schau ab. Erst tanzte der stark übergwichtige Ex-Star mit einer Nigerianerin, fuchtelte dann in der ersten Halbzeit wie ein Wahnsinniger, um seine Mannschaft anzufeuern, musste von zwei Bewachern permanent gehalten werden, um nicht über die Ballustrade zu stürzen, besoff sich dann in der Halbzeitpause gehörig – es habe nur Weisswein gegeben, gab er zu Protokoll, er bevorzuge Roten, trotzdem habe man alles geleert. Resultat: Maradona verschlief die zweite Halbzeit weitgehend. Aufgewacht durch das Siegtor der Argentinier stieg er dann auf seinen Sessel, um zwei Stinkefinger in Richtung nigerianisches Publikum zu recken, bevor man ihn mehr oder weniger wegschleppen musste, damit er von einem Arzt behandelt werden konnte.
Wie hinterher bekannt wurde, hielt der mit einem Oskar ausgezeichnete britische Dokumentarfilmer Asif Kapadia Maradonas unwürdiges Theater mit der Kamera fest. Der Künstler, der schon zwei viel gelobte Filme über Amy Winhouse und die Formel-1-Legende Ayrton Senna gemacht hat, arbeitet zur Zeit an einer Dokumentation über den Mann mit der Hand Gottes, der in Neapel, wo er jahrelang gespielt hat, sogar bis heute über eine ihm gewidmete Kapelle verfügt und immer noch verehrt wird. Könnte es also sein, dass die beschämende Show des gealterten „Pipe d’Oro“ nur eine Inszenierung war?
Brasilien
Der ewige Rivale Argentiniens, die blau-gelbe Seleção, die angetreten ist, um ein sechstes Mal in ihrer Geschichte zu versuchen, Weltmeister zu werden, hat bislang nur zur Hälfte überzeugt: nur ein Unentschieden gegen die Schweiz und ein 2:0 gegen Costa Rica erst in der Nachspielzeit, mit einem ständig klagenden und fallenden Topstar Neymar, der mit seinem Gehabe Gegenspieler, Schiedsrichter, ja sogar die brasilianische Presse zur Verzweiflung trieb und reichlich Hohn und Spott erntete. Ein Wirt in Rio de Janeiro hatte sich diesbezüglich etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um beim letzten Spiel Brasiliens gegen Serbien seine Kneipe zu nachmittäglicher Ortszeit (15 Uhr) voll zu bekommen. Für jedes theatralische Hinfallen von Superstar Neymar sollte es eine Lokalrunde Schnaps geben. Das Besäufnis dürfte sich beim diesmal souveränen 2:0 der Brasilianer gegen die Serben in Grenzen gehalten haben, wo der 220-Millionen-Kicker sich nicht mehr ganz so oft auf dem Rasen rollte, dafür aber gut ein halbes Dutzend Grosschancen vergab.
Alles in allem präsentierte sich der 5-malige Weltmeister letztlich als effizient, ausgesprochen abwehrstark – was bekanntlich die unabdingbare, ja wichtigste Voraussetzung für Erfolge ist – und verfügt zudem über einen Gesamtkader, der bei dieser WM mit Sicherheit zu den stärksten überhaupt gehört. Als zum Beispiel Marcello, der weltbeste Linksverteidiger, beim 3-fachen Champions-League-Sieger Real Madrid in Diensten, schon nach 10 Minuten durch den brasilianischen Linksverteidiger von Atletico Madrid ersetzt werden musste, fiel das im weiteren Spielverlauf kaum auf.
Portugal
Derweil ist Portugal, dem Europameister, gegen die bis zum Umfallen kämpfende Elf des Iran nicht mehr gelungen, als mit höchster Müh und Not ins Achtelfinale zu stolpern. Quaresmas wunderbarer Kunstschuss mit dem Aussenrist von halbrechts in den linken oberen Torwinkel, bescherte den Portugiesen das 1:0, das sie mühsam über die Zeit retten konnten, mehr auch nicht. Ihr Superheld Ronaldo verschoss gar einen Elfmeter und darf froh sein, im Achtelfinale überhaupt mitspielen zu dürfen. Ein hässlicher Ellbogencheck gegen seinen iranischen Gegenspieler hätte eigentlich eine rote und keine gelbe Karte nach sich ziehen müssen. Wirklich überzeugt hat Portugal weder gegen Marokko noch gegen den Iran, und beim 3:3 gegen Spanien lag es auch nur an den Sternstunden von Ronaldo, dass man weiterkam.
Urugay
Nun muss Portugal gegen Urugay antreten, diese ungemütliche Mannschaft, die alles andere als schönen Fussball spielt, mit einer knallharten, teils rabiaten Verteidigung noch die einzige zu sein scheint, die bis heute dem italienischen Catenaccio huldigt, es bei Weltmeisterschaften aber fast immer geschafft hat – auch mit den fiesesten Methoden – irgendwie zumindest in das Achtelfinale zu kommen. Gegen Iran hatten sie gerade noch im letzten Moment mit 1:0 gewonnen, kaum besser gegen Saudiarabien. Erst im letzten Gruppenspiel zeigten sie, dass ihre beiden Stürmerstars, Cavani (Paris St. Germain) und Suarez (FC Barcelona), auch in der Nationalmannschaft Tore schiessen können, und holten die stark gestartete russische Nationalelf durch einen 3:0 Sieg wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Russland, Spanien, Frankreich
Die kurzzeitig hochgelobte Gastgebermannschaft, die in den ersten beiden Spielen plötzlich so weite Wege gerannt war wie keine andere, so dass schon wieder das russische Dauerthema Doping aufkam, sie muss nun gegen den Welt- und zweifachen Europameister Spanien antreten. Aber auch die „Rote Furie“ hat, wie der Nachbar Portugal, in der Vorrunde nicht wirklich überzeugen können, lag gegen Marokko zwei Mal im Rückstand, wäre ohne den 2:2-Ausgleich wie Deutschland gar ausgeschieden. Diese spanische Mannschaft – auch wenn ihr Spiel weit erfreulicher und fliessender war als das der Deutschen – hat trotzdem eine Ähnlichkeit mit der Truppe von Joachim Löw: Auch bei ihr scheint eine Epoche zu Ende zu gehen. Iniesta, Sergio Ramos und Piqué sind allesamt Herren deutlich über 30.
Das als Geheimfavorit gehandelte Frankreich hat in allen drei Gruppenspielen mit seinen in internationalen Spitzenclubs spielenden Stars eine eher dürftige Leistung gezeigt: ein mühsames 2:1 gegen Australien, ein letztlich glückliches 1:0 gegen Peru, wo man wenigstens in der ersten Halbzeit ein ansehliches Spiel zeigte, und ein geradezu unverschämtes 0:0 gegen Dänemark, ein Spiel, das wirklich null war, eine Frechheit und für den Zuschauer eine Zumutung. Beiden Mannschaften genügte dieses Ergebnis fürs Achtelfinale und entsprechend unengagiert traten sie auch den Ball.
Hinter Frankreichs Nationalmannschaftskulisse knistert beziehungsweise kracht es zudem bereits ein wenig. Beim Management der Egos seiner Multimillionäre scheint Trainer Deschamps die ersten Schwierigkeiten zu haben. Der 19-jährige Kylian Mbappe, das wiselflinke technische Wunderkind, eine freundliche Erscheinung mit dem Schalk im Blick, das sich zudem vor der Kamera auch noch sehr gut ausdrücken kann, hat über Nacht der Presse einen Korb gegeben bis zum Ende des Turniers. Der Star wird nicht mehr das Wort ergreifen, liess er von seinen 19 hohen Jahren herab wissen.
Der Grund? Die Presse hatte es tatsächlich gewagt, die Öffentlichkeit über die von Trainer und Mitspielern geäusserte sachte Kritik an ihm zu informieren. Man hatte dem Talent zu vermitteln versucht, dass im modernen Fussball heute auch die Stürmer mitverteidigen. Das aber liegt dem jungen Mann überhaupt nicht, also Presseboykott.
Gleichzeitig wird auch der hoch gelobte Mittelstürmer von Atletico Madrid, Antoine Griezmann, von Mal zu Mal blasser im Gesicht, das nun schon zwei Spiele lang nicht mehr die Spur eines Lächelns zeigte. Griezmann scheint ideenlos, geht merkwürdige Wege und hat bislang einfach denkbar wenig zustande gebracht. Der französische Wundersturm scheint in der Krise nicht zu sich zu finden, und die Mannschaft hat auch auf den beiden Aussenverteidigerpositionen Probleme, wo man weit entfernt von der Weltklasse ist. Ob das im Achtelfinale gegen Argentinien auch für den Fall reicht, dass Messis Team nun wirklich in Gang kommen sollte, ist mehr als fraglich.
Fussballsoldaten
In Ägypten waren die Hoffnungen von 100 Millionen Einwohnern auf einen guten Auftritt ihrer Nationalelf riesig – am Ende verlor die Elf mit Weltstar Mohammed Salah nun sogar gegen Saudiarabien, und Salah soll kurzfristig über den Rücktritt aus der Nationalmannschaft nachgedacht haben, weil er es bereut habe, sich vom tschetschenischen Diktator Kadyrow als Gastgeber der Ägyptischen Mannschaft komplett vereinnahmen zu lassen. Vielleicht wird durch Ägyptens dritte Niederlage die angekündigte Strafe des regierenden Scheichs von Saudi-Arabien für seine Spieler zumindest weniger streng ausfallen. Der Trainer jedenfalls hat gleich schon mal präventiv das Handtuch geworfen.
Beim 0:5 der saudischen Nationalmannschaft im ersten Spiel gegen Russland war die Miene des Scheichs auf der Ehrentribüne geradezu furchterregend versteinert und wurde von Tor zu Tor finsterer. Im Kopf des Herrschers mit tausenden Milliarden von Euro in der Hinterhand waren die Balltreter aus dem Scheichtum, die sich Monate lang auf die WM vorbereiten durften, wohl einfache Soldaten, die für das Image des obskuren Wüstenstaates zu arbeiten hatten. Das erinnert an die Nationalspieler von Südkorea: Wenn der Präsident ihres Landes im Stadion sitzt und sie ausgewechselt werden, dann salutieren sie vor dem Gang auf die Ersatzbank – vor dem 2:0-Sieg gegen den amtierenden Weltmeister Deutschland tat das einer von ihnen sogar beim Absingen der Nationalhymne. Fussballsoldaten bei einer WM.
Erkenntnisse
Klar scheint nach diesen ersten beiden Wochen der WM 2018: Die traditionellen grossen Mannschaften sind nur schwer in Gang gekommen, und der amtierende Weltmeister ist gar schon nach Hause gefahren. Dafür aber gibt es drei Mannschaften, die in Russland positiv überrascht haben und zu neuen Favoriten herangewachsen sind.
Allen voran wohl die Mannschaft Kroatiens, ein Team, vor dem alle anderen Angst haben. Frankreichs hoch gewachsener Mittelstürmer Giroud vom FC Chelsea zum Beispiel hat das unumwunden zugegeben.
Alle 9 Punkte geholt, 7:1 Tore geschossen, ein 3:0 gegen Argentinien auf beeindruckende Art und Weise herausgespielt – angesichts dessen dürfte Dänemark im Achtefinale gegen die Elf um Real Madrids Mittelfeldgenie Modric kaum eine Chance haben.
Das zweite Team, das bislang einen beeindruckenden Fussball zeigte, ist Belgien oder Belgium, wie die mehrsprachigen Fans aus Flandern, Wallonien und Eupen ihre Nationalmannschaft anfeuern. Das beste offensive Mittelfeld überhaupt, ein höchst durchschlagkräftiger Sturm und ein absoluter Weltklassetorwart haben bislang die wohl schönsten Minuten dieser WM produziert. Japan, die Überraschungsmannschaft des Achtelfinales, dürfte für diese Truppe nicht zum Stolperstein werden.
Und noch ein dritter Favorit ist bei dieser WM fast über Nacht auferstanden: England. Von der Insel kam diesmal eine völlig veränderte, für englische Verhältnisse untypisch spielende Mannschaft daher: leichtfüssig, schnell, technisch höchst versiert und des Kurzpasspiels mächtig. Ausserdem gibt es seit langer Zeit wieder mal einen englischen Torwart, bei dem man sich nicht ständig Sorgen machen muss, er könnte patzen. Southgate, der elegante englische Trainer in Schlips und ärmelloser Weste mit sehr wenig Erfahrung als Coach, hat eine Truppe aus jungen Wilden zusammengestellt, die so manchen Spezialisten überrascht hat. Englands Teamchef profitiert ebenso wie sein belgischer Kollege, der aus Spanien kommt, ganz offensichtlich vom Niveau der englischen Liga – alle 23 Akteure der englischen Nationalmannschaft üben dort unter Trainern von Weltruf ihr Handwerk aus, sowie ein Grossteil der belgischen Nationalspieler. Kolumbien, das mit Senegal die letzte afrikanische Mannschaft ausgeschaltet hat, ist als Gegner im Achtelfinale für die Three Lions von der Insel wohl eine zu bewältigende Aufgabe.
Und die Schweiz?
Mit dem Achtelfinale ist das Mindestziel geschafft, zu dem man auf teilweise durchaus beeindruckende Art und Weise gelangt ist. Sorgen bereiten allerdings zwei Dinge: der Auftritt Schwedens gegen Mexiko, welches die Nordländer mit 3:0 bezwingen konnten – das muss man gegen diese agile mittelamerikanische Mannschaft, die es jetzt mit Brasilien zu tun bekommt, erst mal schaffen. Schlimmer aber noch dürften die jeweils zwei gelben Karten für Innenverteidiger Schär und Kapitän Lichtsteiner wirken. Zwei feste Grössen in der Abwehr zu ersetzen, fällt mehr als schwer. Am Dienstag am frühen Abend in Sankt Petersburg werden wir mehr wissen.