Kaum jemand hatte es für möglich gehalten nach den ersten drei Gruppenspielen der Equipe Tricolore, dass diese Elf ein Spiel hinlegen und es siegreich bestehen würde, von dem man auch in 20 Jahren noch sprechen wird.
Ein 4:3-Sieg gegen Argentinien mit Lionel Messi hört sich knapp an und war es in den letzten Minuten in der Tat.
Und doch war Argentinien, der Vizeweltmeister von 2014 den Franzosen über weite Strecken schlicht und einfach deutlich unterlegen.
Abgeklärt und meisterhaft
In Kasan an der Wolga zeigte sich die blau-weiss-rote Truppe von Teamchef Didier Deschamps plötzlich auf fast allen Positionen abgeklärt und meisterhaft und erstmals bei dieser WM – und auf welch beeindruckende Art – funktionierten der hoch gelobte Wundersturm und die Schnelligkeit, die im Team steckt, praktisch perfekt. Die Argentinier wussten streckenweise kaum, wo ihnen der Kopf stand.
Der 19-jährige Wirbelwind, Kylian Mbappé, vor einem Jahr für 180 Millionen Euro von AS Monaco zu Paris Saint Germain gewechselt, der sich im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark ausgeruht hatte – er explodierte regelrecht, trieb die argentinische Verteidigung von Anfang an zur Verzweiflung. In der 12. Minute setzte er 40 Meter vor dem eigenen Tor zu einem Sprint an, bei dem er alle Argentinier, die ihm im Weg standen, einfach stehen liess und erst im Strafraum vom letzten Verbliebenen umgerannt wurde – Elfmeter.
Antoine Griezmann, der zuvor schon einen Freistoss, den ebenfalls Mbappé herausgeholt hatte, an die Latte gesetzt hatte, traf zum 1:0. Griezmann, der Frankreich vor zwei Jahren mit 6 Toren fast alleine ins Endspiel der Europameisterschaft geschossen hatte, blieb ansonsten auch bei diesem euphorischen, hochkarätigen Spiel, trotz seines Elfmetertors, der einzige, der nicht über sich hinauswuchs.
Ein regelrechtes Feuerwerk
Nur 7 Minuten nach dem Führungstor war es wieder der 19-jährige Mbappé, der am 16-Meter-Raum nur durch ein Foul zu stoppen war, Mittelfeldspieler Paul Pogba, der eine grossartige Partie, sowohl defensiv als auch offensiv, mit gleich mehreren Ausritten über 50 Meter ablieferte, verschoss jedoch.
Frankreich brannte in dieser ersten Halbzeit ein regelrechtes Feuerwerk ab und das argentinische Haus stand fast permanent in Flammen. Die Albiceste, mit ihrem Durchschnittsalter von über 30 konnte einem bei der diesmal produzieren Spritzigkeit der Franzosen (Durchschnittsalter knapp 25) schon fast leid tun.
Und doch musste diese überlegene französische Mannschaft mit einer ebenfalls tadellosen und souveränen Abwehr rund um Varane und Umtidi (Real Madrid und FC Barcelona), die einen Lionel Messi erstmals nach 30 Minuten zu einem Ballkontakt im Strafraum kommen liess, den Ausgleich hinnehmen – ein wunderbarer 25-Meter-Schuss von Di Maria, von dem man ansonsten kaum etwas zu sehen bekam, landete im rechten oberen Eck.
Souveräne Kombinationen
Und unmittelbar nach der Halbzeit sollte es für Frankreich zunächst noch schlimmer kommen. Ein erster Schuss von Messi Richtung Tor, von einem Mitspieler leicht abgefälscht, und es stand 2:1 für den amtierenden Vizeweltmeister.
Die 25’000 argentinischen Fans im Stadion von Kasan, die die weit verstreuten, kaum wahrzunehmenden knapp 5’000 französischen Anhänger in Grund und Boden schrien, glaubten bereits an ein neues Wunder nach der denkbar knappen Qualifikation für dieses Achtelfinale.
Doch gerade in dieser Phase zeigte die französische Mannschaft ihre echte Stärke und all das, was sie offensichtlich in sich hat. Die Tricolore-Elf liess sich nicht aus der Ruhe bringen, glänzte durch zum Teil grossartige, souveräne Kombinationen, auch aus der bedrängten Abwehr heraus.
Mit Pelé verglichen
Und die nächsten drei Tore für Frankreich waren vom Aufbau und vom Abschluss her Bilderbuchtore wie aus dem Lehrbuch. Der Ausgleich zum 2:2 – ein langer Pass aus der Abwehr über gut 50 Meter vom alt-erprobten Blaise Matuidi (Juventus Turin) entlang der Linie auf den eigentlichen Linksverteidiger Hernandez (Atletico Madrid ) und dessen Flanke in den Rückraum, während er schon umgekrätscht wurde, verwandelte der 22-jährige Rechstverteidiger vom VFB Stuttgart, Benjamin Pavard, mit seinem treffenden Vornamen per Volley-Schuss aus 20 Metern ins linke Lattenkreuz – mancher wird sagen, ein echter Glückstreffer.
Wie auch immer: er war nur der Auftakt für den wirklich grossen Auftritt des wirklichen Benjamin der Tricolore-Elf: Kylian Mbappé – wie gesagt 19. Und wieder kam alles – und damit Mbappés zwei Treffer – aus der Tiefe des Raums. Die Franzosen brauchten für die beiden Tore von Mbappé – der prompt schon mit Pelé 1958 verglichen wird – vom eigenen Strafraum aus jeweils nur 4 oder 5 Stationen – jeder Fussballbegeisterte leckte sich die Lippen und Mbappé verwandelte jeweils wie ein Altgedienter.
Plötzlich schien eine Mannschaft auferstanden, von der jeder wusste, dass die individuellen Qualitäten der Einzelnen überdurchschnittlich sind, jedoch war das Zusammenspiel dieser Qualitäten bisher eher im Verborgenen geblieben.
Auch im 4. Anlauf kein Erfolg
Und diese Elf aus Profis, die allesamt in der englischen, spanischen, italienischen oder deutschen Liga spielen oder in Frankreich bei Paris Saint Germain, sie hat zudem für ein tragisches Opfer gesorgt: Lionel Messi, der 31-jährige Superstar, wird ewig derjenige bleiben, der als weltweit bester Fussballer gilt, mit seiner argentinischen Nationalmannschaft aber auch im 4. Anlauf keinen Erfolg feiern kann.
Was hat man in den Monaten vor dieser WM in Frankreich nicht alles angestellt, um daran zu erinnern, dass man exakt vor 20 Jahren das letzte und das erste Mal Fussballweltmeister geworden war. Wochenlang liefen auf Fernsehkanälen und in Radioprogrammen Dokumentationen über den Erfolg von damals, und die Werbebranche griff mit den 98ern ebenfalls ins Volle. Erinnerung an die Zeiten, als man noch glaubte, die damalige, bunt gemischte Mannschaft – Blacks, Blanc, Beurs – könnte über die Spannungen in der französischen Gesellschaft hinweghelfen. 7 Jahre später brannten die Vororte.
Der bravouröse Auftritt der Equipe Tricolore jetzt im Achtelfinale im schwülen Kasan an der Wolga bei Temperaturen von 30 Grad, lässt trotzdem sicher viele davon träumen, dass sich das Wunder von 1998, zumindest aus sportlicher Sicht, noch einmal wiederholen könnte.
Viertelfinale
Dort trifft man auf die bei Weltmeisterschaften in der KO-Phase stets präsente, unangenehme, stark verteidigende Equipe von Uruguay. Denn die Celeste hat, letztlich ziemlich souverän, Europameister Portugal nach Hause geschickt – und damit auch Cristiano Ronaldo, dem es nicht anders erging als Lionel Messi im Spiel gegen Frankreich. Beide mehrfach gekrönten Fussballer dürfen einfach mal Urlaub machen. Ronaldo, der Star von Real Madrid, brachte bei dieser 1:2-Niederlage gegen die Elf aus Uruguay, dem Land mit gerade mal 3 Millionen Einwohnern, keinen Fuss auf den Boden bzw. keine Flanke an den Mann oder eben keinen Ball ins Tor.
Ganz im Gegenteil dazu nutzte Uruguay gnadenlos die Fähigkeiten seiner beiden Sturmspitzen, Cavani (Pairs St. Germain) und Suarez (FC Barcelona). Cavani sorgte für zwei Traumtore. Suarez, der bei der letzten Weltmeisterschaft 2014 und bei zwei anderen Spielen seine Gegner noch gebissen hatte – in die Schulter, in den Arm, was gerade daherkam – er servierte für das erste Tor von Cavani eine Traumflanke auf den zweimaligen Torschützen.
Frankreichs Team, dem das Achtelfinale – so scheint endlich – Leben eingehaucht hat, wird sich von den Spielern, die am Rio de la Plata gross geworden sind und heute natürlich alle ausser Landes spielen, wie fast alle Franzosen auch – schwer in Acht nehmen müssen.