Was haben die beiden Schweizer Torschützen beim 2:1 gegen Serbien, Xhaka und Shaqiri, mit den beiden deutschen Mittelfeldspielern, Özil und Gündogan, gemein? Alle vier wollen einem vormachen, sie seien absolute politische Analphabeten und bei aller Bekanntheit keine öffentlichen, sondern Privatpersonen. Beim Torjubel mit den Armen den albanischen Doppeladler in Richtung serbisches Publikum imitieren, und das gleich zwei Mal und hinterher erklären, dies sei aus der Emotion heraus passiert und habe mit Politik nichts zu tun, heisst doch wohl, die Öffentlichkeit für dumm verkaufen zu wollen. Sich als türkischstämmige deutsche Nationalspieler in London ausgerechnet mit dem Autokraten Erdogan ablichten zu lassen, ihm signierte Trikots zu schenken und freundlich in die Kamera zu lächeln und hinterher sich darüber wundern, dass dies in Deutschland für wochenlange Aufregung sorgt, ist wohl vom selben Kaliber. Gestandene Männer und Multimillionäre spielen die Rolle von naiven, völlig ahnungslosen Buben, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben und nur die Welt des Fussballs kennen.
Von wegen: Fussball und diese WM und das Auftreten der Akteure hätten nichts mit Politik zu tun! Erst gestern hat der tschetschenische Diktator Kadyrow den Fussball und die WM für seine Zwecke eingespannt und den ägyptischen Weltstar Mohammed Salah zum Ehrenbürger von Grosny ernannt, weil dessen Mannschaft ihr WM-Quartier dort aufgeschlagen hat und auch Salah sich dafür hergegeben hatte, an der Seite des Potentaten mit blutigen Händen für ein Foto zu posieren.
Und Putin, der durch die Ausrichtung der WM schon von vorne herein gewonnen hatte, bekommt ganz offensichtlich, was er will. Immer mehr internationale Medien berichten derzeit positiv über die freundlichen WM-Kulissen rund um die 11 Austragungsorte. Und Moskau, so ist etwa zu lesen, sei alles in allem schick und erlebe mit den Fans aus aller Welt einen wohltemperierten Kontrollverlust – mit anderen Worten: die Ordnungskräfte – anders als sonst üblich – prügeln nicht, wenn sich hunderte Menschen in den Städten spontan zusammenrotten. Vier Wochen lang müssen sie sich zurückhalten und die russische Bevölkerung – der man zum WM-Start gerade das Rentenalter und die Mehrwertsteuer heraufgesetzt hat – darf sich an der Euphorie der Fans aus aller Welt erfreuen. Und als Sahnehäubchen auf das Ganze überrrascht auch noch die eigene Nationalmannschaft, der man so gut wie gar nichts zugetraut hatte und die jetzt mit 8:1 Toren und 6:0 Punkten ihre Gruppe souverän anführt wie keine andere Mannschaft bei dieser WM.
Argentiniens Desaster
Ansonsten bleibt es dabei: die Favoriten wanken weiter, ja, Argentinien darf eigentlich schon fast den Heimflug antreten. Es ist als habe die 3:0 Niederlage gegen Kroatien, diese absolute Demütigung, ganz Argentinien in die Krise gestürzt. Die argentinischen Fans sassen nach Spielende minutenlang auf den Tribünen, als hätte man ihnen einen Schlag mit dem Holzhammer versetzt und starrten mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen ins weite Rund, andere brüllten ihre Wut heraus oder, sofern sie nahe genug platziert waren, bespuckten den Trainer. Dieser Mann mit dem kahlrasierten Schädel hatte schon nach 15 Minuten seinen Sacko ausgezogen und stampfte den Rest der Spielzeit mit seinen tätowierten Armen im T-Shirt wie eine Furie die Seitenlinie rauf und runter und schien dem Herzinfarkt immer näher zu kommen. Weltstar Lionel Messi, der wie schon beim Unentschieden gegen die grossen kleinen Isländer wieder keine Wunder wirken konnte, ja sogar nur halb so viel Ballkontakte wie in normalen Spielen hatte, sah hinterher aus, als müsste er auf seine eigene Beerdigung gehen oder als führe man ihn nicht in die Kabine, sondern aufs Schafott. Elf reichlich brutale Kroaten, bei denen man vor jedem Zweikampf schon auf das Krachen der Knochen wartete, haben den Gauchos ihre Grenzen aufgezeigt und sind nach diesem intensiven, von 11 gelben Karten begleiteten Spiel plötzlich selbst zu Mitfavoriten geworden.
Peru - Frankreich
Besser als Argentinien erging es Frankreich, das erneut mit grosser Mühe aber einer sehr akzeptablen ersten Halbzeit nun sein zweites Spiel knapp gewonnen hat, diesmal 1:0 gegen Peru, und für das Achtelfinale qualifiziert ist. Nicht so sehr das Spiel konnte einen bei dieser Begegnung vom Hocker reissen, dafür aber die Fans aus dem Andenstaat, dessen Nationalmannschaft zum ersten Mal seit 36 Jahren wieder für eine WM qualifiziert war, während gleichzeitig der Erzfeind Chile zu Hause bleiben musste. Man fragt sich, wie es möglich war, dass über 20’000 Peruaner den Weg nach Jekatarinenburg – der Stadt, in der die letzte Zarenfamilie ihr Leben lassen musste – gefunden hatten. Anscheinend haben sich viele tatsächlich verschuldet, Hypotheken auf ihr Haus aufgenommen oder auch die Arbeit gekündigt, um mit den Abfindungen die Reise zu bezahlen, um dann das Stadion in einen rot-weissen Hexenkessel zu verwandeln, in dem man die knapp 2’000 französischen Fans nur schwer ausmachen konnte. Wie Perus Spieler mit Tränen hinter geschlossenen Augen die Nationalhymne in den Himmel über dem Ural hinausschrien, war schon fast angsteinflössend. War das noch einfach Fussballfieber und Begeisterung?
Immer wieder Neymar
Brasilien, ein anderer Mitfavorit, brauchte für einen Sieg gegen den sogenannten Fussballzwerg Costa Rica, nach dem 1:1 gegen die Schweiz, doch tatsächlich die Nachspielzeit und 97 Minuten um letztlich mit 2:0 zu gewinnen. Brasiliens Superstar Neymar setzte dabei fort, was er schon gegen die Eidgenossen bis zum Überdruss praktiziert hatte: er fiel und fiel und wälzte sich auf dem Rasen, fand aber im holländischen Schiedsrichter, den er sogar in der Spielpause zu bereden versuchte, einen souveränen Widerpart, der auf nichts hereinfiel und ihm klar zu verstehen gab, er möge doch bitte weniger Theater spielen. Fast aber hätte es Neymar in der regulären Spielzeit doch geschafft. Als er im Strafraum zu Fall kam, pfiff der Schiedsrichter Elfmeter, der Videobeweis zeigte aber, dass es sich um eine erneute Schwalbe der brasilianischen Nummer 10 handelte. Neymars anschliessende Trotzreaktion, das wütende auf den Boden Schlagen des Balls, brachte ihm dann auch noch die gelbe Karte ein. Immerhin: Neymar, den die brasilianische Presse mittlerweile als Nervenbündel bezeichnet, hat in der 97. Minute sein erstes WM-Tor geschossen und offensichtlich die weissen Nächte von Sankt Petersburg doch einigermassen überstanden. Das gesamte brasilianische Team hatte sich vor dem Spiel beschwert, mann könne dort wegen der Mittsommernächte nicht schlafen. Eine Bürgerin aus Sankt Petersburg riet ihnen, schwere Vorhänge anzuschaffen und wenn es mit dem Schlaf dann immer noch nicht klappt, Gedichte zu schreiben, wie Puschkin das einst getan habe. Fussballerisch gesehen muss der 220 Millionen Euro schwere brasilianische Star sich aber jetzt, nach dem zweiten Spiel, schon über eines klar sein: auch die sehr physisch ausgerichtete serbische Elf wird beim entscheidenden Spiel für den Einzug ins Achtelfinale mit einem Herrn Neymar gewiss nicht zimperlicher umgehen als bisher die Schweizer oder die Costa Ricaner. Und seine Allüren und Provokationen gehen inzwischen selbst der heimischen Presse in Brasilien auf die Nerven.
Blatter vor Ort
Ansonsten hat es sich der für 6 Jahre vom Fussball ausgesperrte Ex-Fifa-Präsident Blatter nicht nehmen lassen, einige Tage in Russland aufzutauchen. Als Privatmann, eingeladen von Präsident Putin, wie er betonte, was die Fifa in diplomatisch-protokollarische Nöte brachte, den 82 Jährigen aber nicht darin hinderte, das Blitzlichtgewitter und den Aufmarsch der Kameras zu geniessen und alle möglichen Statements in Sachen Fussball abzugeben, etwa dass Deutschland auf jeden Fall weiter kommen werde, sprach in jedes Mikrophon, das sich ihm bot und dabei konsequent immer von „seiner WM“. Seht her, ich bin es, der diese Fussballweltmeisterschaft in dieses Land gebracht hat. Privataudienz bei Putin hat der machtversessene Herr aus der Schweiz aber angeblich keine bekommen.
Vom Essen und von Eitelkeiten
Von Portugals Star Cristiano Ronaldo war derweil zu hören, dass er ein erbärmlicher Gastgeber ist. Patrick Evra, Frankreichs ehemaliger Nationalspieler, der mit dem Portugiesen drei Jahre bei Manchester United gemeinsam den Ball trat, plauderte aus dem Nähkästchen und erteilte allen den Rat: „Wenn Ronaldo dich mal zum Essen einlädt, finde eine Ausrede, um nicht hinzugehen.“ Er selbst sei nach dem Trainig mal mit in Ronaldos Haus gekommen. Kredenzt wurde fades Hühnerfleisch, Salat und Wasser. Und noch bevor der Gast zu Ende gegessen hatte, habe Ronaldo bereits einen Ball in der Hand gehabt und, wie ein kleiner, grosser Junge, darauf gedrängt, im Garten zu spielen.
Ronaldo, der sich bekannterweise für einen der Schönsten in der Fussballwelt überhaupt hält und bei jeder Gelegenheit seine Six-Packs zur Schau stellt, hat jetzt aber Konkurrenz bekommen und könnte richtig neidisch werden. Ein No-Name, ein Wikinger aus Island, Rurik Gislason, der beim ersten Spiel der Nordländer nur ganze 30 Minuten auf dem Platz stand, hat auf Instagram bei weiblichen Nutzern umgehend einen Sturm der Begeisterung ausgelöst. Der muskulöse, gutaussehende Blonde mit den stahlblauen Augen hatte quasi über Nacht statt 30’000 plötzlich 850’000 vor allem Anhängerinnen, ganz besonders, so heisst es, seien ihm Lateinamerikanerinnen verfallen. Sexyrurik, so sein Name im sozialen Medium.
Weniger Vergnügliches hört man von einem anderen Nordländer. Zlatan Ibrahimovic, der brachiale Kotzbrocken aus Schweden, den kein europäischer Spitzenclub länger als drei Jahre ertragen konnte und der sich zur Zeit ebenfalls in Russland rumtreibt, ansonsten mit seinen 36 Jahren in Los Angeles jetzt immer noch Millionen verdient, er kotzt sich am Rand des Turniers gehörig aus. Er spielt den Herrscher und Macho und tönt, ohne ihn tauge die schwedische Mannschaft einfach nichts und eine Weltmeisterschaft ohne Zlatan sei schlicht keine Weltmeisterschaft. Schwedens Trainer und Spieler erwidern bislang noch freundlich, aber bestimmt, es reiche jetzt mit seinen kindischen Ausfällen, der überkandidelte, arrogante Egomane möge doch bitte Ruhe geben.
Afrikaner in Asien
Gerade passend zur milliardenschweren Fussballweltmeisterschaft mit ihren hochbezahlten Stars hat die französische Wochenzeitung „Courrier International“ diese Woche die grossartige Reportage einer kanadischen Zeitung über schier unglaubliche Exilgeschichten junger, schwarzafrikanischer Fussballer veröffentlicht. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet haben sich – weil der europäische Markt mit Spielern vom schwarzen Kontinent bereits hoffnungslos überfüllt ist – in den letzten zehn Jahren offensichtlich abertausende junge Männer aus Ghana, dem Senegal, der Elfbeinküste etc. auf den Weg nach Ostasien gemacht. Mit Touristenvisa ausgestattet, mit vielen Versprechungen und von verbrecherischen Beratern oder so genannten Managern angeheuert, finden sie sich in Thailand, in Kambodscha, in Vietnam oder in Birma wieder, wo erst im Lauf des letzten Jahrzehnts nationale Fussballligen gegründet wurden. Ja selbst in Nepal versuchen einige inzwischen ihr Glück. Ganze wenige schaffen es angeblich, bis zu 2’000 Dollar im Monat zu verdienen, die meisten aber sind, von ihren so genannten Managern im Stich gelassen und nach 3 Monaten ohne gültige Papiere, völlig hilflos und verlassen. So mancher hat einen Verein gefunden und spielt, wird aber nicht bezahlt und kann nichts dagegen tun. Hunderte, wenn nicht tausende andere tun, was sie in ihren Herkunftsländern auch taten: sie überleben irgendwie. Der Taum vom Fussball als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg im fernen Asien ist für sie ausgeträumt.