Putin hat den Ukrainekrieg lange vorbereitet als Schritt auf dem Weg zu seinem erträumten russischen Grossreich. Den Westen verachtet er, Europa soll marginalisiert werden. Erfolgreicher Widerstand gegen Putin setzt voraus, dass man sich über ihn endlich keine Illusionen mehr macht.
Seit dem 24. Februar 2022 müssen wir uns eingestehen: Die westliche Welt ist nicht mehr lediglich mit einem hinterlistigen Quertreiber im Kreml konfrontiert, sondern sie hat einen buchstäblich zu allem entschlossenen mächtigen Feind. Das Datum des russischen Überfalls auf die Ukraine markiert das Ende jener kurzen Epoche nach dem Untergang der Sowjetunion, in der sich vorübergehend die Chance auftat, eine auf Kooperation und Frieden ausgerichtete «Weltordnung» (das Wort war immer etwas hochgegriffen) oder zumindest eine nicht fundamental von Konfrontation geprägte Politik zu schaffen.
Wenn auch die Zeit zwischen 1991 und 2022 alles andere als durchwegs friedlich war und der russische Donnerschlag vor einem Vierteljahr keineswegs unvorbereitet erfolgte, so konnte man bis zu diesem ominösen 24. Februar doch einigermassen zuversichtlich sein. Man durfte hoffen, die grossen Player der Weltpolitik würden sich in ihren Interessenkonflikten immer wieder soweit auf Regeln einigen können, dass es nicht zu grossen Kriegen kommt. Dies war zwar nicht sicher, aber zumindest nicht völlig unwahrscheinlich. Schliesslich sind Kriege für alle Beteiligten hoch riskant; die Gefahr, selbst bei einem Sieg von den Kosten erdrückt zu werden, spricht jedenfalls nicht für kriegerische Abenteuer.
In den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Sowjetreichs versuchte es die Welt vorsichtig mit dem Aufbau gegenseitigen Vertrauens, um globale Probleme gemeinsam angehen und Regeln zwischenstaatlichen Umgangs etablieren zu können. Die Kooperation holperte zwar und blieb weit hinter den deklarierten Zielen zurück. Dennoch gab es bedeutsame Erfolge: Die extreme Armut ging zurück, etliche Staaten holten wirtschaftlich auf, die Globalisierung schuf einen nie zuvor gekannten Wohlstand, es wurden Klima-Abkommen geschlossen.
Putin spielte in dieser Periode eine undurchsichtige Rolle. Auf der einen Seite hat er in Georgien und der Ukraine mit der Einverleibung Abchasiens und Südossetiens sowie der Krim gezielt das Tabu der Aneignung fremden Territoriums verletzt. In Syrien stützt er eine schreckliche Diktatur und hat mit der Zerstörung Aleppos der Welt seine Ruchlosigkeit vorgeführt. Und während er mittels seiner Trollfabriken und Staatsmedien in Europa und den USA die gesellschaftliche Spaltung betreibt, hat Putin das eigene Land zum autoritären Staat umgebaut mit ihm selbst als neuem Zaren.
Seltsamerweise hat all dies Putins Reputation im Westen lange Zeit nicht allzu sehr beschädigt. Man beruhigte sich damit, dass auch andere Herrscher und Mächte keine weisse Weste haben. Putin galt als Partner, der zwar vielleicht nicht, wie Gerhard Schröder behauptete, ein «lupenreiner Demokrat» ist, der aber Russland international durch wirtschaftliche Öffnung und vor allem durch Rohstofflieferungen zum verlässlichen Handelspartner gemacht habe.
Westliche und vor allem europäische Politik wollte lange nur dieses Letztere wahrhaben. Über die aggressiven Eskapaden Putins zeigte man sich zwar irritiert, glaubte sie aber mit Beschwichtigung und Dialog einhegen zu können. Dabei war man vielfach sogar bereit, propagandistische Narrative der Russen – die angebliche Demütigung und Bedrohung ihres Landes durch die Nato – als Erklärungen für russische Aggressivität zum Nennwert zu nehmen und sich selber Asche aufs Haupt zu streuen.
Erst nach dem Überfall auf die Ukraine begann man im Westen die grundlegend destruktive Intention des russischen Herrschers zu sehen: Es kann kein Zweifel mehr bestehen, dass Putin vor allem der verhassten EU und dem Westen insgesamt grösstmöglichen Schaden zufügen will. Und zwar tut er das mit einer von langer Hand vorbereiteten Strategie.
Bislang funktioniert dieser Plan, und zwar auch dann, wenn der erste Schlag gegen Kiew fehlgegangen und die Geschlossenheit des Westens zunächst überraschend stark ausgefallen ist. Und er funktioniert, obschon – für Putin wohl eher unplangemäss – Finnland und Schweden wegen des Ukrainekriegs jetzt in die Nato wollen. Denn die ganz grossen Hebel hat nach wie vor Putin in der Hand: Er kann mit der Getreideblockade ganze Teile der Welt in eine Hungerkrise stürzen. Dadurch mobilisiert er einen riesigen moralischen Druck zur Aufhebung der Sanktionen und setzt neue Migrationsströme von Afrika nach Europa in Gang. Zudem hat er mit der über Jahrzehnte gezielt aufgebauten Energieabhängigkeit vor allem des europäischen Wirtschaftsriesen Deutschland ein Mittel in der Hand, mit dem er die jetzt schon wacklige Unterstützung der Ukraine sprengen kann.
Der Westen wird dieser Attacke nur standhalten, wenn sich die Einsicht durchsetzt, dass dieser Krieg einer langgehegten vehementen und planmässig eskalierten Feindschaft entspringt. Sie gilt dem Westen insgesamt, seinem freiheitlichen Pluralismus und seinem Credo von Menschen- und Völkerrecht. Putins jüngster Angriff auf die friedliche Ukraine ist eben keine Reaktion auf eine «Demütigung» Russlands, keine Massnahme gegen eine «Bedrohung» durch die Nato, kein Befreiungsschlag gegen eine geostrategische «Einkreisung». Für Putin muss die Ukraine fallen, weil sie keinen Platz hat in seiner Vision vom grossrussischen Reich, das er als Nachfahre Peters des Grossen und Stalins restituieren will. Mit diesem Grossrussland will er das europäische Projekt einer wertebasierten Staatengemeinschaft vom eurasischen Kontinent fegen und den Raum von Lissabon bis Wladiwostok als Hegemon beherrschen.
Ukrainerinnen und Ukrainer erleben zurzeit, was Feindschaft bedeutet. Ein Feind ist etwas völlig anderes als ein Gegner. Wer einen Gegner hat, ist mit Interessenkollisionen konfrontiert. Da kann man verhandeln. Wer jedoch einen Feind hat, muss sich klar sein, dass dieser ihn vernichten will. Verhandeln kann man da erst, wenn dem Feind die Mittel zur Erreichung seiner totalitären Ziele entzogen sind und er dadurch zum blossen Gegner gemacht wird. Eine solche Zähmung wird nicht dadurch erreicht, dass man dem Feind «eine Brücke baut» oder ihm hilft, «das Gesicht zu wahren». Peer Steinbrück meinte kürzlich im ARD-Talk mit Sandra Maischberger, wer mit Putin verhandle, brauche einen grossen Knüppel unter dem Tisch. Doch bis zur Erreichung des Punkts, da Verhandlungen irgendeinen Sinn machen, ist es wahrscheinlich noch ein weiter Weg.
Putin, das zeigt sein nun sichtbar gewordenes strategisches Kalkül, ist überzeugt, dass der in seinen Augen degenerierte Westen zu wirksamem Widerstand umso weniger bereit sein wird, je stärker er die Kriegsfolgen zu spüren bekommt. Deshalb eskaliert er nicht nur bei den direkten Kriegshandlungen in der Ukraine, sondern zeigt dem Westen immer unverhohlener seine vorbereiteten Folterwerkzeuge: Hungerkrise, Migrationskrise, Energiekrise, gesellschaftliche Spaltung, politische Handlungsunfähigkeit.
Je mehr aber die Menschen im Westen diese teuflische Wette des russischen Kriegsherrn erkennen, desto eher werden sie zum Widerstand bereit sein. Es braucht Entschlossenheit und Leidensbereitschaft, um einem Feind entgegenzutreten. Es ist immer noch möglich, dass der Westen, den Putin sich zum Feind auserkoren hat, diese Lektion lernt.
(In einer früheren Version stand im 4. Absatz statt «Georgien» versehentlich «Armenien».)