Putins Ukraine-Krieg hat die keimenden Hoffnungen auf eine weltweite Entwicklung in Richtung einer regelbasierten Politik gekappt. Europa und die westliche Welt stehen unter Schock. Erst allmählich beginnt man zu verstehen, was da gerade passiert ist.
Nachdem am 1. November 1755 ein Erdbeben und Tsunami weite Teile Lissabons zerstört und rund 30’000 Menschen getötet hatte, stand die aufgeklärte Gelehrtenwelt Europas unter Schock. Das Ereignis fiel in eine Periode des ungestümen Aufbruchs in eine lichte Zukunft. Newton hatte mit seinen Principia Mathematica die Physik auf neue Grundlagen gestellt, Lavoisier mit seiner Theorie der Verbrennungsprozesse das Tor zur modernen Chemie aufgestossen. Geleitet vom Geist der Aufklärung ging auf breiter Front eine stürmische Entwicklung des Wissens vor sich. In der ab 1751 erscheinenden Encyclopédie Diderots und d’Alemberts wurde es triumphierend vorgestellt und verbreitet. Die Philosophie löste das Denken aus religiös-metaphysischen Banden und lehrte die Menschen, ganz auf die Vernunft zu setzen.
Der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646–1716) hatte in der realen Welt gar «die beste aller möglichen Welten» gesehen – nicht etwa aus Naivität, wie Voltaire in seinem satirischen Roman «Candide» unterstellte, sondern mit elaborierten philosophischen Gründen und im Einklang mit dem vernunftgeleiteten Zeitgeist.
Gegen Zensur und Dogmatismus erkämpften namentlich schottische, französische und deutsche Aufklärer ihre Sicht einer rational verständlichen Welt, in welcher der Mensch mit fortschreitendem Wissen die Potentiale der göttlichen Schöpfung zum Guten nutzen kann. Herrscherwillkür und destruktive Politik gehörten für sie einem vergehenden, ja fast schon überwundenen Zeitalter an. Rationalität musste, das gebot nun die Zeit, auch in Moral und zwischenstaatlichen Beziehungen zum leitenden Kriterium werden. Man werde die Welträtsel demnächst lösen, die Staatenwelt zivilisieren, die reichen Früchte des Wissens ernten und ein glückliches Leben führen können – dies die Zuversicht in der Kulminationszeit der Aufklärung.
Mit dem Erdbeben von Lissabon waren diese Gewissheiten hinweggefegt. Die Aufklärung war ins Mark getroffen. Es war ein epochaler Schock.
Der Vergleich mit dem Schock des russischen Angriffs auf die Ukraine liegt nahe, obschon die beiden Ereignisse ganz verschieden sind. Die Naturkatastrophe und der politische Donnerschlag gleichen sich jedoch in der Wirkung: Sie haben Gewissheiten zerstört.
In der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs hatte sich die Vorstellung einer regelbasierten, vertragsförmigen internationalen Politik herausgebildet. Ohne schon weltweit und permanent Geltung erlangt zu haben, wurde sie doch zur Norm; wer ihr nicht folgte, begab sich – zumindest moralisch – ins Abseits.
Für einen ungestümen Optimismus, wie ihn die Aufklärer im 18. Jahrhundert gehegt hatten, reichte das zwar nicht. Die globalen Katastrophen des 20. und die Schrecken des 21. Jahrhunderts waren allzu gegenwärtig. Die Stimmung war eher die einer vorsichtigen, verhaltenen Zuversicht, die am Keimen war, genährt von ein paar hoffnungsvollen Entwicklungen: friedliche Transformation des Ostblocks, Überwindung der Apartheid in Südafrika, Minderung extremer Armut im globalen Süden, Ausbau der EU als europäisches Friedenswerk.
Dennoch gab man sich keinen Illusionen hin. Chinas Expansionsdrang und die innere Zerrissenheit der Weltmacht Nummer eins drangen als permanente globale Gefahrenherde ins Bewusstsein. Zusätzlich flammten immer wieder regionale Brände auf (die russische Annexion der Krim 2014 war einer davon). Trotz solcher Irritationen hat sich jedoch ein gewisses Mass an Zuversicht bis vor zwei Monaten gehalten.
Putins Angriff auf die Ukraine hat diese positive Grundstimmung zerstört. Die militärisch nominell zweitgrösste Macht der Welt hat sich als ein Akteur erwiesen, der kaltblütig den Plan verfolgt, das freie Europa zu vernichten. Putins Russland ist nicht nur skrupelloser Aggressor gegen einen Nachbarstaat. Das wäre schon schlimm genug. Doch darüber hinaus ist diese Nuklearmacht in faschistischen Ungeist abgeglitten und von ideologischem Wahn getrieben. Putin hat das Land auf einen Pfad gebracht, auf dem es für ihn kein Zurück geben kann.
So lange dieses Regime in Moskau an der Macht ist, wird es weder Frieden noch Entspannung geben. Die Hoffnungen auf politische Vernunft haben sich zerschlagen. Dies ist unser Lissabon-Schock von 2022.