Der Italiener Medardo Rosso (1858–1928) belässt seine Figuren im Ephemeren, beim flüchtigen Eindruck des Augenblicks dem Wechselhaften des Visuellen. Dieser «impressionistische» Zug macht sie unverwechselbar. Das Kunstmuseum Basel rückt sie in den Zusammenhang der modernen Plastik.
1906 entsteht Medardo Rossos letzte plastische Erfindung. Er ist 48 Jahre alt und wird noch 22 Jahre lang leben. Diese letzte Erfindung ist «Ecce Puer», ein Kinderkopf, 45 cm hoch, mit verwischtem Gesicht, als schaue er durch einen Vorhang auf den Künstler, der ihn porträtiert. 1906 stellt Medardo Rosso in London aus. Er ist zu Gast bei der Familie Emile und Angela Mond, die ihn beauftragt, den sechsjährigen Buben Alfred William Mond zu porträtieren.
Rosso zeigt ihn, wie er hinter einem transparenten Vorhang die elegante Gesellschaft beobachtet, die sich bei den Monds zu einer Party eingefunden hat. Ab diesem Jahr 1906 erfindet Medardo Rosso keinen neuen Typus seiner Skulpturen mehr. Er beschäftigt sich mit Varianten des zuvor Geschaffenen, mit neuen und Reinterpretationen, mit Installationen seiner Arbeiten und mit Fotografien, die das früher Geschaffene aus immer anderen Blickwinkeln und in anderer Umgebung zeigen.
Immer wieder «Ecce Puer»
Das ist ein wichtiger Charakterzug dieses Bildhauers: Er bleibt während Jahrzehnten bei seinem Thema. Um sich zu wiederholen? Richtiger wäre die Aussage: Er tut dies, um in die Tiefe zu gehen. So sind es denn nicht Wiederholungen des Immer-Gleichen, sondern ein Weitertreiben des Geschaffenen mit dem Mittel der Befragung der skulpturalen Möglichkeiten unter Einbezug des Raumes, der die Skulptur bestimmt – und umgekehrt: den sie bestimmt; auch unter Einbezug des Lichtes, das sich stets ändert, und das er, stets nach dem idealen Kamerastandort suchend, mit dem Medium der Fotografie untersucht. Dem entspricht das Experimentieren Medardo Rossos mit der Inszenierung seiner Skulpturen, mit dem Sockel, mit ihren wie Vitrinen wirkenden Rahmungen.
Der Titel «Ecce Puer» legt eine existenzielle Deutung nahe, denn er erinnert an das biblische «Ecce Homo». Meist richtet sich Rossos Interesse auf Kinderbildnisse: «Enfant du soleil», «Enfant juif» oder «Bambina ridente» sind die Titel. Doch der Künstler widmet sich auch Erwachsenen in alltäglicher Umgebung, der «Portinaia», der Pförtnerin im italienischen Mehrfamilienhaus, Leuten im Omnibus, einer Diskussionsrunde, einem kranken Mann im Spital oder dem «Sagrestano», einem Mann im Alkoholrausch.
Es sind nicht die üblichen Themen der Skulptur. Bilder von Kindern gehören zum Schwierigsten in einer Kunst, welche die Wirklichkeit abbilden will, denn es geht um eine Wirklichkeit im Werden und damit um das Ungefestigte, um ein Leben, das sich erst findet. Ähnliches gilt vom Betrunkenen oder von der Pförtnerin. Der «Sagrestano» befindet sich in einem labilen Bewusstseinszustand; er hat das gesicherte Terrain verlassen. Die «Portinaia» bleibt ein diffuses Bild im Halbdunkel ihrer Loge.
Die Materialien, die Medardo Rosso verwendet, fügen sich zum Fliessen des Lebens. Weicher und formbarer Gips ist Ausgangspunkt für den Bronzeguss, doch oft bleibt Gips das Material der definitiven Fassung. Oft ist der Gips bemalt, oft mit einer Schicht Bienenwachs überzogen. Das weich formbare, organische und wie eine lebendige Haut wirkende Material zeigt die Spuren des Zugriffs der Künstlerhand. Es sind Skulpturen, die nicht von der Kontur bestimmt sind. Ihre Ränder fasern aus. Sie leben aus ihrer modellierten und geformten Mitte heraus.
Anti-Monument
Ein weiterer wichtiger Charakterzug Medardo Rossos ergibt sich aus diesem Bestreben, das Beiläufige, Ephemere und all die fliessenden Übergänge, die das Leben mit sich bringt, Skulptur werden zu lassen. Die (akademische) Plastik des 19. Jahrhunderts, die zeitgleich mit Rossos Werk entsteht, ist weitgehend Monument im öffentlichen Raum: Statuen, Königs- oder Herrscherfiguren mit Zepter in der Hand und Krone auf dem Kopf oder Generäle und Kriegsherren. Sie wirken oft drohend und verkörpern unablässig ihre Macht.
Das entspricht nicht Medardo Rossos Vorstellungen von Skulptur. Seine Figuren sind klein. Sie sind nicht für machtvolle Repräsentation geschaffen, sondern für intime (grossbürgerliche) Interieurs. Medardo Rosso ist im Paris seiner Zeit ein «Künstler-Künstler», das heisst ein Künstler, der vor allem das Interesse einer informierten Kennerschaft weckt und im kulturellen Milieu rezipiert wird. Vielleicht wäre ihm ein breiteres Echo lieber gewesen. Die Radikalität seiner künstlerischen Entscheidungen für das ihm Wesentliche – sie zeigt sich auch in seinen Zeichnungen und den eigenen Fotografien seiner Werke – mag dem aber im Weg stehen.
«Erfindung der modernen Skulptur»
«Medardo Rosso – Die Erfindung der modernen Skulptur» lautet der Titel der Basler Ausstellung. Die Kuratorinnen Heike Eipeldauer (Mumok Wien) und Elena Filipovic (Kunstmuseum Basel) stellen damit den Exzentriker der Jahrhundertwende nicht nur in den kulturellen Kontext seiner Zeit (zum Beispiel mit Werken von Edgar Degas, Umberto Boccioni, Eugène Carrière, Paul Cézanne, Amadeo Modigliani, Odilon Redon, Auguste Rodin oder der Tänzerin Loïe Fuller). Sie stellen ihn auch an den Anfang dessen, was sie die «moderne Skulptur» nennen.
Im Untergeschoss des Neubaus sind in einer monographischen Übersicht Rossos wichtigste Werke versammelt, teils unter Rückgriff auf die Art und Weise, wie der Künstler sein Werk selber inszenierte. Dazu begegnen wir drei um 1887 entstandenen, für ihre Entstehungszeit ikonischen Werken: Rossos Halbfigurenportrait des befreundeten Künstlers Henri Rouart, Cézannes «Badenden» aus dem Kunstmuseum Basel sowie einem Torso Auguste Rodins. Das ist ein guter und aufschlussreicher Einstieg.
Im obersten Geschoss des Neubaus werden die Figuren Medardo Rossos begleitet durch Werke von rund fünfzig Gegenwartskünstlerinnen und -künstlern. Da ist beinahe alles versammelt, was in der Kunst des 20. Jahrhunderts Rang und Namen hat. In neun Ausstellungskapiteln geht es um die «Erfindung der modernen Skulptur» oder, anders gesagt, um Entwicklungslinien, die von Medardo Rosso bis in die Gegenwart weisen – oder eher: weisen können, denn nachweisbare Einflüsse oder gar Abhängigkeiten gibt es kaum. Denn obschon Medardo Rosso bereits zu seinen Lebzeiten und in der ganzen Diskussion um die Skulptur längst als eine der Leitfiguren der Moderne anerkannt ist, sind seine Einflüsse nicht recht fassbar.
Allfällige Zusammenhänge beruhen eher auf Atmosphärischem oder auf einem viel beschworenen, doch mancherlei Wechseln unterliegenden Zeitgeist. Manche Bezüge erscheinen schlicht banal – etwa, wenn Robert Gobers «ohne Titel», ein wächserner, mit Menschenhaar versehener Männertorso in einer Transportkiste aus Kunststoff, mit Medardo Rossos Einsatz von Wachs als Skulpturenmaterial verglichen wird, oder wenn David Hammons‘ «Rock Head» die Kinderköpfe des Italieners paraphrasieren soll. (Nichts gegen Hammons‘ wichtigen Beitrag zur Rassismusdebatte!)
Auch der Hinweis auf mögliche Beziehung von Francis Bacons «Man in Blue» aus dem Wiener Mumok zu Medardo Rossos skulpturalem Umgang mit dem Thema Bewegung im Raum scheint eindimensional. Die Beispiele zeigen, dass die Basler und Wiener Ausstellungsidee einerseits von der Verfügbarkeit der Kunstwerke abhängig ist, und dass sie andererseits auch einer gewissen Unverbindlichkeit unterworfen ist. Medardo Rossos Skulptur-Konzept ist trotz seiner schmalen Thematik so breit und offen, dass sich von ihm aus alle möglichen (teils aber auch wenig belastbaren) Brücken schlagen lassen.
Oft mag, was Eingang in die Ausstellung fand, an diesem Ort wenig zwingend und damit auch austauschbar sein (Fischli/Weiss oder Pamela Rosenkranz, aber auch Miriam Cahn oder Dan Võ): Man zeigt, was eben verfügbar ist und «irgendwie» passt. Andererseits bietet sich in der Ausstellung auch manche wertvolle Gelegenheit zu auf Anhieb schlüssigen Durchblicken oder Denkanstössen. Als Beispiele können Paul Thek, Eva Hesse, Giovanni Anselmo, Hans Josephson oder Maria Lassnig dienen. Bei deren Werken – und anderen, die den Weg nach Basel gefunden haben – bedarf es keines Brückenschlags. Ihre Qualität ist unbestechlich.
Medardo Rosso: Die Erfindung der modernen Skulptur
Kunstmuseum Basel, Neubau
In Zusammenarbeit mit dem Museum für moderne Kunst Mumok Wien
Katalog: 460 Seiten, 59 Franken
bis 10. August 2025
Medardo Rosso
Medardo Rosso (1858–1928) wuchs in Mailand auf, studierte an der Brera-Akademie und wurde Teil einer ersten Avantgarde-Bewegung in Italien, die sich vor sozialistischem Hintergrund für die Erneuerung der Kunst einsetzte. 1884 liess er sich in Paris nieder. 1886 erwarb ein Mäzen vier seiner Bronzen und zeigte sie mit grossem Erfolg an verschiedenen Salons. Rosso richtete sich im 17. Arrondissement eine eigene Giesserei ein, experimentierte neben dem plastischen und zeichnerischen Schaffen mit fotografischen Wiedergabetechniken und begann später auch mit Wachs zu arbeiten. Rosso pflegte Kontakte zu zahlreichen Exponenten des kulturellen Lebens – zum Beispiel mit Apollinaire, Edmond de Goncourt, Valéry, Zola und zu Künstlern wie Degas, Modigliani oder Rodin. Die Beziehungen zu Rodin endeten allerdings im Streit, da Rosso dem Freund vorwarf, ihn in seiner Balzac-Figur kopiert zu haben. 1920 kehrte Medardo Rosso, der sich als «europäischer Anarchist» verstand und von den italienischen Futuristen als ihr Vorläufer angesehen wurde, nach Mailand zurück. 1928 starb Rosso. Noch im gleichen Jahr gründete sein Sohn in Barzio (Lombardei) das Museo Medardo Rosso. In den späten 1950er Jahren wurde Medardo Rosso in Europa und den USA in Ausstellungen gewürdigt. 2003 zeigte das Kunstmuseum Winterthur Medardo Rossos Werk in einer grossen Retrospektive.