
Marine Le Pen ist gestern von einem Pariser Gericht wegen Veruntreuung von EU-Geldern zu vier Jahren Haft, davon zwei auf Bewährung, verurteilt worden. Gleichzeitig wurde ihr das passive Wahlrecht für fünf Jahre entzogen, was bedeutet: Sie kann bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 nicht antreten.
Nach dem Urteil gestern und bereits im Vorfeld haben sie und ihre Parteifreunde, aber nicht nur sie, die französische Justiz massiv attackiert. Genauso wie dies Nicolas Sarkozy in der Woche davor getan hat, nachdem die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft in der so genannten Libyen-Affäre am Ende eines dreimonatigen Prozesses für den ehemaligen Staatschef sieben Jahre Haft gefordert hatte.
Der Druck auf die Richter in der Scheinbeschäftigungsaffäre im EU-Parlament rund um Marine Le Pen war seitens gewisser Kreise in der Politik, der Öffentlichkeit und der der extremen Rechten nahestehenden Presse in den letzten vier Monaten schlicht enorm.
Und doch haben die Richter standgehalten. Wobei sie im Grunde nichts anderes getan haben, als das Gesetz in seiner vom Gesetzgeber vorgesehenen Schärfe anzuwenden.
Letztlich blieben die Richter gegen Marine Le Pen wegen massiver Veruntreuung öffentlicher EU-Gelder ein wenig hinter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmass zurück – Letztere hatte im November vergangenen Jahres eine Haftstrafe von fünf Jahren, davon drei auf Bewährung, und eine Geldstrafe von 300’000 Euro und nicht, wie jetzt, 100’000 Euro, gefordert.
Le Pen nicht mehr wählbar
Doch beim Entzug des passiven Wahlrechts ohne aufschiebende Wirkung, auch im Fall der Berufung, die Marine Le Pen bereits eingelegt hat, blieb das Gericht hart.
Die vorsitzende Richterin sprach wörtlich sogar von einer «erheblichen Störung der öffentlichen Ordnung, die es bedeuten würde, wenn sich eine in erster Instanz verurteilte Person zur Präsidentschaftswahl stellen würde» und erklärte in ihrem Urteil Marine Le Pen für die nächsten fünf Jahre als unwählbar.
Das Gericht sieht es in seiner Begründung als erwiesen an, dass Marine Le Pen über zwölf Jahre hinweg ein System auf die Beine gestellt hatte, durch welches sie insgesamt 4,6 Millionen Euro an EU-Geldern zu Gunsten ihrer Partei, die in grossen finanziellen Nöten steckte, und nicht für die Parlamentsarbeit ihrer Europaabgeordneten verwendet hat. Mit anderen Worten: Rund zwei Dutzend parlamentarische Assistenten der Abgeordneten des «Rassemblement National» waren so gut wie nie in Brüssel oder Strassburg anzutreffen, sondern arbeiteten fast ausschliesslich in der Parteizentrale in Paris. Die von der extremen Rechten so viel gescholtene Europäische Union sei vom «Rassemblement National» über Jahre hinweg als Milchkuh betrachtet worden, so die Richterin.
Paukenschlag
Das Urteil ist zweifelsohne ein echter Paukenschlag in der politischen Landschaft Frankreichs und dürfte in den kommenden Monaten für reichliche Spannungen und Polemiken im Land sorgen. Dabei haben die Richter nichts anderes getan, als den Paragraphen eines Gesetzes anzuwenden, das erst unter dem sozialistischen Präsidenten, Franoçis Hollande, in den Jahren 2016 und 2017 vom Parlament mit den Stimmen aller Parteien verabschiedet worden war.
Es ist ein Gesetz, das für mehr Transparenz und Redlichkeit in der Politik sorgen sollte und auf den Weg gebracht worden war, nachdem Präsident Hollandes eigener Haushaltsminister, Jérôme Cahuzac, 2013 über massive Steuerhinterziehungen und geheime Konten in der Schweiz und in Singapur gestolpert war. Seither müssen z. B. alle Abgeordneten und Minister bei Amtsantritt ihre gesamten Vermögensverhältnisse offenlegen. Und seither gilt eben auch: Ein Politiker, der z. B. wegen Betrugs, Korruption, Steuerhinterziehung oder Veruntreuung öffentlicher Gelder verurteilt ist, verliert unmittelbar das passive Wahlrecht für ein bis fünf Jahre. Eine Berufung hat dafür keine aufschiebende Wirkung.
Marine Le Pen gibt sich als Opfer
Die am Mittag frisch Verurteilte lud sich am Abend in die Nachrichtensendung des Fernsehsenders TF1 ein und griff, wie nicht anders zu erwarten, die Richter mit aller Schärfe an. Diese hätten ein politisches Urteil gefällt und eine Entscheidung getroffen, die dem Rechtsstaat widerspreche, so Le Pen. Im Grunde handle es sich um einen Justizskandal. Und weiter: «An diesem dunklen Tag sind Millionen Franzosen empört, weil sie sehen, dass in Frankreich, dem Land der Menschenrechte, Richter zu Mitteln greifen, von denen man dachte, dass es sie nur in autoritären Regimen gäbe.»
Bereits am Nachmittag hatte Jordan Bardella, der neue Parteichef des «Rassemblement National», das Urteil als Todesstoss für Frankreichs Demokratie bezeichnet und wörtlich gesagt: «Es ist nicht nur Marine Le Pen, die heute zu Unrecht verurteilt wurde. Dieses Urteil ist die Hinrichtung der französischen Demokratie.»
Reaktionen der anderen
Darüber hinaus gibt es Reaktionen aus der restlichen politischen Landschaft Frankreichs, die zu denken geben, ja die etwas Beunruhigendes haben. Es ist, als sei es zusehends fast eine Selbstverständlichkeit, dass sich Politiker nicht mehr gehalten fühlen, eine der Grundfesten der Demokratie, die strikte Gewaltenteilung, zu respektieren.
So sagte etwa selbst der Fraktionschef der konservativen Republikaner und potentielle Präsidentschaftskandidat für 2027, Laurent Wauquiez, es sei ungesund für eine Demokratie, wenn eine Abgeordnete durch ein Gericht daran gehindert werde zu kandidieren. Und wörtlich: «Diese Entscheidung wird für das Funktionieren unserer Demokratie ein schweres Gewicht haben und das ist sicherlich nicht der Weg, den man hätte einschlagen sollen.»
Noch deutlicher wurde der Chef der französischen Konservativen im Europaparlament, François-Xavier Bellamy, der meinte, das Datum des 31. März 2025 werde für die französische Demokratie ein sehr dunkler Tag bleiben.
Und sogar der permanente Poltergeist der extremen Linken, Jean-Luc Mélenchon, Chef von «La France Insoumise», stiess in dasselbe Horn wie die extreme Rechte und einige Konservative. «Einen Volksvertreter abzusetzen, muss dem Volk zukommen und nicht den Gerichten», liess er in den sozialen Medien verlauten.
Die Internationale der extremen Rechten
Und auch über Frankreichs Grenzen hinaus sorgte die Verurteilung Le Pens für z. T. haarsträubende Reaktionen. Innerhalb weniger Stunden stellte sich die Internationale der extremen Rechten fast geschlossen hinter Marine Le Pen.
Vom Kremlsprecher, der sich anmasste, davon zu sprechen, dass das Urteil gegen die «Normen der Demokratie» verstosse, über Victor Orbán, der es wagte, den Slogan nach den Terrorattentaten auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» zu imitieren und auf französisch schrieb: «Je suis Marine» bis hin zu einem Elon Musk, der sich zu dem Satz verstieg: «Wenn die radikale Linke es über Wahlen nicht schafft, missbraucht sie das Justizsystem, um ihre Gegner ins Gefängnis zu werfen.»
Angriffe seit Monaten
Marine Le Pen und zahlreiche Politiker aus der Führungsriege des «Rassemblement National» hatten schon seit dem Verlesen der Strafforderungen der Staatsanwaltschaft vor vier Monaten keine Gelegenheit ausgelassen, immensen Druck auf die Richter auszuüben. Der Staatsanwaltschaft hatte Le Pen wiederholt vorgeworfen, politische Ziele zu verfolgen und gegen sie «die politische Todesstrafe» verhängen zu wollen, die Staatsanwälte seien nur daran interessiert, sie vom politischen Leben auszuschliessen und ihre Partei zu ruinieren, und wolle den Franzosen die Möglichkeit nehmen, diejenigen zu wählen, die sie wählen wollen.
Der neue Parteichef der Ultrarechten, der erst 31-jährige Jordan Bardella, hatte von einem «Racheakt der Staatsanwaltschaft» gegen Le Pen gesprochen, von einem Angriff auf die Demokratie und einem Versuch, Millionen Franzosen ihrer Stimme zu berauben.
Und bereits in den letzten Tagen vor dem gestrigen Richterspruch hatte die Partei auch ihre Basis mobilisiert und liess Parteimitglieder drohen, sie würden im Fall der Unwählbarkeit von Le Pen nach Paris marschieren. Gestern dann, nach dem Urteil, hat Parteichef Bardella prompt und ganz offen zu einer «populären und friedlichen Mobilisierung» gegen das Gerichtsurteil aufgerufen – was immer das auch heissen mag.
Bemerkenswert: Auch eine ganze Reihe von konservativen Politikern hatten bereits im Vorfeld die Forderungen der Staatsanwaltschaft gegen Le Pen und Konsorten in der Öffentlichkeit eindeutig kritisiert, ja schlimmer noch: Selbst Regierungschef François Bayrou hatte sich ebenfalls im Vorfeld schon zu der Äusserung hinreissen lassen, er würde es ungerecht finden, wenn sich Marine Le Pen nicht zur Wahl stellen könnte. Und nach dem gestrigen Richterspruch liess er durch seine unmittelbare Umgebung erklären, er sei durch das Urteil «verstört».
Einen Premierminister, der Forderungen der Staatsanwaltschaft und dann eine Gerichtsentscheidung kommentiert, ja fast kritisiert, hatte man in Frankreich bislang noch nie erlebt. Besonders heikel, ja geradezu peinlich dabei ist: Mehrere EU-Abgeordnete von Bayrous Zentrumspartei MoDem waren vor geraumer Zeit für exakt dieselben Vergehen verurteilt worden, wie sie jetzt den Politikern des «Rassemblement National» vorgehalten wurden.
Sarkozy kocht
Ähnlich virulenten Angriffen wie im Fall Le Pen sah sich die französische Justiz nur eine gute Woche früher auch in einer anderen, noch wesentlich schwerwiegenderen Politikaffäre ausgesetzt.
Nach mehr als zehn Jahre dauernden gerichtlichen Untersuchungen und einem auf drei Monate angesetzten geradezu historischen Prozess, in dem Ex-Präsident Nicolas Sarkzoy der Korruption, der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der illegalen Finanzierung seines Präsidentschaftswahlkampfs 2007 mit Millionensummen des libyschen Diktators Gaddafi angeklagt ist, hat die Finanzstaatsanwaltschaft letzte Woche gegen Sarkozy eine Haftstrafe von sieben Jahren gefordert. Und dies mit einer für einen ehemaligen Staatschef absolut vernichtenden Begründung.
Darin heisst es unter anderem, Nicolas Sarkozy habe im Oktober 2005, als er noch Innenminister war, mit Blick auf seine Präsidentschaftskandidatur 2007 «einen faust'schen Korruptionspakt mit einem der blutrünstigsten Diktatoren der Welt» geschlossen, einen «unvorstellbaren, unerhörten und schamlosen» Pakt, «um seinen alles verschlingenden, politischen Ehrgeiz zu befriedigen». Ein Korruptionspakt, in dem Nicolas Sarkozy gegen Millionensummen für seinen Wahlkampf dem Machthaber in Tripolis, für den Fall seines Wahlsiegs 2007, eine Art diplomatische Rehabilitierung auf der internationalen Bühne sowie eine Reihe interessanter Milliardengeschäfte, darunter sogar den Verkauf eines französischen Atomkraftwerks, in Aussicht gestellt haben soll.
Kaum waren letzte Woche die vernichtenden Worte der Staatsanwälte gefallen, veröffentliche Nicolas Sarkozy, der während seiner Präsidentschaft Richter und Staatsanwälte schon mal als «kleine Erbsen» bezeichnet hatte, ein Communiqué, in dem er etwas kryptisch, aber doch kräftig gegen die Staatsanwaltschaft austeilte, auch wenn seine Argumente etwas hilflos wirkten, wie es schon während des Prozesses regelmässig der Fall gewesen war.
Laut Sarkozy handle es sich bei der Strafforderung um nichts mehr als um «intellektuelle Konstruktionen, die sich die Anklage zusammengezimmert habe». Seit 13 Jahren versuche die Finanzstaatsanwaltschaft mit allen denkbaren Mitteln seine Schuld zu beweisen, wobei keine der Fakten, die seine Verteidigung vorgebracht habe, das ideologische Postulat der Anklage habe erschüttern können. Weiter wörtlich: «Die Falschheit und Heftigkeit und das übertriebene Ausmass der geforderten Strafe dienen nur dazu, die Schwächen der Anklagen gegen mich zu kaschieren.» Also spricht und schreibt ein ehemaliger französischer Präsident im Jahr 2025.
Rolle der Presse
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang und nicht zu unterschätzen ist, in einer Zeit, in der in zahlreichen Ländern nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch die freie und unabhängigen Presse immer stärker unter Druck, wenn nicht gar unter Beschuss geraten: Beide Affären, von denen hier die Rede ist, wurden von der 2008 durch Edwy Plenel, dem ehemaligen Direktor der Redaktion von «Le Monde» gegründeten, bis heute unabhängigen, investigativen Informationsplattform «Mediapart» aufgedeckt und ins Rollen gebracht. In beiden Fällen war die Justiz erst in Folge einer Reihe von Artikeln dieser Webzeitung aktiv geworden.
Die Presse als Korrektiv, als Gegenmacht zur Politik in einem Rechtsstaat – Jahrzehnte lang schien das in den westlichen Demokratien eine allseits anerkannte Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit. Angesichts des inzwischen herrschenden, antidemokratischen Klimas in immer mehr Ländern darf man sich fragen, ob das immer noch der Fall ist und, wenn ja, wie lange noch.
Zumal in Frankreich nun bereits seit mehreren Jahren gleich zwei Multimilliardäre dabei sind, mit Hilfe ihres Geldes einen mittlerweile beachtlichen Teil der Medien auf ultrarechten Kurs zu bringen. Ein Infofernsehen, eine Radioanstalt und eine Wochenzeitung sind bereits ganz unverblümt zu Sprachrohren des «Rassemblement National» geworden.
Doch das ist eine andere Geschichte …