Switlana weint um ihren Bruder Mykhailo Tereshchenko. Er war am Wochenende bei Kämpfen im Donbass getötet worden. Jeden Tag sterben bis zu 200 ukrainische Soldaten. Ist dieser Preis nicht zu hoch?
«Wir alle sind gegen Putin. Wir alle sind bereit, Opfer zu bringen», sagt eine ukrainische Studentin. Alle ihre Bekannte seien überzeugt, dass dieser Kampf gegen Russland nötig sei.
Dennoch: Eine ihrer Freundinnen habe eben ihren Freund auf dem Schlachtfeld verloren. Sie habe sich eingeschlossen und verfluche diesen Krieg. Und sie frage sich, was man sich in der Ukraine nicht fragen sollte: «Hätten wir Putin nicht entgegenkommen sollen? Dann hätte ich wenigstens meinen Freund behalten.»
Wenige sprechen dies offen aus. Im Klartext heisst die Frage: Soll man einem schrecklichen Despoten den Sieg gewähren, damit man seinen Freund, seinen Ehemann, seinen Vater nicht verliert? Unter russischer Herrschaft, heisst es, hätte man wenigsten seine Angehörigen nicht beerdigen müssen – und die Stadt und das Dorf wären nicht dem Erdboden gleichgemacht.
Mutiges Zusammenstehen
In vielen anderen Ländern wären solche Meinungen wohl verbreitet. In der Ukraine hört man sie selten. Die Abscheu vor der russischen Diktatur ist so gross, dass man noch immer mutig, fast beispiellos zusammensteht. Das liegt auch an Präsident Selenskyj, der mit fast übermenschlicher Kraft versucht, das Land zusammenzuhalten.
Noch findet eine überwiegende Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer, man müsse Opfer bringen, um Putin zu besiegen. Doch je länger der Krieg dauert, je mehr Beerdigungen stattfinden, desto grösser wird die Gefahr, dass diese Haltung bröckelt.
Westliche Werte über den Haufen werfen?
Im Westen hat das Bröckeln bereits begonnen – aus wirtschaftlichen Gründen. Macron sagt, man dürfe Putin nicht demütigen. Und Scholz tut das, was er am besten kann: Er laviert und windet sich. Auf der anderen Seite stehen Joe Biden, Boris Johnson und Mario Draghi.
Eigentlich geht es um die Frage: Ist der Westen bereit, das westliche Wertesystem über den Haufen zu werfen? Ist er bereit, einem Diktator, einem Kriegsverbrecher zum Sieg zu verhelfen?
Vergewaltigtes Völkerrecht
Die westlichen Werte basieren unter anderem auf dem internationalen Völkerrecht, das den einzelnen Staaten feste Grenzen und Souveränität zubilligt. Die Ukraine (inklusive der Krim) ist ein völkerrechtlich anerkannter Staat.
Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hat die internationale Gemeinschaft begonnen, eine allgemein gültige Rechtsordnung auszuarbeiten, die sich gegen Diktatur und Gewalt richtet. In Hunderten Konferenzen wurden Regeln und Abkommen ausgearbeitet, die ein menschenwürdiges, gewaltloses Zusammenleben der Völker ermöglichen sollen. Wichtigste Errungenschaft war die Uno-Charta. Alle Staaten der Welt, auch Russland haben dieses Regelwerk ratifiziert, das einmalig ist in der Menschheitsgeschichte ist.
Putin ist dabei, diese Prinzipien, das ganze westliche Wertesystem, über den Haufen zu werfen: Er greift zu Terror und Kriegsverbrechen, er vergewaltigt das Völkerrecht und bricht damit alle Normen, auf denen die europäische Friedensordnung beruht.
Zwischen zwei schlechten Lösungen wählen
Wenn der Westen bereit ist, dies zu akzeptieren, dann verleugnet er sich selbst. Wer einem Diktator nachgibt, wer sich zu seinem Komplizen macht, wirft seine hehren Prinzipien über Bord.
Da sind sich fast alle einige. Aber: Politiker haben auch die Aufgabe, für das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Politik besteht darin, zwischen zwei schlechten Lösungen die weniger schlechte zu wählen. Soll sich der Westen also ein wenig verleugnen und dem Kriegsverbrecher Putin nachgeben – mit dem Ziel, die westliche Wirtschaft zu retten? Brutaler gefragt: Soll man die Ukraine opfern, damit der Westen nicht allzu grossen Schaden nimmt?
Bei dieser Frage hört die Einigkeit auf. Der Druck, den der Krieg auf die westliche Wirtschaft ausübt, wird grösser und grösser. Und lauter und lauter wird im Westen der Ruf, das Massensterben mit einigen Konzessionen an den Diktator zu beenden.
«Russische Erde» heimholen
«Konzessionen machen» – das heisst: Die Ukraine müsste einen Teil ihres Landes abgeben: sicher den ostukrainischen Donbass und weite Teile im Süden.
Im Hinterkopf wissen die Konzessionswilligen ganz genau, dass sich Putin nicht mit der Süd- und der Ostukraine begnügen wird. Das haben er und seine Entourage mehrmals deutlich ausgedrückt. Putin will, wie Zar und Kaiser Peter der Grosse, die «russische Erde» zurückholen. Dazu gehören seiner Meinung nach das Baltikum, Teile von Polen und Finnland, Moldawien und Teile ehemaliger GUS-Staaten.
Was sind schon vier Raketenwerfer?
In der Ukraine fürchtet man, dass sich im Westen eine Kriegsmüdigkeit breit macht. Fast täglich rüttelt die ukrainische Regierung den Westen auf. Die Botschaft lautet: «Wir brauchen dringend schwere Waffen, sonst verlieren wir den Krieg.»
Der Westen hat zwar viele Waffen geliefert, auch moderne, auch schwere. Doch das reicht nicht. Die russischen Streitkräfte sind den ukrainischen weit überlegen. Was sind schon hundert Haubitzen und einige Artillerie-Batterien für eine tausend Kilometer lange Front, die von Charkiw im Norden bis ans Schwarze Meer reicht? Selbst vier hochmoderne amerikanische Raketenwerfer, die frühestens in einem Monat eingesetzt werden können, werden das Kriegsgeschehen kaum fundamental beeinflussen. Ein ukrainischer Militär sprach von der «Selbstgefälligkeit» des Westens. Da werden einige Waffen geliefert, und man glaube, das reiche. «Nein, das reicht nicht, wir brauchen hundert Mal mehr Waffen, um die Russen zurückzudrängen.»
Entscheidende Phase
Joe Biden, Boris Johnson und andere westliche Führer stehen nun vor einer ganzen schwierigen Entscheidung. Wie soll es weitergehen? Der Krieg ist jetzt in eine entscheidende Phase getreten.
Soll der Westen die Ukraine mit weit mehr modernen, schweren Waffen aufrüsten – auf die Gefahr hin, dass westliche Staaten, vielleicht sogar die Nato, in einen Krieg hineingezogen werden?
Wem geht zuerst die Luft aus?
Oder: Fährt man so weiter wie bisher mit mässigen Waffenlieferungen – in der Hoffnung, dass den Russen bald einmal die Luft ausgeht. So unmöglich ist das nicht. Die russischen Bodenstreitkräfte haben ein Drittel ihres Bestandes verloren. Die Moral der Truppe bleibt schlecht. Ein grosser Teil ihrer modernen Munition ist verschossen. Die Frage ist: Wer muss zuerst Zugeständnisse machen, die Russen oder die Ukrainer?
Eine diplomatische Lösung scheint nicht in Sicht. Da Putin glaubt, den Sieg, oder zumindest einen Teilsieg, zum Greifen nahe zu haben, will er auf dem Schlachtfeld Tatsachen schaffen.
Vorposten der freien Welt
Die Bevölkerung in der Ukraine fürchtet, vom Westen im Stich gelassen und geopfert zu werden. Einige glauben, sie müssten für den Westen die Kohlen aus dem Feuer holen.
Andere beklagen, dass im Westen zu wenig verstanden wird, dass es hier nicht nur um die Ukraine geht, sondern um ganz Europa. Die Ukraine als Vorposten der freien Welt. «Wir opfern Tausende unserer Söhne und Männer», sagt eine Ukrainerin. «Und wir opfern sie auch für Euch im Westen.»