Al-Jazeera machte auf seinem Portal eben eine ebenso nüchterne wie bedenkenswerte Rechnung auf: Russland hat in 100 Tagen Ukraine-Krieg die Rekordsumme von 98 Milliarden Dollar für den Export von Erdöl und Gas kassiert, mehr als jemals zuvor für die gleiche Menge. Am Tag danach zitierte das Internet-Portal der deutschen ARD den russischen Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow mit Hinweisen auf die in Russland zu erwartende Inflation – sie werde auf jeden Fall geringer sein als noch vor wenigen Wochen prognostiziert.
Am selben Tag reduzierte Gazprom, einmal mehr, die Menge des durch die Pipelines gepumpten Erdgases in Richtung West-Europa – mit Blick, gewiss, auf den schon wieder massiv steigenden Preis auf dem Weltmarkt.
Hat Selenskyj recht?
Woraus wir schliessen müssen: Die bisher vom Westen gegen den Krieger Russland ergriffenen Sanktionen haben wirtschaftlich nichts Grundlegendes bewirkt. Also hat der ukrainische Präsident vielleicht recht mit seiner täglich an die Adresse aller West-Regierungen gerichteten Forderung, nämlich dass sie Putins Reich total isolieren, also jegliche Beziehung mit Russland beenden und nicht lediglich die Mengen an importierten Rohstoffen reduzieren müssten.
Entschliesst man sich nur zur Reduktion, setzt man jene Marktmechanismen in Bewegung, die besagen, dass Mangel unweigerlich zu Preissteigerungen führt. Russland kann sich jedenfalls seit dem Beginn seines Kriegs gegen die Ukraine darüber freuen, dass die Preise (pro Einheit) für sein Export-Öl und -Gas um 60 Prozent gestiegen sind.
Also müsste man sich im Westen darüber klar werden, dass nur ein Total-Stopp des Imports aus Russland wirklich Druck auf Putin ausüben könnte. Wolodimir Selenskyj fordert das ja praktisch jeden Tag, und wahrscheinlich hat er recht. Wobei auch für diesen, für die Wirtschaft vieler westeuropäischer Länder ruinösen Vorschlag, die Ungewissheit bleiben würde, nämlich wie schnell und wie intensiv sich Russland hinsichtlich des Exports umpolen könnte. China ist schon jetzt der wichtigste Abnehmer von Gas und Öl aus Russland (im globalen Vergleich von etwa 20 Prozent), vor Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei.
Aber andere Länder, etwa Indien, scheinen begierig darauf, russisches Erdöl zu günstigen Preisen zu erwerben. Wie viel das dem Kreml einbringen würde, ist zwar noch unklar, aber es könnte sich doch um einen substantiellen Betrag handeln.
Derweil jetten Regierungsmitglieder aus westlichen Ländern, vor allem aus Deutschland, kreuz und quer durch die Welt auf der Suche nach Alternativen zum Paria Russland. Eben wurde man im östlichen Mittelmeer fündig – ab 2023 könnte aus Israel stammendes und in Ägypten verflüssigtes Gas nach Europa gepumpt werden. Wie viel? Nun ja, so um die zehn Milliarden Kubikmeter. Nur importierten die EU-Länder bisher aus Russland pro Jahr etwa 155 Milliarden. Aber da gibt es ja auch noch Qatar, und es gibt oder gäbe ebenfalls noch (teures) Öl und Gas aus den USA …
Was ist das Ziel?
Die hektische Suche nach Antworten auf die Frage, was es alles braucht, um Russland wirtschaftlich so zu schaden, dass Putin seiner Kriegsmaschinerie den Stecker ziehen müsste, wird ergänzt durch die ebenso hektische Suche im Bereich des Militärischen. Wie viele Panzer, Haubitzen, Drohnen, wie viel Munition muss oder müsste geliefert werden, dass die Ukraine den Wettlauf gegen die Zeit im Zermürbungskrieg gewinnen könnte (die Ukraine fordert 2000 gepanzerte Fahrzeuge, 500 Panzer und 1000 Haubitzen)?
Derzeit sieht es so aus, als hätte der Angreifer Russland mehr Ressourcen als die ukrainischen Verteidiger. Täglich sterben, nach Angaben Kiews, etwa 200 ukrainische Soldaten, und ein ukrainischer Kommandeur sagte eben: «Wir sind faktisch entwaffnet.» Weder Kanzler Scholz noch Präsident Macron oder Italiens Ministerpräsident Draghi konnten bei ihrem Besuch in Kiew und Umgebung gegenüber solchen verzweifelten Aussagen das versprechen, was ihnen neue Gewissheit gegeben hätte.
Auch die Europäische Union kann das mit ihrem (zu erwartenden) «Geschenk» als Beitrittskandidat nicht bieten. Alle wissen, dass zeitlich zwischen diesem Status und substantiellen Beitrittsverhandlungen, ganz zu schweigen von einem Beitritt, nicht ein paar Jahre, sondern eher Jahrzehnte liegen können.
Eine Unklarheit jagt die andere
Aus all dem sollte sich eigentlich die Grundfrage ergeben: Macht es Sinn, auf der seit dem 24. Februar vom Westen gegen den Angreifer Russland gewählten «Schiene» weiter zu fahren, führt all das zum angestrebten Ziel? Da muss gleich eine zweite Frage angehängt werden: Was ist das Ziel? Sieg über Russland so, wie das US-Verteidigungsminister Lloyd Austin formuliert hat, also massive Schwächung (und, so sagte er das zwar nicht, aber es war so gemeint) Demütigung Russlands? Oder brüchiges Zwischenresultat des Konflikts im Sinne Macrons, der sich immer wieder dahingehend äussert, dass man mit der russischen Führung trotz allem eine Art von Normalität anstreben müsse?
Eine Unklarheit jagt die andere – im Bereich der Wirtschaft, des Militärischen, der grossen Politik. Eher über kurz als über lang müssen sich die Regierungen in Europa darüber Klarheit verschaffen, was sie wollen, was sie können, und wo die Grenzen ihrer Möglichkeiten liegen.