
Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, projiziert für sein nur 119 Seiten umfassendes Buch «Wenn Russland gewinnt» die Jetzt-Situation ins Jahr 2028. Es ist, wie er betont, nur eines von mehreren möglichen Szenarien, beansprucht also keine Allgemeingültigkeit – und besitzt dennoch eine Suggestivkraft, der sich der Leser kaum entziehen kann.
Seine grundlegende Überzeugung ist: Die Führung Russlands (und jene Chinas) arbeiten konsequent, teils koordiniert, teils eigenständig vorgehend, an der Etablierung einer neuen Welt-(Un)Ordnung. Sie sind fest entschlossen, der westlichen Werte-Gemeinschaft unter Vorherrschaft der USA den Garaus zu machen. Beide, Russland wie China, testen die «Hüter» dieser alten Ordnung mit Nadelstichen – China mit immer mehr Druck auf Taiwan und die Anrainerstaaten des südchinesischen Meers, Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine. Haben sie ein angeblich begrenztes Ziel erreicht, planen sie den nächsten Schachzug.
Zermürbt und ermattet
China streift Carlo Masala in dieser Publikation nur am Rande – im Zentrum steht das, was Wladimir Putin und allenfalls dessen Nachfolger bezwecken. Er entwirft dieses Szenario: Im Jahr 2028 lässt der russische Präsident mit dem Fantasienamen Obmantschikow, Nachfolger des im Hintergrund noch immer einflussreichen Wladimir Putin, die estonische Stadt Narva, direkt an der beidseitigen Grenze, besetzen. Der Ukraine-Konflikt ist da schon seit drei Jahren, also seit 2025, «eingefroren», denn die Ukrainer und die westlichen Länder haben sich, zermürbt und ermattet durch den seit 2022 tobenden Konflikt, damit abgefunden, dass die Regierung in Kiew die von der russischen Armee eroberten Regionen im Donbass und die Krim nicht zurückgewinnen kann.
Was wird die Nato in diesem Szenario, also im Jahr 2028, tun, als Reaktion auf eine angeblich begrenzte «Spezialoperation» der Russen? Wird sie den Artikel 5 ihres Vertragswerks aktivieren, das heisst, aus Solidarität mit dem kleinen Estland am Rande des Bündnisgebiets das Risiko eingehen, dass aus einem angeblich begrenzten Streit (den die Russen ja, so das Szenario, nur begonnen haben, um die russische Bevölkerung in Narwa vor Diskriminierung durch die Regierung in Tallinn zu beschützen) ein Weltkrieg wird? Das wird die Nato vermeiden wegen der Unlust des US-Präsidenten, in einen Krieg fern der eigenen Grenzen verwickelt zu werden – aber auch aufgrund von Uneinigkeit innerhalb der Gruppe der europäischen Mitglieder der Nato. Also kann oder könnte Russland weiter nach Europa vordringen, ohne grösseres Risiko.
Masala beendete die Arbeit an seinem Szenario im Januar, also wenige Tage nach der Amtseinsetzung von Donald Trump, konnte also nur vage abschätzen, wie der alt-neue US-Präsident sich hinsichtlich des Problemkomplexes Ukraine/Russland verhalten würde.Er erkannte aber schon damals: Die Partnerschaft zwischen den USA und Europa ist Vergangenheit, eine Solidarität mit der Ukraine gibt es nicht mehr, schein-harmonische Beziehungen mit Moskau haben Priorität.
Fatale Bruchlinien
Gewisse Passagen in seinem Buch hätte er, aufgrund der in der Zwischenzeit gemachten Erfahrungen, wohl noch etwas zugespitzt – an der Prägnanz der Schlussfolgerung aber hätte er nichts ändern müssen, nämlich: Sollte Russland sich dazu entschliessen, den Westen nach dem Abschluss eines provisorischen Waffenstillstands in der Ukraine (etwa entlang der jetzigen Frontlinien) auf die Probe zu stellen, wird er nicht mit einem einigen und zu entschlossenen Handeln fähigen Westen rechnen müssen, im Gegenteil: Da gibt es eine eklatante Spaltung nicht nur zwischen Europa-Nato und den USA, sondern da gibt es auch politische Bruchlinien innerhalb mehrerer europäischer Länder, vor allem in all jenen, in denen rechts- oder linkspopulistische Parteien erstarkt sind. Dort, wo die Bruchlinien tief sind, würden die Regierungen wie gelähmt vor der Frage stehen: Ja zur Solidarität mit einem angegriffenen Land oder Nein? Im Zweifelsfalle und bei schwierigen innenpolitischen Verhältnissen wohl Nein.
Der Schluss-Abschnitt lautet «Was tun?» Carlo Masala meint: «Es gibt nur eine erfolgversprechende Strategie, um das in diesem Buch beschriebene Szenario zu verhindern: die Abschreckung des russischen Militärpotentials und die Eindämmung der machtpolitischen Ambitionen des Kremls. Dazu ist es notwendig, dass die Anstrengungen, die man im Bereich der Ausrüstung von Streitkräften (sowohl materiell wie auch personell) in den letzten drei Jahren unternommen hat, auch in Zukunft betrieben werden.»
Allerdings: Selbst wenn man sich in Europa dazu durchringen würde, bald mehr als doppelt so viel Geld für Rüstungsgüter und das Militär auszugeben als heute, also im Schnitt die Verteidigungsausgaben von jetzt etwa zwei Prozent auf fünf Prozent zu steigern und entsprechende Kürzungen etwa bei Sozialausgaben oder der Bildung in Kauf zu nehmen, selbst dann bliebe offen, ob sich die einzelnen Nato-Staaten im Falle eines Falls darauf einigen könnten, den Artikel 5 des Nato-Vertrags zu aktivieren. Das aber ist oder wäre entscheidend: Ein einzelnes Land könnte sich gegen die russische «Dampfwalze» nie allein verteidigen, in Gemeinschaft mit den anderen europäischen Nato-Mitgliedsstaaten aber durchaus – wohl auch ohne die USA. Also ist das Politische letzten Endes wichtiger als die Höhe der Verteidigungsausgaben einzelner Länder.
Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt – ein Szenario. 119 Seiten, C. H. Beck, München, 3. Auflage 2025, 19 Euro