«Wir haben uns geirrt!» Kaum eine Diskussion um den Krieg in der Ukraine und dessen Verursacher Wladimir Putin ohne diesen Satz. Man habe sich – Politiker oder Leitartikler – in diesem Mann und seinen Absichten geirrt. Und nun? Gut, dass es den Irrtum gibt. Spätestens seit dem römischen Philosophen Seneca kann sich immerhin jeder darauf berufen, dass Irren menschlich sei. Haben wir alle also damit die bequeme Möglichkeit, haben auch Politiker ein Recht auf Irrtum?
Kurz nach Kriegsende hatte genau diese Frage («Maier gegen Maier») in Baden-Württemberg sogar einmal zu einer heftigen rechtlichen Auseinandersetzung geführt. Es ging um das Ja mittlerweile führender konservativer und liberaler Politiker bei der Reichstags-Abstimmung im März 1933 zum so genannten Ermächtigungsgesetz der Nazis. Endgültig geklärt wurde der Streit seinerzeit freilich nicht. Vergangenheit? Nutz-, ja sinnloses Bohren in der Geschichte? Natürlich sind historische Vergleiche in aller Regel problematisch. Aber sie erlauben dennoch nicht selten Einblicke in menschliches Verhalten.
Warum hat man Putin nicht zugehört?
Zum Beispiel gegenwärtig im Zusammenhang mit dem von Russlands Diktator befohlenen Überfall auf die Ukraine. Wo und wann immer in Deutschland über den Machthaber im Kreml und dessen Motive diskutiert und gerätselt wird, ist schnell die Formulierung bei der Hand, «Ich habe mich geirrt». Bundeskanzler Olaf Scholz spricht so, Abgeordnete nahezu aller Parteien tun es, Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft schliessen sich an. Nein, einen solchen Sinneswandel, heisst es allenthalben, habe man sich bei Putin nicht einmal im Traum vorgestellt. Es sei ja wahr – dass man dem einstigen KGB-Mann wohl nicht aufmerksam genug zugehört, seine Aufsätze nicht wirklich ernsthaft gelesen habe. Das sei («aus heutiger Sicht») wahrscheinlich «ein Fehler» gewesen. Dennoch: «Wer hätte das denn ahnen können?»
So billig, allerdings, lässt die Öffentlichkeit ihre Repräsentanten nicht davonkommen. Vor allem die Medien als selbst ernannte Obwalter der Gesellschaft nageln die Angehörigen des politischen Gewerbes gegenwärtig gnadenlos an die Wand. Wieso, lautet die allgemeine gedruckte oder gesendete Anklage, hat so etwas wie der Ukraine-Krieg überhaupt geschehen können? Warum wurden die – von Putin immer wieder befohlenen – zahlreichen militärischen Aufmärsche an den Grenzen zur Ukraine oder zu den Baltischen Staaten nicht ernst genommen? Aus welchen Gründen hat der Westen immer nur mit lauen Protesten und halbherzigen Sanktionen reagiert, als der Kreml-Herr 2014/15 in der Ost-Ukraine erst Aufstände inszenierte, anschliessend handstreichartig die Halbinsel Krim besetzte und annektierte sowie im Zuge der Unruhen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien die dortige Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche bombardieren liess? Und weswegen, um alles in der Welt, konnten die Warnungen sowohl der USA, besonders aber der östlichen Partner vor der Erdgasleitung «Nordstream 2» und der damit verbundenen totalen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas einfach in den Wind geschlagen werden?
Die Export-Nation braucht billiges Gas
Alles ohne jeden Zweifel richtig. Jeder dieser Vorwürfe trifft ins Schwarze. Allerdings wären sie überzeugender, würden sie nicht oft genug von genau denselben Kritikern erhoben, die zuvor mit Lust und wohl oft auch aus Überzeugung das Hohe Lied von der «Friedensdividende» gesungen und die (in ihren Augen) ohnehin schon lange überfällige «Umsteuerung» der öffentlichen Finanzen von der «Sicherheit» zum «Sozialen» gepredigt haben. Denn schliesslich – waren wir denn nicht umgeben nur noch von «einer Welt von Freunden»? Nochmal – die kritischen Fragen sind allesamt berechtigt. Aber vor Tische hatte man es halt anders gelesen. Ist doch klar, hiess es da fast unisono auch in den so genannten Leitmedien, dass die Amis gegen das Gasprojekt durch die Ostsee sind. Die wollen schliesslich («und zwar für teures Geld») ihr eigenes, mit Fracking-Technik gefördertes, Flüssig-Gas verkaufen. Und was die Osteuropäer angeht, so müssen wir endlich aufhören, nur nach deren Interessen zu handeln. Immerhin sind wir eine Export-Nation und brauchen daher billige Energie aus Russland!
Wiederum: Alles richtig. Nur jetzt eben mit den um 180 Grad gewendeten Argumenten. Man werde sich ja schliesslich auch mal irren dürfen. Natürlich darf man das. Zumindest als Bürger. Aber «die Politik» darf das selbstverständlich nicht. Wozu haben wir «die da oben in Berlin» denn gewählt? Damit sie ihrem Amtseid genüge tun können, Schaden von uns abzuwenden und unseren Nutzen zu mehren! Ausserdem verfügen die doch auch über die entsprechenden Informationen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen! Wenn dieses Argument wirklich ernst gemeint sein sollte, dann müsste das – im Umkehrschluss – doch eigentlich bedeuten, dass wir Bürger unseren Kanzlern, Regierungen und Parteien zugestehen, tiefgreifende politische Entscheidungen auch und gerade dann zu treffen, wenn diese sich nicht im Einklang mit der gesellschaftlichen Mehrheitsstimmung befinden.
Dem Volk aufs Maul schauen
Politisch und geschichtlich nachdenkliche Zeitgenossen sind ohnehin der Auffassung, dass genau solches notwendig sei. Martin Luther hatte zwar «die Pfaffen» gemeint, als er einst von der Kanzel der St.-Georgs-Stadtkirche im thüringischen Schmalkalden predigte, sie sollten dem «gemeinen Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach dem Mund reden». Aber diesen Satz könnten – ja müssten – sich verantwortliche Politiker heute genauso hinter die Ohren schreiben. Bloss hindert sie an den dafür notwendigen Mutproben meistens bereits der einfache Gedanke an bevorstehende Wahlen.
Deshalb liegt genau hier der Hase im Pfeffer. Denn irgendwo im deutschen Lande sind schliesslich immer Wahlen. Mitunter sogar mehrere im Jahr. Und werden nicht – gefühlt – nahezu täglich die Ergebnisse neuester Meinungsumfragen veröffentlicht, aus denen hervorgeht, welcher Politiker und welche Partei in der öffentlichen Gunst gerade um den Faktor x gestiegen bzw. gesunken sind? Natürlich besteht wirkliche politische Kunst und Verpflichtung gerade darin, in schwierigen Zeiten unpopuläre Entscheidungen mit vielleicht schmerzhaften Folgen für die Gesellschaft zu treffen. Aber mal ernsthaft gesprochen – entspricht es nicht sehr viel eher dem menschlichen Charakter, sich vom Hauptstrom treiben zu lassen? Das gilt doch im politischen Leben genauso wie für kluge, feinsinnig formulierende Leitartikler. Und für die bürgerliche Mehrheit sowieso.
Immer gegen die Mehrheitsmeinung
Dabei würde schon ein oberflächlicher Blick in die Geschichtsbücher zeigen, dass praktisch alle grossen und für die Zukunft des Landes massgeblichen Entscheidungen nach dem Krieg in der Bundesrepublik gegen die gerade herrschenden Mehrheitsmeinungen im Volk getroffen wurden. Das begann mit dem Votum für das ökonomische System der sozialen Marktwirtschaft und damit gegen eine weitgehende Verstaatlichung, wie sie ursprünglich sogar auch von der CDU gefordert worden war. Weitere Marksteine: Westbindung statt Neutralität, deutsche Wiederbewaffnung inmitten einer «Nie-Wieder-Stimmung»; Verabschiedung von Notstandsgesetzen zur Überwindung des Besatzungsrechts; Ostverträge mit Verzicht auf die einstigen Ostgebiete als Voraussetzung für die spätere Wiedervereinigung; Nachrüstung mit atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen trotz massivster Proteste und nicht selten in Gewalt endenden Demonstrationen; Aufgabe der geliebten D-Mark zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung sowie der Festigung der europäischen Gemeinschaft.
Vieles, wenn auch nicht alles, erwies sich als Glücksfall für das Land und seine Bürger. Besonders europapolitisch gestaltete sich die allzu rasche und, vor allem, umfangreiche Aufnahme von gesellschaftlich wie wirtschaftlich problematischen östlichen und südöstlichen Staaten ausserordentlich schwierig. Dennoch – es war (und ist) zu schaffen. Aber dazu bedurfte es (und bedarf das noch immer) stets starker Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl. Inwieweit Angela Merkel, trotz ihrer 16 Jahre währenden Regentschaft, eine bleibende Lebensleistung hinterlässt, muss sich erst noch erweisen.
Stimmung ist noch keine Stimme
Wobei sich wieder die Frage nach der so genannten öffentlichen Meinung und deren Einfluss auf das politische Geschehen stellt. Die modernen Kommunikationsmöglichkeiten haben, fraglos, die Abhängigkeit der Entscheidungsträger von den Stimmungen in der Gesellschaft noch verstärkt. Doch ein Phänomen hat sich, unabhängig von allen Entwicklungen, nicht verändert: Volkes Meinung schwankt. Mitunter sogar blitzschnell und ziemlich dramatisch. Damit bleibt auch unverändert die Erkenntnis richtig, dass Stimmung keineswegs mit der Stimme an der Wahlurne gleichzusetzen ist. Trotzdem bedarf es speziell in der Politik schon besonderer Charakterstärke, zu eigenen (vielleicht abweichenden) Überzeugungen zu stehen, wenn gleichzeitig praktisch unentwegt dem Volk elektronisch aufs Maul geschaut wird.
Wenn in diesen Wochen im Parlament wie in den Medien lautstark der miserable Zustand der Bundeswehr beklagt wird, so ist das ohne Frage nachvollziehbar und berechtigt. Wenn, darüber hinaus, der Jammer gross ist, dass sich die Parole «Wandel durch Handel» durch den russischen Überfall auf die Ukraine als eine Luftblase entpuppt hat, dann treffen Vorwurf und Enttäuschung freilich gleichermassen Regierende und Regierte. Beide Seiten müssen sich eingestehen, über Jahrzehnte freundlichen (weil halt selbst entworfenen) Trugbildern hinterher gelaufen zu sein und bewusst die Augen gegenüber der rauen Wirklichkeit verschlossen zu haben. Zum Beispiel: Wann in den vergangenen Jahren ist nicht nur im politischen Bereich, sondern auch von den Bürgern jemals der Frage nachgegangen worden, wo denn in der ganzen Euphorie über die angebliche «Friedensdividende» etwa die Bereiche Aussen- und Sicherheitspolitik bleiben? Keine Rede davon in den vergangenen Wahlkämpfen, kaum eine Erwähnung im jüngsten Koalitionsvertrag. Wann ist im Parlament jemals die Leistung deutscher Soldaten bei schwierigsten Auslandseinsätzen wie in Afghanistan oder Mali wirklich gewürdigt worden? Putins Überfall auf die Ukraine hat das idyllische Bild von der «Friedensdividende» brutal zerstört und die viel bedrohlicher wirkende «Zeitenwende» heraufbeschworen. Die beschönigende Entschuldigung «Wir haben uns geirrt» reicht nicht. Wir haben uns alle ordentlich geirrt. Und zwar gewollt. So ehrlich sollte jeder sein .
PS: Eine immerhin ragt aus dem grossen Kreis der Irrgläubigen heraus – Angela Merkel, die Ex-Bundeskanzlerin. Sie habe sich, sagt sie, nie ein beschönigendes Bild von Wladimir Putin gemacht. Mag ja sein.