Heute vor hundert Tagen hat der Ukraine-Krieg begonnen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Soll die Ukraine dem russischen Aggressor Gebiete abtreten, damit er den Krieg beendet? Lässt sich der Westen erneut von Putin über den Tisch ziehen, so wie 2014 nach der Krim-Annexion?
«Ich werde die ukrainische Regierung weder privat noch öffentlich zu irgendwelchen territorialen Zugeständnissen drängen. Es wäre falsch und widerspräche wohlbegründeten Grundsätzen.» Dies schrieb Joe Biden am Mittwoch in einem Gastbeitrag für die New York Times.
Noch sind die Stimmen rar, die von der Ukraine fordern, den Osten des Landes den Russen abzutreten. «Werft doch Putin einen Knochen hin, gebt ihm einige Quadratkilometer Ostukraine, wenn ihr dafür im Gegenzug ein Ende der Kämpfe und ein Friedensabkommen erhält», sagen einige. Auch Henry Kissinger sagt das.
Je mehr der Westen unter dem Krieg leidet, je mehr die Benzinpreise steigen, je mehr eine Nahrungsmittelknappheit droht, je mehr man dieses Krieges überdrüssig wird und die Bilder der bombardierten Städte und der leidenden Bevölkerung nicht mehr sehen kann, desto lauter werden diese Stimmen.
Eine Brücke bauen?
Was zu erwarten war, tritt ein: Im westlichen Bündnis und in der westlichen Gesellschaft zeigen sich Risse. Da gibt es jene, die Putin «eine Brücke bauen wollen», damit er die Kämpfe beenden kann. Emmanuel Macron sagte, man dürfe nicht «dem Geist der Rache nachgeben». Also: alles versuchen, damit Putin sein Gesicht wahren kann.
Andere sagen: Wieso soll man einem «Kriegsverbrecher», einem «Schlächter», der den ganzen Krieg angezettelt hat, entgegenkommen? Zu diesen gehören Biden, die britische Regierung, Polen und die baltischen Staaten, die sich nicht ganz zu Unrecht vor russischer Aggression fürchten.
«Wir müssen sicherstellen, dass Russland von den Ukrainern aus der Ukraine vertrieben wird», erklärte die britische Aussenministerin Liz Truss. «Es kann keine Kompromisse über ukrainisches Territorium geben.»
Kurzes Gedächtnis
So schwer sich der Westen tut, eine gemeinsame Sanktionspolitik durchzuziehen, so schwer tut er sich immer mehr bei der Frage, wie man aus diesem Krieg herauskommt.
Viele, die fordern, man soll doch Putin Konzessionen machen, damit die Kämpfe zu Ende gehen, haben ein kurzes Gedächtnis und streuen sich selbst Sand in die Augen.
Glaubt wirklich jemand im Ernst, dass der Krieg zu Ende geht, wenn die Ukraine ihre östlichen Gebiete Russland abtritt? Putin hat erklärtermassen den Krieg begonnen, um die ganze Ukraine zu erobern und Russland einzuverleiben. Hätte er nur die Ostukraine als Beute im Visier, wären seine Truppen ja nicht in den ersten Kriegstagen vor Kiew gestanden. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass sich Putin mit dem Donbass begnügen will.
Das nächste Sterben käme bestimmt
Da sich seine Armee in einem jämmerlichen Zustand befindet und da seine Offiziere offensichtlich unfähig sind, schraubte er seine Ambitionen zwangsläufig zurück und konzentriert sich jetzt auf die Eroberung des Donbass. Aber sein Ziel bleibt das ganze Land.
Würde also die Ukraine jetzt den Donbass an Russland abtreten, würde im besten Fall eine Ruhepause, eine Verschnaufpause einkehren – aber die nächste Aggression, der nächste Krieg, das nächste grosse Sterben käme bestimmt.
Olena Zelenska, die Frau des ukrainischen Präsidenten, sagte es am Donnerstag in einem ABC-Interview so: «Selbst wenn wir unsere Gebiete abtreten würden, würde der Aggressor damit nicht aufhören, er würde weiter Druck machen, er würde weiter ... immer mehr Angriffe auf unser Gebiet starten.»
Putins Wahn
Putin fühlt sich von der Geschichte herausgefordert, die alten russischen Gebiete wieder «heimzuholen». Von diesem Wahn kommt er offensichtlich nicht los. Die Ukraine sei für ihn nur eine erste Beute, um das «Grosse Russland» wieder zu errichten, erklären russische Historiker. Er will dem – seiner Ansicht nach – «geschändeten» Land wieder seinen historischen Platz in der Welt zurückgeben und die Dominanz des Westens brechen.
Historische Vergleiche sind oft falsch. Trotzdem erinnern die jetzigen Appeasement-Forderungen westlicher Kreise an den September 1938. Damals erlaubten Briten und Franzosen an einer Konferenz in München Adolf Hitler die Annexion des Sudetenlandes. So wollte man die Nazis ruhigstellen. Hitler betrachtete diese westliche Schwäche als Einladung zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges.
Sträfliche Toleranz
Seit Jahren hat der Westen eine erstaunliche, sträfliche Toleranz gegenüber Putin manifestiert. Man müsse eben mit dem Kreml-Herrscher reden, wussten die Putin-Versteher. Mit Gewalt erreiche man nichts, es brauche Diplomatie. «Frieden gibt es nur ohne Waffen», trällerten die moralisierenden Pazifisten. Angela Merkel versuchte Putin einzulullen – und er spottete nur über sie. Die westliche Wirtschaft machte satte Geschäfte mit dem Kreml-Reich – Menschenrechtsverletzungen, Nawalny, Giftanschläge hin oder her.
Auch viele Linke, die so gerne den amerikanischen Imperialismus verurteilen, zeigten sich angesichts des Putin-Imperialismus ziemlich blind. Selbst bürgerliche Kreise, wie der Deutsche Klaus von Dohnanyi, sprachen von einer «Dämonisierung Putins».
Natürlich hätte man gewarnt sein können: Georgien 2008, der Abschuss von MH17 in der Ostukraine, die Fütterung der ostukrainischen Separatisten mit Waffen. Und vor allem die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Der Westen reagierte darauf mit müden Sanktionen, über die sich Putin totlachte. Nord Stream 2 wurde vorangetrieben. Die Wirtschaftsverflechtungen wurden enger. Dass das Land immer mehr zu einer fast stalinistischen Diktatur mutierte, wollte man nicht zur Kenntnis nehmen.
«Die Lüge ist seine zweite Natur»
Währenddessen schmiedete Putin seine Aggressionspläne. Donald Trump war ihm zu unberechenbar, daher wartete er, bis der angeblich schwache Biden an der Macht war.
Glauben kann man Putin und seinem Personal ohnehin nicht. Er lügt das Blaue vom Himmel. «Die Lüge ist bei ihm eine zweite Natur», hatte der frühere französische Präsident Hollande gesagt. Putin zog 150’000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammen und sagte 17 Mal: Nein, wir werden das Land nicht überfallen. Er und sein Pudel Lawrow lügen, was die Kriegsverbrechen seiner Truppen betrifft. Nein, Butscha und Irpin, das sei alles von den Nazis in Kiew inszeniert. Er schlachtet ein Volk ab und wirft diesem Volk vor, dass es Friedensgespräche verweigere.
Selbst wenn einmal sogenannte Friedensverhandlungen stattfinden sollten: Wie soll man einem solchen Lügner glauben, dass er Vereinbarungen einhält?
Realpolitik?
Wer soll ihm glauben, dass er nach dem Donbass nicht die ganze Ukraine oder auch Transnistrien, das übrige Moldawien, Teile von Polen, das Baltikum und vielleicht sogar Teile von Finnland fordern wird?
Putin ist ein blutiger Imperialist mit faschistischen Zügen, von Stalin unterscheidet ihn nur wenig. Er geht buchstäblich über Leichen. Er ist ein Kriegstreiber, der das vorwiegend friedliche Europa, das nach 1989 entstand, angreift. Und diesem Putin soll die Ukraine mit einer Teilkapitulation im Donbass entgegenkommen?
Vielleicht wäre das die vielgelobte «Realpolitik», doch der Westen würde dafür viele seiner immer wieder beschworenen humanitären und ethischen Grundsätze über Bord werfen. Und er müsste sich jahrelang dafür schämen, einem Kriegsverbrecher auf den Leim gekrochen zu sein. Realpolitik kann auch feige sein.
Dem Pfau die Federn ausreissen
Will sich der Westen erneut lächerlich machen, wie damals nach der Krim-Annexion? Soll man einem Mann helfen, sein Gesicht zu wahren, der einen der schrecklichsten Kriege angezettelt hat, der ganze Städte und Landstriche, Schulen, Spitäler und Altersheime wahllos bombardieren lässt?
Der stellvertretende lettische Ministerpräsident Artis Pabriks sagt es so: «Es scheint, dass es eine Reihe sogenannter westlicher Führer gibt, die ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbsterniedrigung haben.»
«Man wird mit Putin irgendeinmal reden müssen», sagt eine etwa 50-jährige Frau, die in einer Metro-Station in Charkiw Zuflucht vor russischen Bomben sucht. «Aber zuerst muss man diesem Pfau alle Federn ausreissen.»