«Unbehagen» von Armin Nassehi ist gleichzeitig eine Reflexion über die Herausforderungen der modernen Gesellschaft und eine Einführung in die systemtheoretische Soziologie.
Weshalb schafft es die Gesellschaft nicht, ihre grossen Probleme – Überhitzung des Planeten, Umweltzerstörung, Ressourcenverschleiss, globale Ungleichheiten, Pandemien, Massenmigration, Verkehrsinfarkte, Wohnungsmangel, Überlastung der Sozialsysteme etc. – zu bewältigen, obschon doch Lösungswege im Prinzip bekannt wären? Es seien diese Fragen seiner Studentinnen und Studenten gewesen, so Armin Nassehi, die ihn zu seinem jüngsten Buch angeregt hätten.
Nassehi, einer der wichtigsten Soziologen unserer Zeit, lehrt an der Universität München. Sein Markenzeichen ist die enge Verflechtung anspruchsvoller Theorie mit praktischer Umsetzung in komplexen gesellschaftspolitischen Problemfeldern. So leitet er mit Irmhild Saake das breit angelegte DFG-Forschungsprojekt «Gesellschaftliche Andockstellen für Flüchtlinge». Das gleiche Team betreut eine interdisziplinäre Langzeit-Feldforschung mit dem Titel «Vom ‘guten Sterben’» über die Entwicklung von Palliative Care. Die Studie analysiert insbesondere die Verfahren, welche die nötigen Veränderungen – bei den Zielen und Methoden der Behandlung, bei Berufsbildern und Kooperationen, beim rechtlichen Rahmen etc. – möglich gemacht haben.
Produktive Zumutungen der Systemtheorie
Was bei Nassehi hinter solchen Projekten praktischer Soziologie steckt, ist eine Art Metatheorie der Gesellschaft, wie sie Niklas Luhmann als Erster entwickelt hat. Sie treibt dem Begriff der Gesellschaft jegliche Anschaulichkeit und Selbstverständlichkeit aus. Luhmann bezog sich auf die ursprünglich aus Biologie, Mathematik und Kybernetik stammende Systemtheorie, um das Konzept «Gesellschaft» ganz neu zu denken, nämlich als ein Nebeneinander selbsttätiger und eigengesetzlicher «Systeme», die füreinander gegenseitig «Umwelt» sind. Solche Systeme sind etwa Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Kultur, Erziehung.
Niklas Luhmann denkt das Konzept «Gesellschaft» als ein Nebeneinander selbsttätiger und eigengesetzlicher «Systeme», die füreinander gegenseitig «Umwelt» sind.
Die Strukturen, Beziehungen und Dynamiken innerhalb und zwischen diesen Systemen sind in ihrer Totalität nicht zu fassen. Es ergibt sich kein «Bild» der Gesellschaft, diese entschwindet gewissermassen in einer hochabstrakten Theorie.
Doch was ist nun der Vorteil dieser systemtheoretischen Soziologie? Seit in der Moderne – im Wesentlichen nach der französischen Revolution – das wissenschaftliche Nachdenken über «Gesellschaft» begonnen hat, ist immer wieder die «Unerreichbarkeit» dieser Grösse aufgefallen. Trotz des Alltagsgebrauchs des Begriffs entzieht sich dieser jedem Versuch einer präzisen Beschreibung und eindeutigen Wertung. Es war Pierre Bourdieu, der diese Erfahrung kühn in Parallele gesetzt hat zu dem, was in der Philosophie «Theodizee» heisst.
Als am 1. November 1755 weite Teile Lissabons von einem Erdbeben und Tsunami verwüstet wurden, waren Europas aufgeklärte Gelehrte geschockt. Das Ereignis zog ihnen, die sich gerade erst in einem optimistischen Weltbild eingerichtet hatten, den Boden unter den Füssen weg. Nun standen sie alle vor dem unlösbaren Problem der Gerechtigkeit Gottes, Theodizee genannt. Die Welt war für sie nicht denkbar ohne einen Gott, und Gott wiederum war nicht denkbar ohne die Eigenschaften der Allmacht, der Güte und der Gerechtigkeit. Eine intellektuell befriedigende Lösung des Theodizee-Problems gab es nicht. Es blieb nur ein habitueller Umgang mit ihm im Sinn einer Selbstbescheidung nach dem Muster: Die Frage ist für uns Menschen zu gross, also entscheiden wir uns für ein Vertrauen ohne Wissen. Und wir machen Gott dadurch erst recht göttlich gross und unfassbar.
Analog dazu hat der Gedankenspieler Bourdieu den Begriff der «Soziodizee» vorgeschlagen. Um mit der Unerreichbarkeit und Undurchschaubarkeit von Gesellschaft zurande zu kommen, machen sich die Leute einen Reim auf das Geschehen, in das sie selbst verstrickt sind. So können sie darauf verzichten, gesellschaftliche Verhältnisse à fond zu verstehen und einzuordnen – und trotzdem über die Gesellschaft reden. Jede schlüssige Aussage über Gesellschaft erweist sich so gesehen als eine Soziodizee.
Um mit der Unerreichbarkeit und Undurchschaubarkeit von Gesellschaft zurande zu kommen, machen sich die Leute einen Reim auf das Geschehen, in das sie selbst verstrickt sind.
Für den Alltagsverstand ist systemtheoretisches Denken eine arge Zumutung. Es schlägt diesem die praktischen Vereinfachungen und Denk-Abkürzungen aus der Hand. Genau damit aber leistet es eine der schwierigsten Aufklärungen, nämlich die über den höchst komplexen, kaum in alltagstaugliche Begriffe umzumünzenden gesellschaftlichen Hintergrund aller Zustände, aller Beziehungen, allen Handelns.
Überforderte Gesellschaft
Nassehi nennt sein Buch im Untertitel eine «Theorie der überforderten Gesellschaft». Überforderung und das damit verbundene Unbehagen resultieren aus dem Umstand, dass es einen unausweichlichen Hang zur Soziodizee gibt, zu diesem geglätteten Bild von der Gesamtheit der Menschenwelt. Deshalb operieren die von gesellschaftlichen Problemen Betroffenen zumeist mit unterkomplexem Denken – und scheitern zwangsläufig.
Nassehi wirft dies mehr oder weniger ausdrücklich auch prominenten Vertretern seines Fachs vor. Weder der aktuelle Shootingstar Andreas Reckwitz noch der grosse Jürgen Habermas (dem Nassehi durchaus Respekt bezeugt) sind von scharfer Kritik ausgenommen.
Bei Habermas, so Nassehis Einwand, sei der Begriff der Gesellschaft in einer Weise gefasst, dass dieser über inhärente Lösungsperspektiven für Konflikte verfüge. Das Sprechen enthalte nach dieser Theorie immer schon die Möglichkeit der zwanglosen Verständigung. Nassehi konstatiert hierin ein «erstaunliches Vertrauen in Kommunikation», welches einzig von Habermas’ «Fehlschluss von der Notwendigkeit auf die Möglichkeit» herrühre.
Nassehi konstatiert bei Habermas ein «erstaunliches Vertrauen in Kommunikation».
Eine Soziologie des Habermas’schen Typs, so Nassehi, versteht die Gesellschaft als Kollektiv, als politischen Verband, in welchem man Probleme klar adressieren kann. Und ist dies geschafft, so folgen Appelle an die Verantwortlichen, die gewonnenen Einsichten in politische Programme zu überführen.
In systemtheoretischer Perspektive jedoch wird die Gesellschaft als operativer Raum verstanden, gebildet von empirisch unterschiedlichen Systemen mit je eigenen Strukturen und Prozessen. Mit einem so ausgerichteten geistigen Instrumentarium sind Problemlösungen darauf angelegt, auf die Eigenlogiken der verschiedenen involvierten Kontexte zu achten und situative Verständigungen in der Sachdimension zu suchen.
Systemtheoretische Problemlösungen sind darauf angelegt, auf die Eigenlogiken der verschiedenen involvierten Kontexte zu achten.
Mit diesem von Nassehi vertretenen Ansatz ist keinerlei gesellschaftliche Utopie verbunden. Im Unterschied zu Habermas glaubt er nicht, die Gesellschaft sei «eigentlich» besser als ihre empirische Gestalt. Vielmehr kann diese funktional differenzierte, in quasi-autonome Funktionsbereiche aufgeteilte Gesellschaft zwar in ihren Teilsystemen stupende Leistungen erbringen; aber gleichzeitig erweist sie sich als notorisch unfähig, mit übergeordneten Problemen und Konflikten fertigzuwerden.
Die Covid-Krise und die heraufziehende Klimakatastrophe sind aktuelle Themen, die das zeigen. Nassehi sagt es mit Blick auf diese von ihm als Referenzkrisen behandelten Problemfelder deutlich: «Die Gesellschaft selbst ist die Krise.»
Mehrfache Andockstellen
In der Moderne wird das Selbstverständnis von Gesellschaft politisch. Mit ihrer Idee der Gleichheit macht sie Ungleichheit erst richtig sichtbar. Zugleich konstituiert sie sich als Raum mit einem Innen und einem Aussen. Um sich zu homogenisieren und abzugrenzen, hat die Moderne Ethnien, Nationen, Werte und Traditionen erfunden – und in der Folge mit den entsprechend kumulierten Anforderungen ans Individuum jenes Überforderungssyndrom erzeugt, das Sigmund Freud in seiner Schrift «Das Unbehagen in der Kultur» von 1930 diagnostiziert hat. (Natürlich spielt der Titel von Nassehis Buch darauf an.)
Die Moderne erzeugt mit ihrer Überforderung des Individuums das von Freud beschriebene «Unbehagen in der Kultur».
Unbehagen an der Gesellschaft ist ein Effekt des Auseinanderklaffens zwischen den Selbstbeschreibungen im Sinne der Soziodizee des Gemeinschaftlichen und der komplexen gesellschaftlichen Realität. Deshalb geht es nach Nassehis Auffassung bei der Arbeit an praktischen sozialen Problemlagen darum, unterkomplexe Gesellschaftsbilder zu vermeiden. Wie auf diese Weise adäquate Lösungsansätze zu finden sind, hat das oben bereits kurz erwähnte DFG-Forschungsprojekt «Gesellschaftliche Andockstellen für Flüchtlinge» geradezu schlagend aufgezeigt.
Die Sicht auf die Problematik ist dadurch verändert, dass Flüchtlinge nicht primär als Gruppe wahrgenommen werden, welche kollektiv auf die Ansässigen trifft und bestimmte stereotype gesellschaftliche Dynamiken auslöst. Vielmehr sieht man hier die Flüchtlinge als Individuen, die auf unterschiedliche gesellschaftliche Instanzen stossen. Bei diesen geht es dann etwa um rechtlichen Status, soziale Unterstützung, medizinische Betreuung, Spracherwerb, Wohnen, Schule, Bildung, Zertifikate, Arbeit und vieles mehr.
«Flüchtling und Patient, Flüchtling und Anspruchsberechtigter, Flüchtling und Schüler oder Schülerin, Flüchtling und Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer, Flüchtling und Mieter usw. ist besser, als nur Flüchtling zu sein.» Richtet man den Blick auf solche Andockstellen, so kann sich die Situation viel eher normalisieren als bei der Fixierung auf «das» Flüchtlingsproblem. Statt des grossen «Flüchtlingsstroms» treten die vielen alltäglichen Probleme des Lebens in der funktional differenzierten Gesellschaft in den Vordergrund, die bei Flüchtlingen und anderen Menschen im Prinzip die gleichen sind.
Mit diesem Ansatz wird die verengte Sicht auf die Sozialdimension des Gesellschaftlichen überwunden. Nassehi sieht darin eine Desillusionierung, die zugleich als Befreiung wirkt: «Es gibt kein Handeln der Gesellschaft aus einem Guss – und sosehr man das in bestimmten Situationen beklagt, sosehr ist es vielleicht die zivilisatorische Errungenschaft schlechthin.»
Risiken statt Gefahren
Die Versuchung, Gesellschaft als ein Kollektiv aufzufassen, das man gesamthaft ansprechen und zu Lösungsanstrengungen aufrufen könnte, mag in Krisensituationen naheliegen. Dies auch deshalb, weil die systemtheoretische Methode der Differenzierung neben unbestreitbaren Stärken eben auch Schwächen aufweist: «Die Leistungsfähigkeit der Moderne ist ein Effekt der Differenzierung, des Verzichts auf Interdependenzen, der Überwindung von ‘Ganzheitlichkeit’, der (Ergebnis-)Offenheit der jeweiligen Prozesse, des Verzichts auf wechselseitige vollständige Kontrolle und Koordination. Ihre Schwäche ist aber, dass die funktionale Differenzierung die Gesellschaft an die Grenzen koordinierter Handlungsfähigkeit bringt.»
Die systemtheoretische Sichtweise legt auch Schwächen der modernen Gesellschaft offen, insbesondere deren begrenzte Handlungsfähigkeit.
Eine folgenreiche Leistung dieser funktional differenzierten Gesellschaft ist ihre Fähigkeit, Gefahren in Risiken umzuwandeln. Gefahren sind unkalkulierbare Bedrohungen; Risiken hingegen sind kalkulierbar. Das klassische Beispiel hierfür ist das Instrument der Versicherung. Sie wandelt Gefahren in Risiken um und verschafft den Versicherten Raum für ihre Lebens- und Geschäftspläne. Deshalb ist für Nassehi der Begriff «Risikogesellschaft» ein ganz und gar positives Attribut. Es bezeichnet diejenige Gesellschaft, die aus Gefahren Risiken macht. Mehr noch: «Letztlich hat die industriegesellschaftliche Moderne die Überforderung der funktionalen Differenzierung durch Etablierung von Risikomöglichkeiten bewältigt.»
Wie diese Umwandlung von Gefahren in Risiken in den beiden Referenzkrisen, der Covid-Pandemie und der Klimaerwärmung, aussehen könnte, deute Nassehi nur kurz an, und zwar so: Klare Zielformulierungen in der Pandemiebekämpfung (etwa mit Grenzwerten für die Belegung von Intensivpflege-Stationen) würden einen kurzen Lockdown leichter erträglich machen. Zugleich würde eine solche Zielorientierung das individuelle Handeln in einem übergeordneten Setting verorten und die Pandemie nicht mehr so sehr als amorphe Gefahr erscheinen lassen.
Analog bei der Klimafrage: «Eine angemessene CO2-Bepreisung macht unternehmerische Entscheidungen zu einem Risiko. Man muss dann nicht einfach warten, ob man mit den eigenen Technologien zufällig richtig liegt oder nicht.» Also auch hier: Die Umwandlung der diffusen Gefahrenlage in einzelne handhabbare Risiken erzeugt Handlungsfähigkeit.
Ethische Beratung bei hoher Komplexität
Die moderne Gesellschaft hat permanent mit Problemstellungen zu tun, die in mehrere gesellschaftliche Systeme hineinreichen. Deren Lösung kann jeweils nur unter Beteiligung zahlreicher Akteure und Experten erarbeitet werden. Habermas hat mit einer elaborierten Kommunikationstheorie hierfür einen Verständnisrahmen geschaffen. Nassehi kritisiert diesen als ein ideales Konstrukt, das ein hohes Mass an kompetenter Beteiligung und eine starke gemeinsame Basis von Regeln und Wertvorstellungen voraussetze; er übernimmt aber die zugrunde liegende Idee des gemeinsamen Aushandelns.
Es geht darum, diejenigen an einen Tisch zu bringen, die üblicherweise nicht zusammenkommen.
Statt mit einer unterstellten idealen Sprechsituation operiert Nassehi mit einer Pragmatik der Anschlussmöglichkeiten. Einfach gesagt: Es geht darum, diejenigen an einen Tisch zu bringen, die üblicherweise nicht zusammenkommen. Die Disziplin, die dabei zur Anwendung kommt, ist die Ethik. Nassehi sieht in diesem Terminus eine «Verlegenheitsformel für die Tatsache, dass Logiken aufeinandertreffen, die andernorts auch institutionell geschieden sind». Ziel derartiger Veranstaltungen ist nicht ein harmonischer Konsens; angestrebt werden vielmehr Arrangements, die durchaus ungelöste Spannungen einschliessen können. Mit solchen pragmatischen Übereinkünften können die Beteiligten dann weiterarbeiten.
Für dieses vom ihm erprobte und propagierte Verfahren kann Nassehi ein eindrucksvolles Erfolgsmodell vorführen, nämlich den Aufbau der Palliativmedizin in Deutschland. Nach der ersten Modellstation in Deutschland 1983 gibt es inzwischen mehr als 300 Palliativkliniken. Palliative Care gehört mittlerweile zur medizinischen Grundausbildung, und das Konzept ist inzwischen auch rechtlich-politisch abgestützt.
Der Weg dahin war ein langer interdisziplinärer Beratungsprozess, ethisch moderiert, in dem von der Ärztin bis zum Seelsorger, von der Pflegerin bis zum Gesundheitspolitiker, von der Patientenorganisation bis zur Krankenkasse sämtliche Betroffenen, Akteure, Experten, Berufsorganisationen, Interessenvertretungen etc. einbezogen waren.
Spielregeln dieser Gross-Beratung waren die Respektierung der jeweiligen Intentionen, Berufsauffassungen und Werthaltungen, aber auch der begrenzten Kompromissfähigkeiten der Beteiligten. Unter diesen Voraussetzungen machte man sich auf die Suche nach gegenseitigen Andockmöglichkeiten. So ist eine Innovation auf den Weg gebracht worden, die das Gesundheitssystem innert weniger Jahrzehnte stark und nachhaltig zum Guten verändert hat.
Armin Nassehi hat mit «Unbehagen» eine zwar anspruchsvolle, aber gut lesbare Kombination von Theorie und Empirie vorgelegt. Wer sich darauf einlässt, wird grosszügig belohnt.
Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, C. H. Beck, München 2021, 384 S.