Es sei eine Minute vor zwölf, sagte Boris Johnson zur Eröffnung des Klimagipfels in Glasgow. Aber haben alle die gleichen Uhren? Und wer liest was ab?
Dieses Jahr ist gefüllt mit Hiobsbotschaften, und zum Beginn der UN-Klimakonferenz in Glasgow kam eine neue hinzu: Die Zeitschrift «Nature Food» veröffentlichte neueste Forschungsergebnisse von Agrarwissenschaftlern, aus denen hervorgeht, dass innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre ein Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel aufgrund des Klimawandels verloren gehen wird. Wassermangel, Hitzeperioden, Extremwetter und die wieder wachsende Schar von Schädlingen werden die Ernten drastisch reduzieren. Das hatten Experten zwar schon befürchtet, aber noch nicht so schnell.
Neuer Höchststand
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vor Augen zu führen, zu welchen politischen Verwerfungen, Migrationsströmen und Bürgerkriegen der Mangel an Nahrungsmitteln zusätzlich beitragen wird. Und trotz des zeitweiligen wirtschaftlichen Rückgangs aufgrund der Corona-Pandemie und der ersten Bemühungen um eine Reduktion des Ausstosses von Treibhausgasen ist die Konzentration in der Erdatmosphäre noch weiter angestiegen und hat einen neuen Höchststand erreicht.
Die Konferenz in Glasgow steht im Zeichen des schriller werdenden Alarms und der Bemühungen, dem Verhängnis nicht einfach seinen Lauf zu lassen. In Paris hatte man sich 2015 auf eine Begrenzung von 1,5 Grad Klimaerwärmung geeinigt. Dieses Ziel soll auch in Glasgow bekräftigt werden, auch wenn Experten befürchten, dass trotz aller gut gemeinten Bemühungen ganz andere Steigerungen zu befürchten sind. Man redet von bis zu 4 Grad. Und warum muss in Glasgow etwas bekräftigt werden, was in Paris doch schon längst beschlossen worden ist?
Sichtweisen auf die «Natur»
In der Zeit zwischen Paris und Glasgow ist weltweit ganz sicher die Einsicht gewachsen, dass sich die Klimakrise verschärft und dass sie hausgemacht ist. Aber entstehen aus der Dringlichkeit und der Einsicht in die menschliche Verantwortung auch wirksame Handlungsstrategien? Funktioniert die Gesellschaft so wie ein reuiger Sünder, der seine Schuld einsieht und alles ihm Mögliche unternehmen wird, um weiteres Unheil abzuwenden?
Die Teilnehmer und Beobachter des Gipfels in Glasgow sind zum Teil ernüchtert. So begrüssen sie es zwar, dass gleich zu Beginn ein internationales Abkommen zum Stopp der Entwaldung verabschiedet wurde und sogar von einem der grössten Frevler, dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, unterzeichnet wurde. Aber sie verweisen auch darauf, dass ein ähnliches Abkommen schon in Paris geschlossen und bis heute stetig verletzt wurde. Der Gedanke liegt also nahe, dass Politiker solche Abkommen und Verpflichtungen unterzeichnen, ohne auch nur im Traum daran zu denken, sich daran zu halten.
Das Problem liegt aber tiefer als die blosse Täuschungsabsicht skrupelloser Politiker. Denn es ist nicht so, dass die Natur eine objektive Grösse wäre, die jetzt zunehmend höhere Preise verlangt. Das ist sie nicht. Entsprechend täuschen sich die Umweltschützer. Denn es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive die Natur betrachtet, erlebt oder erlitten wird. Ein Wissenschaftler sieht sie anders als ein Flutopfer, ein Landschaftsplaner anders als ein Grossstadtbewohner. Und für einen Politiker bemisst sich die Wichtigkeit der Natur daran, wie sie von denjenigen erlebt und eingeschätzt wird, von deren Stimmen seine weitere Karriere abhängt. Das kann man ihm nicht vorwerfen. Jeder Mensch nimmt die Natur so wahr, wie sie ihm in seinem täglichen Leben begegnet.
Regentänze und Konferenzen
Die Dringlichkeit des Klimawandels kann deswegen nicht dazu führen, dass sich die Menschheit unter einer einheitlichen Perspektive der grossen Herausforderung stellt. Jeder Mensch, jede Gruppe hat ihre eigenen Perspektiven und Dringlichkeiten. Diese ganz unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen laufen immer mit und beschränken die Eintracht.
Dazu kommen tief verwurzelte Einstellungen, die mit der aktuellen Klimaproblematik rein gar nichts zu tun haben. In Glasgow kann man das zum Beispiel darin erkennen dass sich der Gastgeber Boris Johnson und sein kontinentaler Partner Emmanuel Macron über Fischereirechte vor ihren Küsten derartig zoffen, als lebten sie noch in Zeiten der napoleonischen Kriege. – Und beide wollen gemeinsam den Planeten retten.
Mehr Realismus
Und der Konferenzbetrieb selber weckt Zweifel. Ist es wirklich nötig, dass in Glasgow 20’000 Teilnehmer aus aller Welt zusammenkommen? Klimaneutral ist das ganz sicher nicht. Rituale dieser Art erinnern fatal an die früheren Regentänze der Hopi-Indianer. Wer mag, kann seine Hoffnungen an solche Konferenzen knüpfen. Aber das fällt angesichts der Phrasen, die immer routinierter von den «führenden Politikern» abgespult werden, zunehmend schwer.
Anstatt immer neue «Ziele» und «Verpflichtungen» zu formulieren, wäre ein bescheidenerer Ansatz überzeugender. Wo finden wir gemeinsame Nenner aus der Vielzahl der Perspektiven? Wie überwinden wir die fatale Illusion, dass alle die Probleme des Klimawandels genau gleich sehen? Welche Mechanismen müssen für ein Umsteuern etabliert werden?
Auch diese Ansätze und Diskussionen kommen auf der Konferenz in Glasgow vor. Die Aufmerksamkeit sollte sich stärker auf sie richten als auf «Verpflichtungen», die bei den Unterzeichnern um so beliebter sind, je weiter ihre Erfüllung in der Ferne liegt. Man kann hoffen, dass Glasgow in den kommenden Tagen realistischer und konkreter wird.