
Unsere acht Augenpaare bohrten sich noch tiefer in den Uferschlamm, als der Führer «Stopp!» rief und der Dieselmotor verstummte. Wir klickten blind ins Grau hinein, doch zwischen dem trüben Wasser und dem grünen Mangroventeppich lag nur Sand und Gestrüpp. Doch plötzlich begann sich das Grau zu bewegen und nahm Kontur an – ein Krokodil!
Ein riesiger Leib schlängelte in Sekundenschnelle und erstaunlich leichtfüssig ans Ufer, glitt ins Wasser und war weg. Erst als wir in unseren Handys die Fotos anschauten, machten wir die Sandflecken, Steinchen und Ästchen als Augen, Zähne und Ohrläppchen des Sechsmeter-Kolosses aus. Er hatte uns wohl schon lange bewegungslos beobachtet, während wir dumm ins Leere blickten: Er sah, wir schauten.
Amphibische Flusslandschaft
Der Safari-Adrenalinschub bei der Begegnung mit einem Tiger oder Krokodil ist relativ selten in den Sunderbans, zu gross und weitläufig ist ihr Lebensradius, zu dicht ist die Vegetation. Es sind vielmehr Stille und Weite, die diese amphibische Landschaft prägen, die vielen Vögel und die bizarren Mangrovenarten, sowie die Gezeiten, die der Landschaft täglich ein neues Gesicht geben.
Die Bäume sind die eigentliche Sensation. Sie können ein Gewirr von Lianen sein, mit Banyan-ähnlichen Luftwurzeln; oder ihr Blätterdach steht hochbeinig wie der Körper einer Spinne auf den offenstehenden Wurzeln. Andere dagegen treiben ihre Wurzeln unter dem Schlamm in alle Richtungen. Dann stossen diese aufrechte Stäbe aus dem Sand, um dem Baum Sauerstoff zuzuführen.
Wechselt man die Augen auf den «Makro»-Blick, kann man auf dem Ufersand gerade noch die mikroskopischen Krebse wahrnehmen, deren Farben erst im Zoom des Handys aufleuchten. Vollends durchsichtig sind die winzigen fischartigen Amphibien, die – wie die Krücken beim Menschen – ihre Kiemen auf den Boden stemmen, den Körper damit hochziehen und den leblos wirkenden Unterleib hinter sich über den Sand schleppen.
Während wir auf einem ausgedienten Fischkutter mit stierem Blick am angeschwemmten Lehm vorbeiratterten, schuf die erneute Nähe zu diesem ständigen Reisebegleiter fast unweigerlich auch eine emotionale Nähe: Waren wir nicht zusammen den Ganges hinunter geschwommen, der Sand meist als Wolke unter Wasser, wir als bange Zuschauer dieser Schatten, die sich manchmal zu einer Unterwasser-Sandbank verdichteten und das grosse Schiff zum Zittern und Anhalten zwangen? Jetzt trafen wir uns am Ende der Reise wieder. Der schwimmende Schlamm heftete sich an die unendlich langen Uferstreifen, während sich unser Blick auf diese heftete, eifrig damit beschäftigt, Erinnerungsbilder zu sammeln.
Hilfreicher Ganges- und Brahmaputra-Schlamm
Obwohl bereits stark versalzen, erweist der Ganges- und Brahmaputra-Schlamm der Menschheit am Fuss des Himalayas hier seinen letzten Dienst. Er hatte ja bereits millionenfach als Nährboden, Baumaterial und verformbares Pflaster für Skulpturen, Behälter oder Möbelersatz gedient. Nun half er, eine Inselkette zu verstärken, die sich als erste Barriere gegen die stetig anschwellenden Meeres-Gezeiten stemmt.
Die Resilienz dieses «Damms» liegt vielleicht darin, dass er nicht wie menschengemachte Staumauern der Natur frontal die «Stirn zeigen» will (und unweigerlich verliert). Diese 52 Inseln sind vielmehr wie ein Sieb, das die Wassermassen selbst in Wirbelstürmen in ein Gewirr von Kanälen lenkt, die Zerstörungswut der Wellen bricht und auslaufen lässt.
Der Preis, den der Mensch dafür zu entrichten hat: Die Inselvegetation mit ihren Millionen von Mangrovenbäumen ist undurchdringlich ineinander verknotet, die schlammigem Böden sind wie Saugnäpfe, während Tiger und Schlange, Bienenvölker und Moskitos das Ihre tun, um Siedler und Besucher abzuschrecken. Gleichzeitig sind die Inseln genügend dicht nebeneinander gruppiert, um auch in der Gegenrichtung die Strömung der Flüsse zu verlangsamen. Dies hilft den Uferlinien, neben dem Lehm auch das immer dürftigere Süsswasser aufzunehmen und so die Vegetation zu stärken.
Zudem hat die Natur in den Sunderbans gelernt, ihren genetischen Code dem Salzgehalt anzupassen. In Bali, einem der letzten grossen Dörfer vor dem offenen Meer, wird die Frühlingsernte eingebracht. Die baumlose Landschaft hinter der Dorfstrasse ist ein Flickenteppich grüner und sattgelber Felder, je nachdem, ob der Reis noch steht oder geschnitten wurde. Auch die Mangos hängen bereits schwer an ihren langen Schnüren, Papayabäume und Bananenbüsche wachsen so zahlreich, dass sie die Häuserzeile fast in eine Baum-Allee verwandeln.
Das Mündungsgebiet von Ganges, Brahmaputra und Megha
Rund um das Dorf – und selbst im Uferbereich – läuft ein hoher Drahtzaun. Er soll Tiger und Wildschweine daran hindern, Felder zu zerwühlen und Vieh zu erbeuten, das angepflockt vor den Hütten lebt. Auch in diesen bewohnten Gebieten seien immer noch Tiger unterwegs, sagt Anil Mistry, der lokale Leiter einer nationalen Wildschutz-NGO. Er schätzt deren Bestand auf der Insel Mohsabha auf etwa ein Dutzend Tiere, ein Zehntel des vermuteten Gesamtbestands im indischen Teil der Sunderbans. (Eine Studie hatte vor fünf Jahren mit Hilfe von Foto-Fallen 86 Tiere gezählt und diese durch Analyse der charakteristischen – aber individuell gestalteten – Gesichtsstreifen der Katzen identifiziert.)
Die Sunderbans sind das Mündungsgebiet der Ströme Ganges, Brahmaputra und Meghna und umfassen eine Fläche von 10’000 km2. Die Hälfte davon sind unbewohnte Inseln unter dem undurchdringlichen Blätterdach von rund achtzig Mangrovenarten. Zum besseren Verständnis könnte man das Delta der Länge und der Breite nach vierteln: Auf der West/Ost-Achse sind es Bangladesch und Indien, die sich den «Meeresdschungel» («Samudravan» in Sanskrit) teilen, im Verhältnis von zwei (indischen) und drei (bangalischen) Anteilen. In der Nord/Süd-Achse ist es der wechselnde Anteil von Süss- und Salzwasser, der die ökologische und demografische Trennlinie anzeigt. Im Norden liegen Dörfer entlang langer Erd-Aufschüttungen, und sogar dichtbewohnte Kleinstädte, die dem Strassen- und Schienen-Netz des Bundesstaats angeschlossen sind.
Weiter südlich wird die Infrastruktur immer dünner, und sie verlagert sich ganz aufs Wasser. Je weiter man in diese Flussläufe eindringt, desto seltener und kleiner werden die Siedlungen. Statt Dämmen erkennt man Erdwälle, behelfsmäßige Zäune, vertäute Fischerboote am Fuss einer hohen Böschung. Dort beginnt das Schutzgebiet mit seiner Pufferzone. Dann weiten sich die Ströme immer mehr ozeanisch aus, die Böden und Wasserläufe sind nun so ve«««rsalzen – und gefährlich –, dass (zumindest auf indischem Gebiet) kaum mehr menschliche Siedlungen auftauchen.
Königstieger und Krebse
Dies ist die Core Area des Schutzgebiets, wo selbst Fischern und Honigsammlern der Zugang verwehrt ist. Bei Ebbe mischt sich bestenfalls entlang der Uferstreifen noch Süsswasser bei. Deshalb halten sich die Landtiere – Krokodil, Alligator, Tiger, Wildschwein, Rotwild – oft in den Uferzonen mit ihrer etwas reicheren Vegetation auf. Sie sind alle auch geübte Schwimmer.
Selbst vom Bengalischen Königstiger mit einem Lebendgewicht von einer Viertel Tonne berichten Einheimische, dass die Wildkatze leicht drei Kilometer weit schwimmen kann und noch über genügend Sprungkraft für einen Angriff auf ein Fischerboot verfügt. Die sprichwörtliche Bedrohlichkeit für den Menschen liegt nicht nur in der Kraft und Grösse der Wildkatze. Ihre Ernährungsbasis – Wildschweine und Rehe – ist schmal. Der Mensch wird daher öfter zu einem Beutetier als in anderen indischen Reservaten.
Für mich war nicht wie in den Tourismusprospekten der stolze Königstiger das ikonische Tier der Sunderbans. Es waren die winzigen Krebse, die im Uferschlamm herumzirkelten. Sie sicherten sich ihre Überlebensfähigkeit nicht wie bei Tiger und Krokodil mit Kraft und Grösse, sondern durch ihre Kleinheit. Dennoch schienen sie ihrer Sache sicher zu sein – so sehr, dass sie sich sogar ein intensiv leuchtendes Farbenkleid zugetan haben.
Und wie sie so verspielt und scheinbar erratisch auf dem schlammigen Boden herumliefen, kam mir der Gedanke: Der gigantische Himalaya, der sich hier mit seinem Lehm nützlich macht, liegt diesem Winzling buchstäblich zu Füssen. Es war ein Bild, das gut zum hinduistischen Ganga-Mythos passen würde: Die zornige Flussgöttin, die die Erde heimsucht, sich aber am Ende der langen Reise, vor dem Tor zum wässrigen Jenseits, gezähmt hat; und Fruchtbarkeit «verströmt».