Bratton (*1968) lehrt derzeit an der Universität von San Diego. Seine Forschungsarbeit ist interdisziplinär angelegt und verbindet ethische Fragestellungen mit Aspekten der Stadtplanung sowie den Perspektiven von digitaler Steuerung. In seinem neusten Buch «The Revenge of the Real» kritisiert er scharf die politische Kultur des Westens, die es seiner Ansicht nach verunmöglichte, der Pandemie geeint und wirksam entgegenzutreten.
Der konstruktivistische Turn
Die Rache des Realen, das ist natürlich schweres Geschütz. Wofür denn sollte die Realität sich rächen? Bratton unterlegt seiner Argumentation eine Figur aus dem freudschen Fundus. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass im Seelenleben nichts verloren geht. Was immer wir nicht wahrhaben wollen und deshalb unter den Teppich kehren, das lauert versteckt im Dunkeln und wartet auf einen geeigneten Moment, uns in den Rücken zu fallen. Verdrängt aber haben nach Bratton die postmodernen Gesellschaften des Westens zusehends das Konzept der Realität selbst, also die Vorstellung einer Wirklichkeit, die es an sich gibt und die uns unverrückbar gegenübersteht, gänzlich unsensibel gegenüber subjektiven Plänen und Begehren.
Es gab da gegen Ende des letzten Jahrhunderts einen konstruktivistischen Turn, nach dem Tatsachen nicht mehr einfach als solche gelten sollen; vielmehr sind sie durchsichtig zu machen als Schein, der kulturell erzeugt wird. Nichts ist so, wie es zunächst aussieht; was wir sehen, ist das, was wir sehen sollen. Dementsprechend sind wir aufgerufen, den Schleier zu durchstossen und uns je einen eigenen Reim zu machen.
Diese konstruktivistische Sicht der Dinge verabschiedet letztlich die Instanz einer Wahrheit, die unbestritten für alle zu gelten hat. Wohin das führt, wissen wir mittlerweile: erst zu einem fröhlichen Relativismus, wo alles geht, und zuletzt zu «alternativen Fakten» und einer Politik der unverhohlenen Lüge.
Foucault und die Folgen
Dieser prinzipiellen epistemischen Skepsis entspricht ein generalisiertes Misstrauen auf der Ebene des Politischen. Bratton verortet dessen Wurzeln in Foucaults Konzept von «Biopolitik», genauer: in dessen verkürzter Rezeption. Nach Foucault ist Biopolitik eine Herrschaftsform, die sich im Gefolge der Aufklärung durchgesetzt hat. Sie stützt sich nicht mehr auf den nackten Zwang, sondern stellt Leben und Wohl der Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum, wobei sie sich selbst durch gelingende Fürsorge legitimiert. Allerdings gibt es auch eine dunkle Seite der Biomacht, denn mit Fürsorge ist immer Kontrolle verbunden. Der moderne Staat kann auf die Drohkulisse drastischer Strafen verzichten, da es ihm sanitarische, psychologische und pädagogische Vorgaben erlauben, die Einzelnen zu disziplinieren und auf Reihe zu bringen.
Biopolitik dient also dem Schutz der Individuen, erzwingt aber im gleichen Zug deren Einordnung. Foucaults Begriff ist zweischneidig angelegt, doch das eigentliche Problem besteht nach Bratton darin, dass ihn die Epigonen einseitig auf den negativen Aspekt festgelegt haben. Daraus resultierte das Narrativ einer übergriffigen Staatsgewalt, der sich souveräne Subjekte grundsätzlich zu widersetzen haben.
Dieses Narrativ vertrug sich genauso gut mit linken Vorbehalten gegen Ordnungsmacht wie mit der Staatsskepsis der Liberalen. So ist es ins kollektive Halbbewusste eingesickert und lenkt heute bei vielen die Wahrnehmung des sozialen Raums. Aktuell gerade bei den Massnahmenkritikern und Impfgegnern. Sie sehen in der staatlichen Seuchenbekämpfung nurmehr eine paternalistische Bevormundung, und die wollen sie sich als freie Menschen nicht gefallen lassen.
Grenzen des Individualismus
Das zeitgenössische westliche Subjekt hat sich also gleich von zwei Instanzen verabschiedet, die den Einzelnen bisher Grenzen gesetzt haben: auf der einen Seite von der objektiven Realität, auf der andern vom Konzept einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder auch mal in die Pflicht nehmen könnte. Was aus dieser doppelten Verweigerung resultiert, ist die Vorstellung von einer unbegrenzten Souveränität des Subjekts, von dessen Immunität gegen objektive Notwendigkeiten.
Die entsprechende Haltung bezeichnet Bratton als «Hyperindividualismus», und sie macht er in erster Linie verantwortlich für die zögerliche und ineffektive Pandemiebekämpfung im Westen. Vorauslaufende Rücksicht auf Seiten der Behörden, zäher Widerstand bei mächtigen Interessen- sowie lauten Randgruppen haben letztlich konsequente und zielführende Massnahmen verhindert.
Als Gegenbeispiel führt Bratton die ostasiatischen Länder an, die weit weniger Fälle und Opfer zu beklagen haben. Im direkten Vergleich, den die Pandemie ermöglicht, schneiden die Asiaten besser ab, eben weil in ihren Kulturen das Individuum nicht über allem steht und die Forderung nach Einordnung also nicht schon die Ursünde an sich darstellt. Abgesehen davon, dass sie von Epidemien bereits betroffen waren, kennen die Bevölkerungen dort nicht jenes fast schon institutionelle Misstrauen gegen Behörden, das im Westen derzeit Politik generell schwierig macht.
Der epistemologische Blick
Das Virus ist also die Gestalt, in der uns Bratton zufolge die Rache des Realen ereilt. Es erweist sich als eine jener widerborstigen Realitäten, die einfach ihren Gang nehmen, ohne sich im Geringsten um subjektive Befindlichkeiten oder Intentionen zu scheren. Und es trifft die westlichen Kulturen an ihrer Schwachstelle, nämlich bei der Unfähigkeit, Fakten anzuerkennen und sich auf ihrer Basis zu einem einheitlichen Handeln durchzuringen.
Aus dieser Erkenntnis heraus plädiert Bratton für einen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Art, wie wir uns gesellschaftliche Wirklichkeit vorstellen. Die aktuellen Ideologien – von links bis rechts – verstehen Gesellschaft als einen Verband, zu dem sich Freie aus freien Stücken zusammengeschlossen haben; was sie also eint, ist letztlich ein persönlicher Entscheid, auf den sie allenfalls zurückkommen können. Insofern fusst der Bestand der Gesellschaft auf dem, was Subjekte wollen.
Diese Sicht der Dinge, so kritisiert Bratton, ignoriert völlig die physisch-objektive Seite des Sozialen, das Vorhandensein von Körpern, die vor dem Virus alle gleich sind. Sie bilden quasi Knoten in einem Netz, welche alle passiv dem Ansteckungsrisiko unterliegen, aber selbst auch wieder ein Risiko darstellen, weil sie das Virus weitergeben können, und zwar völlig unabhängig von ihren persönlichen Absichten.
Unter diesem «epistemologischen Blick» bildet die Gesellschaft ein objektives Ganzes, das Regeln unterliegt, welche allein durch die je anstehende Bedrohung bestimmt sind. Und für Bratton ist klar, dass wir nach diesen Regeln spielen müssen, wenn wir die Gefahr abwenden wollen. Damit wird der subjektive Spielraum natürlich eng. Die Logik des Virus – oder des Klimawandels – bestimmt letztlich, was wir zu tun haben.
Positive Biopolitik
So fordert Bratton eine «positive Biopolitik». Darunter versteht er eine politische Steuerung, die sich primär auf wissenschaftliche Expertise stützt. Diese Art der Regierungsführung dürfte auch nicht mehr an nationalen Grenzen haltmachen, sie müsste vielmehr auf einer globalen Datenerfassung beruhen und sich bei ihren Entscheiden an Modellen bzw. Simulationen orientieren, welche die Logik der jeweiligen Bedrohung abbilden und zuverlässige Voraussagen ermöglichen.
Als gelungenes Beispiel führt Bratton die Erkenntnisse über den Klimawandel an, die ohne entsprechende Infrastruktur – ohne internationalen Datenaustausch, ohne Satelliten und Klimamodelle – schlicht unmöglich gewesen wären. Bei der Pandemie dagegen habe die im Westen verbreitete Angst vor Überwachung eine effektive Nachverfolgung der Verbreitungswege und verhindert.
Eine Politik, die sich vom «epidemologischen Blick» leiten lässt, hätte also die Rücksicht auf Privatsphäre entschieden zurückzufahren und sich vor allem am objektiven Geschehen zu orientieren. Damit verlangt Bratton unter der Hand allerdings die Einrichtung eines Expertenstaats, welcher der liberalen Tradition widerspricht. Sein Ansatz ist hoch technizistisch und basiert auf einem Digital-Utopismus, der in amerikanischen Köpfen recht verbreitet ist. Auch wenn man sich in der Pandemie verschiedentlich mehr Gehör für Experten gewünscht hätte: die Forderung nach rein vernunftgesteuerter Politik wirkt denn doch wie eine Überreaktion auf die massive Irrationalität in den Corona-Debatten.
Plädoyer für einen Paradigmenwechsel
Brattons Buch ist recht eigentlich ein Manifest. Er sieht im Hyperindividualismus das Problem und zielt darauf ab, Gesellschaft grundsätzlich neu zu denken. Dabei hat seine Lösungsperspektive allerdings hoch technokratische Züge und ist insofern sicher kritisierbar. Der Glaube an die Möglichkeiten digitaler Technologie wirkt zuweilen naiv, und es mag auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein, politische Steuerung weitgehend an Algorithmen festzumachen.
In einem Punkt aber hat Bratton recht: Die Rücksicht auf individualistische Befindlichkeiten hat viele Regierungen in der Pandemie an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht. Man denke nur an die Apathie, mit der unser Bundesrat vor einem Jahr in die zweite Welle schlitterte, oder an die zögerliche Haltung vieler Kantone gegenüber der Testpflicht an Schulen. Statt sie über alle Stufen hinweg einfach anzuordnen, schieben sie die Verantwortung auf einzelne Schulen und Eltern ab, was nichts bringt – ausser einem Flickenteppich und weiteren fruchtlosen Grundsatzdebatten.
Die aufs Individuum zentrierte Konzeption der Gesellschaft ist tatsächlich wenig geeignet für den Umgang mit planetaren Herausforderungen; sie dürfte sich zudem auch historisch abgenützt haben. Sie ist das Resultat einer jahrzehntelangen Massage, mit der ein antiautoritärer Drall, eine latent anarchische Haltung in die westlichen Köpfe gerieben wurden.
Erst kam das von links, dann haben die Liberalen den Individualismus wirtschaftskonform mutieren lassen, und mittlerweile benutzen ihn die Rechtskonservativen, um politische Energien in Scheindebatten zu binden. Aus ihrer Perspektive macht es Sinn, die Meinungsfreiheit soweit auszuleiern, bis sie schliesslich das Recht umfasst, sich nicht nur an Schwachsinn, sondern auch an der offenbaren Unwahrheit zu orientieren. Wer gegen den Maskenzwang zetert oder gegen die «Corona-Diktatur», der braucht nicht weiter über die Gründe nachzudenken, die zum Gefühl seines Unterdrücktseins führen. Die entsprechenden Diskurse sind post-politisch im eigentlichen und schlechten Sinn, denn sie dienen einzig dazu, alles beim Alten zu belassen.
Aber genau das geht nicht angesichts der aktuellen Herausforderungen. Diese zwingen uns in der Tat, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft neu zu konzipieren. Dem Virus wie der Physik der Atmosphäre sind unsere persönlichen Meinungen und Überzeugungen, unsere individuellen Wünsche und Absichten reichlich egal. Gegenüber planetaren Bedrohungen richten vereinzelte, versprengte, möglichst auch noch gegenläufige Reaktionen gar nichts aus. Da ist eine Einheit gefragt, der sich die Einzelinteressen unterzuordnen haben. Unter dem Regime von Gefahren, die uns alle gleichermassen betreffen, verbietet es sich, im gesellschaftlichen Ganzen nur Zwang zu sehen. Auch darin wird man Bratton zustimmen müssen.
Sein Buch, das im Übrigen noch nicht auf Deutsch vorliegt, mag durch die forsche Argumentation zuweilen nerven, doch mit dem Konzept von Gesellschaft als einem objektiven Ganzen setzt es eine Wegmarke. Denn sollten wir uns den Luxus leisten, auch dem Klimawandel mit zickig-wehleidigem Narzissmus zu begegnen, dann werden die Folgen noch weit gravierender sein als bei der verpatzten Pandemiebekämpfung.