In der Publikation von 2017 hat Reckwitz einen tiefgreifenden Strukturwandel der westlichen Gesellschaften beschrieben. Gekennzeichnet ist dieser vom Bedeutungsverlust des Industriesektors, vor allem aber durch einen Wechsel auf der Ebene der vorherrschenden sozialen Logik, das heisst: der Wertmassstäbe. Nach Reckwitz war die fordistische Phase des Industriezeitalters bestimmt durch eine «Logik des Allgemeinen». Die entsprechende Gesellschaftsform setzte auf die Massenproduktion standardisierter Güter, auf den sozialen Ausgleich im Rahmen einer breiten Mittelschicht, aber auch in hohem Masse auf die Konformität von deren Mitgliedern.
Doch mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat eine «Logik des Besonderen» den Lead übernommen Sie gewährt nicht nur den Individuen weit grössere Spielräume, sondern verlangt Unverwechselbarkeit, und zwar tendenziell auch von Gebrauchsgütern, Dienstleistungen oder Veranstaltungen. Dieser Umsturz im Bereich fundamentaler Spielregeln hat nach Reckwitz zu tun mit der Ausbildung eines postindustriellen, eines «kognitiv-kulturellen» Kapitalismus, der sich auf Singularität fokussiert. Allerdings wirkt diese Transformation sich massiv aus auf die soziale Schichtung, und zwar insofern, als sie die Mittelschicht erodieren lässt.
Von der Theorie zum Engagement
In der vorangegangenen Publikation hat Reckwitz einen begrifflichen Rahmen vorgelegt, von dem her sich in der Tat viele aktuelle soziale Prozesse und politische Entwicklungen interpretieren lassen. Allerdings hat er sich dabei auf die Position des neutralen Beobachters beschränkt und auf einen praktisch-politischen Stellungsbezug verzichtet. Genau den holt er in seinem neuen Buch nach. «Das Ende der Illusionen» ist eine Sammlung von Aufsätzen, welche die Erosionsprozesse in den postindustriellen Gesellschaften – nicht zuletzt auch das Phänomen des Populismus – aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.
Reckwitz stellt jetzt eine klare Diagnose: Die Hoffnungen, die an den liberalen Aufbruch geknüpft waren, haben sich längst nicht für alle erfüllt. Beträchtliche Teile der Mittelschicht konnten mit dem Tempo nicht Schritt halten. Sie sehen sich als Modernisierungsverlierer und haben das Vertrauen in den aktuellen Gesellschaftsvertrag verloren. Globalisierung, Deregulierung sowie kulturelle Öffnung haben letztlich zu einer gefährlichen sozialen Spaltung geführt. Überwinden lässt die sich, so Reckwitz’ Fazit, nur durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel: durch eine Wendung vom apertistischen – d. h. ungezügelten, auf immer mehr Öffnung drängenden – zu einem «einbettenden» Liberalismus, bei dem die Politik wieder mehr Verantwortung übernimmt.
In der Paternoster-Gesellschaft
Tatsächlich versprach die liberale Kulturrevolution der Achtziger eine kollektive Anhebung der Boote: mehr Freiheit und Wohlstand für alle. Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wurde als eine Win-win-Situation ausgegeben, von der letztlich alle profitieren sollten. Aber es ist anders gekommen. Reckwitz zeigt auf, dass sich gerade im Bereich der Dienstleistungen eine sowohl ökonomische als auch kulturelle Polarisierung herausgebildet hat.
Auf der einen Seite gibt es anspruchsvolle Beschäftigungen, die eine hohe – möglichst akademische – Bildung voraussetzen, die gut bezahlt sind oder zumindest kognitiv anregende Arbeit bieten. Ihnen gegenüber stehen jene Jobs, die im Wesentlichen dazu dienen, die Infrastruktur in Schuss zu halten, die bildungsmässig kaum Ansprüche stellen, dementsprechend auch eintönig und schlecht bezahlt sind. Hierher gehören primär die Bereiche der Reinigung, des Verkaufs, der Lieferdienste und zum Teil auch der Pflege, also Berufsfelder, wo oft prekäre Anstellungsbedingungen herrschen.
Während die Industriearbeit in der Nachkriegszeit die Menschen wirtschaftlich wie kulturell nivelliert hat, ist im Sektor der Dienstleistungen eine strukturelle Spaltung angelegt, welche den alten Gegensatz von niederer körperlicher und hoher geistiger Arbeit wieder aufnimmt, ja sogar noch verschärft. Der Sprung in die postindustrielle Spätmoderne hat damit zu einer Situation geführt, die Reckwitz treffend mit dem Bild des Paternosterlifts umreisst. Für die einen geht’s rauf, für die anderen runter. Dieser Umstand hat die alte Mittelschicht in eine defensive Sandwich-Position gebracht: Nach oben setzt sich eine «neue Mittelklasse» ab, welche den kultur- oder wirtschaftsliberalen Leitideen anhängt, während unten die schwächeren Mitglieder in die «prekäre Klasse» absinken.
Clash der Kulturtypen
Den alten Klassenbegriff setzt Reckwitz dabei bewusst als kritischen Stachel ein, weil er im Auseinanderbrechen der Mittelschicht in der Tat einen neuen Klassenkampf angelegt sieht. Denn die Spaltung geht tief, da der zunehmenden ökonomischen Kluft auch ein kultureller Clash entspricht. Darunter versteht Reckwitz jetzt allerdings nicht den Zusammenprall geografisch getrennter Zivilisationen, vielmehr einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Typen der Kulturalisation innerhalb der westlichen Gesellschaften.
Da ist einmal der Typ der «Hyperkultur», an dem sich primär die neue Mittelklasse orientiert. Hier steht Entgrenzung im Zentrum; feste Konventionen werden angezweifelt, die Schranke zwischen Hoch- und Populärkultur entfällt und fremde Einflüsse gelten als fruchtbare Anregungen für die je eigene Selbstentfaltung. Bezugspunkt ist nicht mehr das Kollektiv mit seiner Tradition und seiner Geschichte, sondern ein Individuum, das sich auf die Zukunft fokussiert und damit auf das weite Feld stets neuer Möglichkeiten. So erscheinen Diversität und Multikulturalität als per se gut und die Globalisierung findet breite Zustimmung. Weil die neue Mittelklasse sich als lokal ungebunden sowie international vernetzt sieht, engagiert sie sich entschieden gegen nationale Abschottung und für eine generelle Öffnung von Horizonten.
Aber genau in dieser Öffnung sehen die Globalisierungsverlierer eine Bedrohung. Für die bereits Prekarisierten sind Zuwanderer unmittelbar Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Die alte Mittelklasse fürchtet neben dem sozialen Abstieg auch den Verlust der eigenen kulturellen Identität. In der Folge hängen diese Gruppen tendenziell einer Haltung an, die Reckwitz als «Kulturessenzialismus» bezeichnet. Dieser Kulturtyp bildet das exakte Negativ zur «Hyperkultur», denn hier dreht sich alles um die Nabe der Abgrenzung und der Bewahrung eigener Identität. Die entscheidende Bezugsgrösse findet sich in der – religiösen, ethnischen oder nationalen – Ingroup, die nach innen möglichst homogen sein soll, dafür aber nach aussen umso mehr Differenz markiert. Das Gute ist das je Eigene; das Fremde dagegen wird dämonisiert.
In der festgefahrenen Migrationsdebatte zeigt sich derzeit der Zusammenprall dieser beiden Kulturtypen am deutlichsten. Doch Reckwitz zufolge ist der «Kulturessenzialismus» keineswegs ein rein westliches Phänomen. Er steht genauso hinter den weltweit verbreiteten Fundamentalismen wie dem Nationalismus neuen Typs, etwa dem russischen, chinesischen oder indischen. Insofern trägt er dazu bei, auch internationale Konfliktpotentiale aufzubauen.
Verwerfungen in der Politlandschaft
Der Übergang von der Mittelschichts- zur «Drei-Klassen-Gesellschaft» hat natürlich auch die politische Landschaft in den westlichen Demokratien umgepflügt. Reckwitz hebt speziell den Bruch der Unterschichten mit den Linksparteien hervor, die sich im Gefolge von ‘68 postmateriellen Themen zugewendet haben, etwa der kulturellen Öffnung, der Integration von Minderheiten oder dem Naturschutz. Damit allerdings sprechen sie eher Sensibilitäten der neuen Mittelklasse an, während sie den Draht zu den Absteigern oder den vom Abstieg Bedrohten verloren haben.
Auf der anderen Seite gibt es einen gemeinsamen Nenner zwischen Links- und Neoliberalen. Diesen sieht Reckwitz im Fokus auf Öffnung und permanenten Wandel. Es ist denn auch diese Nähe zwischen ideologischen Gegenspielern, die den «Dritten Weg» eines Clinton, Blair oder Schröder ermöglicht hat. Doch der gemeinsame progressive Fluchtpunkt bewirkt, dass Sozialdemokraten und Wirtschaftsparteien den Verlierern als zwei Flügel des gleichen Programms erscheinen. Mit diesem können sie sich nicht identifizieren, weil es für ihre Probleme kaum glaubwürdige Lösungen bietet. So ziehen sie sich von der Politik gleich ganz zurück oder wenden sich populistischen Bewegungen zu, welche Sicherheit und die Rückkehr zu altem Glanz versprechen.
Jenseits des alten Links-rechts-Schemas erkennt Reckwitz also eine neue Frontstellung, nämlich die zwischen der neuen Mittelklasse, die einseitig vom Umbruch profitiert, und den Modernisierungsverweigerern, die über ihrer Frustration den Glauben an den bürgerlichen Rechtsstaat verloren haben und deshalb dessen Standards zunehmend in Frage stellen. Aus der neuen Klassenspaltung erwächst somit eine direkte Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Ordnung. Reckwitz zieht daraus den Schluss, das Auseinanderdriften der Schichten müsste durch einen neuen Gesellschaftsvertrag gestoppt werden.
Gesellschaftliche Umbrüche
Seinem historischen Rück- und Ausblick legt Reckwitz das Konzept vom Paradigmenwechsel zugrunde, das Thomas S. Kuhn in den Sechzigern für das Feld der Wissenschaftsgeschichte entwickelt hat. Ein Paradigma ist Kuhn zufolge ein herausstechender Lösungsansatz – etwa Newtons Mechanik –, der für längere Zeit als Modell für wissenschaftliche Arbeit überhaupt dient, in der Regel so lange, bis seine Anwendung bei der Lösung eines Problems nicht weiterhilft. Übertragen auf die Politik besteht das Paradigma aus einem Sample von Leitideen und Wertmassstäben, auf die sich konträre Lager im Kern einigen können und die entsprechend die Politik in ihrer Grundausrichtung bestimmen. Auch hier ist die Geltungsdauer begrenzt durch die Fähigkeit des Paradigmas, aktuelle Problemlagen zu bewältigen. Gelingt das nicht mehr, ist ein grundlegender Umbruch programmiert.
Für die Nachkriegszeit konstatiert Reckwitz zwei paradigmatische Umbrüche. Der erste findet beim Beginn des Kalten Krieges statt mit einem Vorlauf in Roosevelts New Deal. Dieser Wandel bringt ein «sozial-korporatistisches» Paradigma an die Macht, das auf Regulierung setzt, also auf staatliche Eingriffe in die Konjunktur, auf eine steuerliche Umverteilung des Reichtums sowie soziale Absicherung. Bezeichnend ist für diese Phase, dass auch die bürgerlich-konservative Seite eine keynesianische Konjunkturpolitik sowie den Aufbau des Sozialstaats mitgetragen hat.
Die Grenzen dieses Politkonzepts brachte die Ölkrise von 1974 ans Licht, auf die es nicht mehr angemessen reagieren konnte. Der Markt für standardisierte Güter war gesättigt, das Wachstum entsprechend gedämpft. So musste die eingespielte Sozial- und Konjunkturpolitik in der Krise zur Überschuldung der Staaten führen. Und nicht zuletzt hatte die Jugendrevolte zentrale Leitvorstellungen der Mittelschichtsgesellschaft untergraben, indem sie Anpassung an die Mehrheit sowie die Fixierung auf materiellen Wohlstand ins Abseits stellte.
Aufstieg und Fall des apertistischen Paradigmas
So brach die Zeit des «apertistischen Liberalismus» an, eines Gesellschaftsmodells, das kulturell auf Individualisierung abzielte, ökonomisch auf die Befreiung der Märkte. Zudem ging auch der Kapitalismus im Ganzen in einen neuen Aggregatszustand über: Seine «kognitiv-kulturelle» Variante setzt nicht mehr auf Standardisierung, Ziel ist jetzt vielmehr die Singularisierung von Waren oder Dienstleistungen sowie deren Aufladung mit ästhetischem oder ethischem Mehrwert, der sie einzigartig macht und damit über die blosse Funktionalität hinaushebt. So ist ein Apple-Computer eben mehr als bloss ein Rechner, ein Nike-Produkt mehr als nur ein Laufschuh.
Auf diesem Weg liessen sich Reckwitz zufolge die Wachstumsprobleme der achtziger Jahre tatsächlich überwinden. Aber spätestens mit der Finanzkrise stiess auch dieses «Dynamisierungsparadigma» an seine Grenzen. Den heutigen Herausforderungen – gesellschaftliche Spaltung, kulturelle Atomisierung und Klimawandel – steht es hilflos gegenüber, nicht zuletzt, weil es die entsprechenden Entwicklungen selbst gerade antreibt.
Damit wäre erneut ein grundlegender Umbruch nötig, von dem im Übrigen ja auch die Populisten träumen. Deren Revolte versteht Reckwitz jedoch als blosses Symptom der Krise; eine Lösungsperspektive bietet sie nicht, weil sich der Populismus ideologisch einigelt und so die Spaltung vertieft. Das Kennzeichen bisher erfolgreicher Paradigmen findet Reckwitz gerade im Umstand, dass sie jeweils die moderaten Fraktionen beider Lager – des progressiven wie des konservativen – eingebunden haben.
Für einen einbettenden Liberalismus
Ein neues Gesellschaftsmodell darf sich also nicht auf Modernisierungsverweigerung versteifen. Die wirtschaftliche Globalisierung ist nun einmal nicht rückgängig zu machen, ebenso wenig die kulturelle Pluralisierung im Westen. Es kann letztlich nur darum gehen, die unerwünschten Folgen zu begrenzen. Dazu allerdings müssten Spielregeln gefunden werden, die sich am Gemeinwohl orientieren und einer Ethik der Gegenseitigkeit folgen.
Im letzten Aufsatz des Bandes skizziert Reckwitz das Paradigma eines «einbettenden» Liberalismus. Dieses wäre auf einen Spagat angelegt: Es würde Vielfalt sowie individuelle Freiheit im Grundsatz bejahen, wäre aber sozial auf Ausgleich ausgerichtet und, was die Wirtschaft betrifft, auf nachhaltige Perspektiven. Es käme also nicht umhin, den Wildwuchs der Märkte durch steuernde Eingriffe des Staates zu begrenzen. Die leitenden Regeln dürfen dabei jedoch keinen starren Rahmen bilden, sondern müssten in einem offenen politischen Diskurs stets wieder neu verhandelt werden.
Reckwitz’ Analyse der Gegenwartssituation ist eingängig und in sehr vielem treffend, zudem wagt es der Soziologe, die Vision eines neuen Gesellschaftsvertrags zu entwickeln, der die aktuelle Blockade auflösen könnte. Diese Idee ist allerdings höchst ambitioniert, denn sie mischt quasi Feuer mit Wasser, versucht Gegensätze zusammenzubringen, die sich im Moment unversöhnlich zeigen. Aus dem verfahrenen Status quo können wir aber nur herauskommen, wenn wir die erstarrten Polarisierungen erst einmal gedanklich überwinden.
Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Edition Suhrkamp 2735, 2019, 305 S.