In der Trias Liberté, Égalité, Fraternité, welche die französische Revolution beflügelte, war der dritte Begriff schon immer der am wenigsten greifbare. Ersetzt man ihn durch Solidarité, so gibt man der Formel zwar einen moderneren Anstrich; doch der Verständlichkeit ist mit der Auswechslung wenig gewonnen, da auch Solidarität ein erklärungsbedürftiges Wort ist. Der Soziologe Heinz Bude hat dieser notwendigen Klärung sein neues Buch gewidmet. Den titelgebenden Begriff umschreibt er in einer ersten Näherung mit Sympathie, Anteilnahme, Rücksicht.
Gerechtigkeit versus Solidarität
Bude wählt also zunächst erstaunlich unpolitische Wörter für die begriffliche Bestimmung von Solidarität. Mit der in seiner kleinen Monographie mehrfach auftauchenden Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Solidarität schärft Bude die Abgrenzung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre, denen er die beiden Begriffe jeweils zuordnet: Gerechtigkeit ist eine Maxime, die in die Bestimmung des sozialpolitisch zu sichernden Grundbedarfs einfliesst. Vollzogen wird diese Politik durch Gesetze und anhand von Verwaltungsregeln. Die Frage nach Gerechtigkeit heisst in der jeweiligen Situation: Was steht mir zu?
Beim Thema Solidarität geht es um eine andere Frage, nämlich: Was brauchst du? In der Industriegesellschaft hatte Solidarität ihren sozialen Ort in der Arbeiterbewegung und einen klaren ideologischen Stellenwert im Sozialismus. Mit der Verlagerung von der Industrieproduktion zur Dienstleistungsgesellschaft, von der Fabrik- zur Bürowelt und von festgefügten Arbeitsverhältnissen zu instabilen Beschäftigungen hat die traditionelle Arbeitersolidarität ihr Subjekt jedoch verloren.
Wer im 21. Jahrhundert nach Solidarität fragt, stösst auf jenes fluide Phänomen der Gemeinschaftlichkeit, das heute meist Zivilgesellschaft genannt wird. Statt bei einem definierten sozialen Subjekt befinden wir uns somit auf einem weiten Feld. Solidarität hat kein festgelegtes Thema und keinen vorgegebenen Akteur mehr. Um trotzdem von ihr sprechen zu können, müsste es gelingen, ihren inneren Kern zu fassen.
Umkehr der Perspektive
Bei der Suche nach dem Wesen von Solidarität stösst Bude auf den Philosophen Émmanuel Lévinas, der die seit der griechischen Philosophie herrschende Ich-Zentriertheit des Denkens kritisiert und die Vorrangigkeit des Anderen postuliert hat. Der Andere, so Lévinas, tritt diesem Ich mit einem unbedingten Anspruch gegenüber. Durch den Blick auf das fremde Gesicht, auf die Präsenz des Anderen, wird das Ich überhaupt erst konstituiert. Das Denken setzt an bei der Realität dieses Anderen – kehrt also die herkömmliche Perspektive um.
Mit diesem anspruchsvollen Bezug auf einen der originellsten Philosophen der Moderne macht Bude deutlich, dass er Solidarität nicht primär als moralische Leistung oder Forderung verstanden haben will, sondern als existentielle Gegebenheit. Mit anderen Worten: Der Mensch hat eine wesensmässige Disposition zur Solidarität. Er kann sie nur verleugnen, indem er sich selber verrät. Bude sieht sich in dieser Auffassung auch von entwicklungspsychologischen Befunden bestätigt: Bei kleinen Kindern wurden kulturübergreifende nicht sozial erlernte Muster altruistischen Verhaltens beobachtet.
Kulturgeschichtlicher Wandel der Solidarität
Als soziale Wirklichkeit ist Solidarität nun aber – trotz ihrer Verankerung in der Condition humaine – ein Band, dessen jeweilige Beschaffenheit nicht leicht zu verstehen und dessen Beständigkeit immer wieder fraglich ist. Bude folgt bei seiner Exploration zunächst Émile Durkheim, einem Klassiker der Soziologie, der ausgehend von Phänomenen der Individualisierung und Arbeitsteilung die Veränderungen solidarischen Verhaltens in der Industriegesellschaft am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu verstehen suchte. War in Clan-Gesellschaften Solidarität unter den Mitgliedern «mechanisch» vorgegeben durch Tabus, Bräuche und Normen, so ist sie unter modernen urbanen Bedingungen eine von den Individuen frei gewählte Verhaltensmöglichkeit.
Durkheim sah in diesem Kulturwandel einen Verlust an Gemeinschaft. Er traute, wie Bude meint, der Moderne nicht, was daran gelegen habe, dass Durkheim die gewandelten Formen der Solidarität nicht gesehen habe. Allerdings, so Bude weiter, fehle der modernen Gesellschaft eine verbindliche, allgemein anerkannte Form für die situativen und individuellen Praktiken des Solidarischseins – was es in der Tat schwierig mache, gelebte Solidarität als solche und insbesondere ihre Relevanz für den modernen Staat zu erkennen.
Tätiges Mitleid statt moralischer Imperativ
Ein archetypisches Modell solidarischen Verhaltens findet Bude in der neutestamentlichen Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lukas 10), die er Zug um Zug interpretiert. Auslöser der Zuwendung zu dem unter die Räuber Gefallenen ist nicht ein moralischer Imperativ, sondern Empathie. Der Priester und der Levit, die des Weges kamen, gingen am Verletzten vorüber. Vom Mann aus Samaria hingegen heisst es: «Er sah ihn und hatte Mitleid.» Und von diesem Mitleid ist jeder seiner folgenden Schritte des Helfens geleitet. Der Samariter erkennt in der Lage des Fremden die Bedürftigkeit, in die er selbst wie jeder Mensch jederzeit geraten kann und auf die es nur die Antwort des fraglosen Einspringens geben kann.
Auch im perfekt ausgebauten und funktionierenden Sozialstaat ist eine von Empathie geleitete Solidarität unverzichtbar. Bude schreibt: «Der Staat muss Gerechtigkeit walten lassen, die Zivilgesellschaft kann sich Solidarität erlauben.» Eine vom Gerechtigkeitspostulat abgeleitete «Ethik individueller Gleichbehandlung (ist) notwendigerweise auf eine Ethik wechselseitiger Verbundenheit angewiesen». Dies, so Bude, muss in einer Zeit, da vielfach eine dezidierte Politik der sozialen Spaltung betrieben wird, die «zur Bildung eines harten, bösen und leeren politischen Blocks» tendiert, als humane Idee hochgehalten und verteidigt werden.
Wohlwollen, Respekt, Achtsamkeit
In welchen Gestalten sich Solidarität zeigt, deutet Bude stets mit einer gewissen Zurückhaltung an: Sie lebt in der Selbstverständlichkeit nachbarschaftlichen Entgegenkommens, in Wohlwollen und Respekt bei Alltagskontakten, in couragiertem Farbebekennen gegen Herabwürdigung, in Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement, in Achtsamkeit gegenüber der Tier-, Pflanzen- und Dingwelt. Die Aufzählungen haben bei Bude illustrativen Charakter. Seine Zurückhaltung beim Erstellen von Tugendkatalogen hat ihren guten Grund: Es soll dabei keine moralische Kasuistik herauskommen. Sie würde der Verankerung von Solidarität in der von Lévinas proklamierten Perspektivenumkehr zuwiderlaufen.
Heinz Bude hat ein im besten Sinn feuilletonistisch geschriebenes Buch vorgelegt. Die gute Lesbarkeit sollte nicht dazu verleiten, die solide Unterfütterung des Textes mit geistes- und sozialwissenschaftlichem Material zu übersehen. Auf knappem Raum ist eine Fülle von Bezügen zur Theoriegeschichte und zu aktueller Sozialforschung verarbeitet. Egal, wie tief die Lesenden in Budes Monographie einsteigen wollen: Sie profitieren von einer ebenso angenehmen wie lehrreichen Lektüre.
Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer grossen Idee, Carl Hanser Verlag, München 2019, 176 S.