Was ist es nun, das den jihadistischen Milizen erlaubt, schneller zu wachsen und – mindestens in Syrien und im Irak, wo sie schon längere Zeit am Werke sind – erfolgreicher vorzugehen als ihre anfänglich zahlenmässig überlegenen nicht radikal fundamentalistischen Rivalen? Es gibt mehrere Dimensionen ihrer potentiellen Überlegenheit in einem Krieg der Milizen.
Nicht lokal gebundene Ziele
Eine ist geographisch: Die Milizen pflegen lokal gebunden zu sein. Ein Dorf, ein Stamm, ein Stadtviertel, ein Landesteil hat sich gemeinsam erhoben, bewaffnet, kämpft unter lokalen Führern. Andere lokal umschriebene Entitäten tun das gleiche. Es entsteht ein Mosaik lokal verankerter Widerstandgruppen, anfänglich sind es buchstäblich Hunderte.
Die Islamisten hingegen besitzen eine ideologische Grundlage, die nicht lokal gebunden ist. Sie will universal sein, und sie sucht «alle Muslime» anzusprechen und zu motivieren. Wenn es ihr auch nur gelingt, kleine, ja winzige Teile der Gesamtheit der Muslime für ihre Thesen zugewinnen, bietet ihre Ideologie die Grundlage für einen weitgespannten Appell. Er reicht bekanntlich sogar bis nach Europa und nach Amerika.
Die lokal gebundenen Milizen gelangen in Widersprüche und oft in Streit untereinander, sobald der gemeinsam bekämpfte Feind entweder überwunden ist (Fall Libyen) oder sich in bestimmten Landesteilen hält, aber andere aufgeben muss (Fälle Syrien und Irak). Sie stehen und wirken für ihre Lokalität und deren Bewohner. Zusammenarbeit mit Nachbarn und deren Milizen ist möglich, hat jedoch ihre Schwierigkeiten schon wegen der Führungsprobleme; kein Milizführer will einem anderen weichen.
Ähnlich steht es, wenn man die Zielsetzungen ins Auge fasst. Die nichtislamistischen Kämpfer wollen meistens «die Revolution» , die sie in ihrem Umkreis selbst zu verwirklichen und durchzuführen gedenken. Was genau getan werden soll, ist durch dieses Schlagwort nicht abgedeckt. Ein jeder entwickelt seine Vorstellungen und meldet seine Wünsche an. Seine Rivalen beschreibt er als «Kontra-Revolutionäre». Zusammenschlüsse auf gemeinsame Ziele hin sind denkbar, doch sie müssten gemeinsam definiert und abgesprochen werden. Einige Egos müssten sich soweit mässigen, dass sie zusammenarbeiten könnten. Am leichtesten geht das, wenn ein gemeinsamer Feind am Horizont zuerkennen ist, deshalb kommt es zu rivalisierenden Milizbündnissen in Irak und in Syrien.
Religiöse Ziele und Identifikationen
Die Islamisten hingegen verfügen über ein gemeinsames Ideal, den «islamischen Staat». Ob und wie er zu verwirklichen sein wird, bleibt offen. Zunächst kann man sich für das hohe Ideal einsetzen, das man zu erkennen glaubt und das von den Ideologen gepredigt wird. Diese Predigt verheisst sogar überweltlichen Lohn im Jenseits. Hier sind altbewährte ideologische Kräfte am Werk. Sie reichen weit über alle lokalen und materiellen Interessen «weltlicher Art» hinaus.
Der Faktor Motivation kommt dazu. Den Anführern mag es in vielen Fällen um Macht und um Machtgewinn gehen, ähnlich wie den Milizführern. Die Gefolsgleute leisten Gefolgschaft aus anderen, wahrscheinlich überwiegend nicht materiellen Gründen. Sie glauben an ihre angebliche Sendung und deren hiesigen und jenseitigen Lohn, so wie dies ihnen vermittelt wird. Die Vermittler kennen die richtigen Ansatzpunkte: Identität durch Zugehörigkeit zu einer dichten Wir-Gruppe. Diese betont man durch strenge Zeremonialverpflichtungen, Verhaltungs-, Sexual- und Kleiderregeln. Je enger diese sind, desto mehr schaffen sie Zugehörigkeit unter den bisher allzu Zugehörigkeitslosen. Feindbildprojektion setzt Kampfziele, die leichter gemeinsame Ziele werden als bloss materieller Gewinn, um den ja Viele rivalisieren. Grausamkeiten gegen die «Anderen» zwingen dazu, diese Anderen als Aussenseiter zu markieren, gegen welche es nur entweder Sieg oder selbstvernichtende Niederlage geben kann. Das stärkt Fanatismus nach aussen und innen.
Gegenseitige Überbietung rivalisierender Jihadisten
Auch die Jihadisten-Milizen rivalisieren untereinander. Dies hat sich gezeigt als al-Bagdadi zuerst mit al-Golani, dem Nusra-Anführer zusammenstiess und dann mit Zawahiri, dem überlebenden Chef von al-Kaida. Auch unter Jihadi-Milizen gilt: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Als al-Bagdadi das «Kalifat» gründete und sich selbst zum Kalifen erklärte, während er gleichzeitig ein grosses Gebiet beherrschte, wurde IS zum Modell aller Jihadisten. Sie lernten aus seinem Erfolg, dass ein Maximum von Grausamkeit auch ein Maximum an Erfolg hervorbinge. Das Kopfabschneiden wurde zum Markenzeichen und zum Erfolgsrezept. Weltweit fanden sich Jihadisten, die diesem Modell nachleben wollten. Oft waren es Splittergruppen von bisher bestehenden Terrorgruppen. Einige ihrer Unterführer ergriffen die Gelegenheit, um durch den Übergang zu IS, oft nur eine Frage des neuen Namens und der schwarzen Fahnen, aus Unterführern zu Hauptführern zu werden, natürlich in der Hoffnung, durch die «erprobten» Super-Terror-Methoden weitere Anhänger und Macht zu erwerben.
Der Überbietungsprozess geht zur Zeit in die Richtung immer weiter getriebener Grausamkeiten. Es lässt sich voraussehen, dass diese Ausstechungen durch erhöhte Brutalität solange dauern werden, als die daran Teilnehmenden Erfolge vorzeigen können. Diese werden primär an erobertem Territorium gemessen. Gebiet zu verlieren bedeutet auch einen Verlust an Glaubwürdigkeit. Er lässt sich vorübergehend kompensieren durch andere Gewinne, auch solche bloss propagandistischer Natur, wie zum Beispiel die Zerstörung antiker Statuen oder von Kultstätten Andersgläubiger. Doch Expansion oder mindestens als erfolgreich erscheinende Herrschaft über ein eigenes «Kalifat» oder «Emirat» wird auf mittlere Frist das Kriterium von Erfolg oder Misserfolg abgeben.
Hier liegen die Machtgrenzen der Jihadisten. Man hat jedoch auch die Entstehung neuer Jihadistengruppen zu gewärtigen, möglicherweise mit neuen Erfolgsversprechen und neuen Gewaltmethoden, solange in den betroffenen Ländern grosse Teile ihrer Bevölkerung in Existenz und Aktion ihres Staats mehr Belastung und Missbrauch als positive Schritte auf verbessertes Leben hin sehen.
Ablösung des Nationalismus durch Jihadismus
Bis zum Jahr 1967 gab es eine andere führende Ideologie als die des Islamismus. Das war der Nationalismus, der allerdings aufgespalten war in panarabischen Nationalismus und Nationalismus der bestehenden Einzelstaaten. Auch er vermochte Solidaritäten zu schaffen, die über die Nützlichkeitserwägungen von kleineren Einzelgruppen hinausreichten. Doch die nationalistischen Ideologien, die wie der Nationalstaat selbst aus Europa importiert worden waren, erhielten einen schweren Schlag durch die Niederlage gegenüber Israel vom Jahr 1967 und erlagen dann allmählich und über Jahrzehnte hin dem Eigennutz und der Machtabsicherung der herrschenden Militärdiktaturen. Der Staat hörte auf, «unser Staat» zu sein, so weit er es je gewesen war. Er wurde zum Staat unserer Ausbeuter. Diese Entwicklung – offen zu Tage gebracht durch die Volksaufstände von 2011– öffnete den Freiraum für die Ausbreitung islamistischer Ideologien und Gruppen.
Eine Rückkehr zum Nationalstaat, der so funktioniert, dass seine Bevölkerungen ihn annehmen und vielleicht sogar lieben könnten, wird schwierig werden, weil noch auf geraume Zeit die Gegenideologie des gewalttätigen Islamismus unter jenen Arabern Wirksamkeit zu entfalten droht, denen ihr Staat nur schlechte Zukunftsaussichten und keine Möglichkeit wirklicher Selbstentfaltung bietet.
Nachbemerkung
In dieser breiten vierteiligen Abhandlung habe ich bewusst die Frage der äusseren Einwirkungen übergangen. Obwohl die Einwirkungen der Fremden in den Augen der meisten Araber die wahre Erklärung der schlechten Lage abgibt, in der die heutige arabische Welt leben muss. Sie, die Kolonialisten und Neokolonialisten, die amerikanischen Imperialisten, die bei uns eingepflanzten Zionisten, werden als der wahre Grund so gut wie aller vorhandener Missstände angesehen.
Vieles davon trifft zu, viel mehr als den Bewohnern Europas und des amerikanischen Kontinentes bewusst sein mag. Dennoch scheint es mir wichtig zu sein, auf die Mechanismen hinzuweisen, die in der arabischen Welt selbst bestehen und wirken, unabhängig davon, wo ihre letzte Wurzel zu suchen wäre. Schliesslich ist ein jedes Gemeinwesen so gut wie ein jeder Organismus mit Kräften konfrontiert, die darauf ausgehen, es zu schädigen und auszuzehren, um selbst Gewinn daraus zuziehen. Es steht in erster Linie diesem Gemeinwesen selbst zu, solche Kräfte zu erkennen und sich gegen sie zur Wehr zu setzen, bevor sie es übermannen.
Wie das geschehen soll, mag schwer zu erkennen und noch schwieriger durchzuführen sein. Doch von anderen, Aussenstehenden zu erwarten, dass sie die Schutzfunktion übernähmen, die das eigene Überleben garantiert, ist unrealistisch. Sie werden im Gegenteil, manchmal aus offen eingestandenem Eigennutz, oft aber auch ohne ihren «Eurozentrismus» oder ihren «American exceptionalism» voll wahrzunehmen, stets in erster Linie sich selbst bedienen. Die Selbstbedienung als ein Geschäft zu betreiben, in dem die verfügbaren Werte nicht nur kompensationslos abgetreten sondern auch durch reale Werte entgolten werden, das ist Aufgabe der Eigentümer des Geschäftes.