Nicht aller Widerstand der irakischen Sunniten gegen al-Maleki war gewaltsam. Über ein Jahr lang (Dezember 2012 bis Januar 2014) demonstrierten bedeutende Massen von arabisch-sunnitischen Aktivisten gegen die «einseitige» Herrschaft Malekis in Bagdad. Sie errichteten ein Hauptprotestlager in Ramadi, der Hauptstadt der grossen westlichen Wüstenprovinz Anbar, und kleinere Prostestlager in den sunnitisch-schiitisch gemischten Provinzen Diyala und Kirkuk. Die Losung war Gewaltlosigkeit, «friedliche Proteste».
Gewalt gegen Gewaltlose
Manchmal war von einem Marsch aus Ramadi nach Bagdad die Rede. Doch davon sahen die Potestierenden ab, als klar wurde, dies drohe zu Schiessereien zwischen Schiiten und Sunniten in der Hauptstadt zu führen. Schussendlich liess der Ministerpräsident diese Versammlungen mit Gewalt auflösen, zuerst die Kleineren, in Hawija, Provinz Kirkuk, mit schweren Verlusten an Menschenleben (April 2013), später, ebenfalls blutig, das Hauptlager in Ramadi im Januar 2014.
Unter den Protestierenden gab es Minderheiten, die mit den islamistischen Widerstandsgruppen sympathisierten oder auch teilweise dazu gehörten. Die gewaltsame Niederschlagung der Proteste durch schiitische Truppen und Polizisten war natürlich Wasser auf ihre Mühle. Sie konnten es als Beweis dafür anführen, dass mit Gewaltlosigkeit nichts zu erreichen sei. Die Befürworter der Gewalt konnten daher den nächsten Schritt unternehmen.
Eskalation durch ISIS/IS
Er bestand aus dem Versuch, die Städte Ramadi und Falluja, beide am Euphrat und nicht weit von Bagdad entfernt, mit Gewalt zu besetzen. Dies geschah in lockerer Zusammenarbeit mit vielen der zahllosen bewaffneten Stämme der Wüstenprovinz Anbar, die weit überwiegend Sunniten sind. Seither ist es erstaunlicherweise der irakischen Armee nie mehr gelungen, die beiden Städte, trotz langer Belagerungen, voll unter die Herrschaft der Regierung zurückzubringen.
Der nächste Schritt von ISIS war dann die Infiltration der Stadt Mosul, der zweitgrössten Stadt des Iraks und eines alten Zentrums des Sunnismus sowie des Widerstandes gegen die Amerikaner und später gegen die Bagdader Regierung Malekis. Nach der Infiltration kam die militärische Besetzung Mosuls durch relativ kleine Truppen von ISIS. Die irakische Armee verfiel in Panik. Ihre Offiziere liessen die Truppe im Stich, und die Soldaten zogen darauf ihre Uniformen aus und suchten sich zu retten. Folge dieses Zusammenbruchs war die gewaltige Beute an amerikanischem Kriegsmaterial, das in Mosul gestapelt war und ISIS in die Hände fiel.
Der Überaschungseffekt und die Panik der irakischen Armee setzten sich fort und erlaubten den Kämpfern von ISIS rasche Vorstösse dem Tigris und dem Euphrat entlang, bis in die Nähe von Bagdad. ISIS zerstörte bewusst die Grenzschranken zwischen Syrien und dem Irak an den weiten Grenzsektoren, um ein einheitliches Herrschaftsgebiet für sein «Kalifat» zu schaffen, das nach der Eroberung von Mosul ausgerufen wurde.
Die weitere Entwicklung sei nur in Stichworten angedeutet, weil sie noch Erinnerung ist:
- Bedrohung der kurdischen Gebiete, besonders Kirkuks und Erbils, jedoch Widerstand der Kurden und Hilfe für sie durch Waffenlieferungen sowie durch beginnende amerikanisch angeführten Bombardierungen
- Vertreibung des IS vom Staudamm von Mosul durch Kurden und amerikanische Luftaktionen
- Kämpfe um Beiji, Ortschaft und Raffinierie (die grösste des Iraks), gleichzeitig Vorstösse von IS nördlich von Mosul bis an die türkische Grenze mit versuchtem Genozid der yezidischen Religionsgemeinschaft und Vertreibung der assyrischen Christen
- Zähe Kämpfe um die kurdische Stadt Kobane direkt an der syrisch-türkischen Grenze
- Am Ende Sieg der kurdischen Kämpfer mit Hilfe massiver amerikanischer Luftschläge.
- Versuche von IS, in Anbar das Übergewicht zu erlangen
- Gegenoffensiven der Regierungstruppen und der schiitischen Milizen zuerst in der Provinz Diyala, dann auf die Stadt Tikrit gerichtet
- All dies unter beständigem Fortsetzen der Bombenschläge aus Kriegsflugzeugen der Amerikaner und zahlreicher aliierter Mächte
Versuch einer Phalanx gegen IS
Die Amerikaner selbst sagen und wiederholen, dass die Luftschläge alleine nicht zu einem Sieg über IS führen können. Es braucht dazu Bodentruppen. Die Kurden stellen einige davon. Sie sind jedoch daran interessiert ihre Peshmerga primär in jenen Gebieten einzusetzen, in denen kurdische Mehr- oder Minderheiten leben. Sie haben Kirkuk in Besitz genommen und verteidigen das Vorfeld der zwischen ihnen und der Regierung von Bagdad umstrittenen Erdölstadt. Ähnliches gilt von den ganz oder teilweise kurdisch besiedelten Gebieten östlich und nördlich der Stadt Mosul, die offiziell nicht zum kurdischen Autonomiegebiet gehören, aber nun von kurdischen Truppen gehalten und verteidigt werden.
Die Amerikaner haben Ausbilder nach dem Irak geflogen, welche helfen sollen die dortige staatliche Armee neu aufzubauen und auszubilden. Parallel dazu gibt es die schiitischen Milizen aus den südlichen Landesteilen, die eng mit iranischen Revolutionswächtern zusammenarbeiten. Eine dritte Kraft wird angestrebt, sie soll aus sunnitischen Heimwachen bestehen, die ihre eigenen Gebiete gegen IS verteidigen würden.
Doch der vorgesehene Aufbau dieser sunnitischen Lokalkräfte stösst auf Widerstand im irakischen Parlament, weil viele der schiitischen Abgeordneten fürchten, bewaffnete Sunniten könnten sich als Separatisten erweisen, die ihre Waffen auch einsetzen könnten, um sich vom irakischen Staat loszusagen oder um Teilautonomie zu erlangen. - Die Behandlung, welche die irakischen Sunniten seit 2003 erfuhren, als die Amerikaner das Saddam-Regime stürzten, lässt solche Befürchtungen als nicht unbegründet erscheinen.
Jihadisten in Jemen
Auch im Jemen waren es gewaltwillige islamistische Kräfte, die nach dem Sturz des bisherigen Machthabers, des Präsidenten Ali Abdullah Saleh, schrittweise an Macht gewannen. Schon zuvor gab es al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP). Dieser Kaida-Ableger bestand teiweise aus jemenitischen, teilweise aus saudischen Kaida-Kämpfern, die aus Saudi-Arabien entkommen waren, als die dortigen Sicherheitskräfte 2003 bis 2006 gegen sie losschlugen.
Die Amerikaner suchten AQAP mit Drohnen zu bekämpfen, und sie berieten die jemenitische Armee zur Zeit Ali Abdullah Salehs in ihrem Abwehrkampf gegen sie. Es gab hartnäckige Gerüchte, nach denen der frühere Präsident nicht besonders energisch gegen AQAP vorgehe, weil ihre Gegenwart ihm dazu diente, von den Amerikanern mehr Hilfe, bessere Waffen und Ausbilder für seine Eliteeinheiten, die Präsidialwache, zu erhalten.
Vereiteltes AQAP-Territorium
Im Jahr 2011 während der Demonstrationen und der Diskussion über den Rücktritt des Präsidenten gewannen die AQAP-Leute an Macht. Sie konnten zum ersten Mal eigene Territorien besetzen in der südlichen Provinz von Abyan – östlich von Aden – und in den nördlich daran angrenzenden Bergtälern. Doch im Sommer 2012 entfernte die jemenitische Armee mit Unterstützung lokaler Stämme und einiger Mithilfe der Amerikaner die AQAP-Kämpfer aus diesen Positionen. Sie sahen sich gezwungen, in die Wüste zurückzukehren und sich dort mit Hilfe ihnen gewogener Stämme zu verstecken.
Um sich für diese Niederlage zu rächen, begannen sie einen Bombenkrieg gegen die jemenitische Armee, ihre Offiziere und ihre Sicherheitsbeamten. Die Anschläge verursachten mehrmals grosse Opferzahlen. Andere zielten auf Einzelpersonen, meist bestimmte Sicherheitsoffiziere. Die Phase der Attentate hörte bis heute nicht auf. Als die Huthis im September 2014 Sanaa besetzten, wurden auch sie Ziele von blutigen Bombenanschlägen und mussten sich AQAP in zahlreichen Gefechten und Hinterhalten stellen. Die Feindschaft gegenüber den Huthis ist konfessionell bedingt und wurde gesteigert durch den langen Guerillakrieg gegen die Huthis im Norden Jemens, den das Saleh-Regime von 2004 bis 2010 führte. Für die besonders streng sunnitischen Fanatiker von AQAP sind die zaiditischen Huthis Ungläubige, die vom wahren Islam abgefallen sind. Sunnitische Stämme, die ebenfalls die Huthis fürchteten, schlossen sich enger mit AQAP zusammen, um gemeinsam mit den Jihadisten gegen die Huthis zu kämpfen.
AQAP dringt vor in Mukalla
Der neue Krieg Saudi-Arabiens gegen die Huthis und deren Verbündete in der Armee hat schon in seinen ersten Tagen dazu beigetragen, dass die AQAP-Leute ihrerseits zum ersten Mal seit ihrer Niederlage in Abyan wieder grössere Kriegsaktionen unternehmen konnten. Am 1. April brachen sie in der östlichen Hafenstadt Mukalla in die Stadtmitte ein und besetzten dort Regierungsgebäude. Doch das war nur ein Ablenkungsmanöver. Als ihr wahres Ziel erwies sich das Zentralgefängnis der Stadt. Sie erstürmten dieses und befreiten die Gefangenen. Unter ihnen befanden sich zahlreiche AQAP-Aktivisten und im besonderen ein bekannter Anführer der Jihadisten, der in den Abyan-Kämpfen von 2012 gefangen genommen worden war.
Die Pro-Huthi-Teile der jemenitischen Armee waren offensichtlich damit beschäftigt, sich vor den saudischen Luftangriffen in Sicherheit zu bringen, so dass sie sich nicht um die Sicherheit der fernen Hafenstadt Mukalla kümmern konnten. Der dortige Hafen sei, den Berichten nach, noch immer in der Hand von AQAP. Neben AQAP hat sich in Jemen auch IS hervorgetan, dies in besonders brutalen Anschlägen in Sanaa vom 27. März dieses Jahres gegen zwei von den Huthis gebrauchte Moscheen, die mindestens 137 Todesopfer unter den Betenden forderten. Jedenfalls hat IS diesen Anschlag für sich in Anspruch genommen, während AQAP die Verantwortung für ihn zurückwies. IS erklärte auch, die Gruppe sei nun eingepflanzt in Sanaa und werde bald wieder tätlich werden.
Ein Saatbeet für Jihadisten
Niemand zweifelt daran, dass die gegenwärtigen Kriegshandlungen zwischen den Saudis und den Huthis mit ihren Armeeverbündeten dazu beitragen werden, derartigen Radikalismus weiter zu fördern. Verzweifelte und verbitterte Personen, besonders Jugendliche, die keinerlei Zukunftsperspektiven vor sich sehen, sind natürlich für die Botschaft vom verheissenen Islamischen Staat, den sie sich erkämpfen werden, besonders empfänglich. Kriegshandlungen besonders zerstörerischer Natur, wie die gegenwärtigen nächtlichen Luftangriffe der Saudis im ganzen Land, führen ihrerseits dazu, dass sich die Zukunftsperspektiven noch mehr verdunkeln, als sie dies in dem von Armut und Chaos geplagten Land Jemen ohnehin waren.
Der vierte Teil folgt.