Wenn man versucht, die gemeinsamen Züge herauszuarbeiten, die sich in den gegenwärtigen vier Bürgerkriegen der arabischen Welt zeigen, setzt sich ein Bild davon zusammen, welche die grossflächig wirksamsten und einschneidensten der vielen Faktoren sind, die in den vier betroffenen Ländern katastrophal zusammenwirken. Dies führt zu tentativen Einsichten darüber, was noch bevorstehen könnte.
Macht und Armee
Die vier Regime sind anfänglich, im Jahre 2011, alle zusammengebrochen, weil die Bevölkerung gegen sie aufbegehrte. Ihre exekutiven und legislativen Instanzen brachen ein unter dem Druck der Proteste. Viele ihrer Richter erwiesen sich als korrupt. Überall stellte sich die Frage, welche Rolle die Armee spielen würde. Sie war schon vor dem Zusammenbruch in allen vier Bürgerkriegsstaaten die eigentliche und wahre Stütze der Staatsmacht gewesen, so sehr, dass sie - manchmal eher versteckt, manchmal recht offen - den Hauptpfeiler gebildet hatte, auf dem die tatsächliche Regierungsmacht ruhte. Es gab eine Ausnahme, Tunesien, und die dortige Entwicklung verlief denn auch anders.
Im Fall Ägyptens, das ebenfalls eine Ausnahme darstellt, weil es bis jetzt dem Bürgerkrieg entging, konnte die Armee ihre herrschende Position bewahren, indem sie zuerst die Leitung der "Revolution" übernahm, dann ein kurzes und wenig glückliches Demokratieexperiment zuliess aber beaufsichtigte und zum Schluss die Macht dadurch übernahm und weiter festigte, dass sie einen der Ihren als Staatschef einsetzte.
Liquidation der Armee in Libyen
Die Armee in Libyen spaltete sich unter dem Druck der Massendemonstrationen. Dies war vorbereitet durch die Armeepolitik, die Ghadhafi verfolgte, indem er gewisse Einheiten bevorzugte und andere benachteiligte. Die Bevorzugten hielt er im Zentrum der Macht, Tripolis; die Benachteiligten fern vom Zentrum in der Cyrenaika. Die Folge war, dass die benachteiligten Soldaten in Bengasi mit der Volkserhebung sympathisierten, die bevorzugten aber bereit waren, die Volkserhebung niederzuschlagen. Die Bevorzugten waren auch besser bewaffnet. Daher bestand die Gefahr, dass sie die Rebellen in Bengasi niederschlagen und massakrieren könnten. Die westlichen Staaten griffen ein, um dies zu verhindern, und sie änderten durch ihre Luftkriegsaktion die Machtverhältnisse dermassen, dass nach sechs Monaten der Kämpfe die bevorzugten Einheiten, die für Ghadhafi eintraten, zerschlagen wurden.
Milizen nach der Armee
Auf dem Boden und unter dem Schild der westlichen Luftschläge kämpften Libyer. Doch dies waren in erster Linie selbstmobilisierte Milizen, denen die schwachen Truppen zu Hilfe kamen, die sich in Bengasi gegen Ghadhafi entschieden hatten. Die Milizen in ihrer lokalen und politischen Vielfalt kamen zur Macht nach dem Sturz von Ghadhafi, und sie konnten diese rasch ausbauen, indem sie die gewaltigen Waffenvorrräte in Beschlag nahmen, die Ghadhafi mit seinen Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl von den Industriestaaten der westlichen Welt erworben hatte.
Der gegenwärtige Bürgerkrieg Libyens sollte sich dadurch entwickeln, dass die gewählten Regierungen nie Gewalt über die Waffenträger erlangten, sondern umgekehrt, diese über die Regierung. Weil sie vielfältig gespalten waren in lokale, tribale, religiös orientierte, einzelnen Führungspersonen loyale und ethnisch unterschiedliche Gruppen (diese letzteren Araber und Berber), bestand die neue Macht lediglich aus einem komplexen Mosaik von buchstäblich Hunderten von bewaffneten Gruppen. Doch im gegenseitigen Überlebenskampf ergab es sich über die Jahre, dass diese vielfältigen Gruppen gezwungen waren, sich mit Freunden gegen Rivalen zusammenzuschliessen, um nicht entmachtet zu werden. Dieser Prozess dauerte an, bis grosse Zusammenschlüsse entstanden, die Teile Libyens dominierten. Zuerst bildete sich "Morgenröte" (Fajr) in Tripolis aus den Milizen der Stadt Misrata mit anderen Verbündeten, unter denen einige den Muslimbrüdern nahe standen. Dann vertrieb "Morgenröte" das zuletzt gewählte Parlament, und es musste nach Tobruk fliehen. Um dieses Parlament herum scharten sich die Milizen, die nicht zu "Morgenröte" gehörten. Sie wurden unterstürzt durch die in der Cyrenaika überlebenden Restbestände der Armee, die sich von Ghadhafi losgesagt hatten.
Die dritte Kraft der islamistischen Kämpfer
Die grossen Waffenlager Ghadhafis befanden sich in Tripolitanien, denn dies war das Zentrum seiner Macht gewesen. und dort hielt er auch seine Waffen. Was bedeutete, dass es für "Fajr" leichter war sich aufzurüsten als für die Milizen und Armeeüberreste von Tobruk.
Die beiden Grossallianzen, jede gestützt auf "ihre" Regierung, führten Krieg gegeneinander. Doch im Niemandsland zwischen ihnen behauptete sich eine dritte Macht von ideologisch motivierten Jihadisten, die mit den Waffen Ghadhafis einen Islamischen Staat erkämpfen wollten. Dies ergab die gegenwärtigen Machtverhältnisse in Libyen.
Syrien die Armee bleibt, aber vermindert
In Syrien konnte sich die Armee an der Macht halten, und sie hielt auch das Regime aufrecht, dem sie ihre Existenz verdankte. Hafez al-Asad, der Vater des gegenwärtigen Machthabers, hatte seine Streitkräfte als den Pfeiler seiner Macht dermassen konfiguriert, dass die führenden und die Kontrollpositionen in den Händen von Offizieren seiner Religionsgemeinschaft lagen, der religiösen Minderheit der Alawiten.
Weil es sich dabei um eine Gemeinschaft handelte, die über Jahrhunderte hinweg diskriminierend behandelt worden war und in der Randposition der Alawiten Berge überleben musste, bis Asad sie in Machtpositionen über die Streitkräfte und Sicherheitsdiente beförderte, waren die alawitischen Offiziere darauf angewiesen, durch Dick und Dünn zu Asad zu halten. Wenn er gestürzt worden wäre, hätten auch sie ihre Stellung verloren und wären zu Opfern von Racheaktionen durch die von ihnen beherrschte und ihrer Freiheit beraubte Mehrheit der sunnitschen Gemeinschaft geworden.
Auf diesem Weg war es Hafez al-Asad gelungen, die Periode der beständigen Armeecoups zu beenden, die in Syrien zwischen 1949 und 1970 die politische Tagesordnung gebildet hatten. Er konnte sogar seine Macht an seinen Sohn vererben. Die alawitisch kontrollierte Armee hielt auch zu dem Sohn. Sie musste schlechterdings zu ihm halten, angesichts des Aufbegehrens der Bevölkerung zuerst in Deraa von März 2011, später schrittweise in fast allen syrischen Städten.
Überläufer aus der Armee
Doch viele der sunnitischen Soldaten, die das Gros der syrischen Armee bilden, weil allgemeine Wehrdienst besteht, hatten nicht die gleichen Interessen wie ihre alawitischen Kontrolleure und Vorgesetzten. Deshalb gab es Überläufer, die sich auf Seiten des Volkswiderstandes schlugen. Die meisten Desertionen ergaben sich, wenn sunnitische Soldaten gezwungen wurden, auf Demonstranten zu schiessen, die überwiegend ihrer eigenen Religionsgemeinschaft angehörten.
Die Überläufer mit ihren Waffen bewirkten einerseits die Militarisierung der ursprünglich gewaltlosen Oppositionsaktivisten. Sie bewirkten auch, dass die syrische Armee Massnahmen ergreifen musste, um die Truppen in der Hand zu behalten. Rein alawitische Elitetruppen waren unter allen Umständen einsetzbar. Mannschaften, die zu grossen Teilen aus Sunniten bestanden, mussten vorsichtiger verwendet werden und wenn nötig so eingesetzt, dass Desertionen für Überlaufwillige gefährlich wurden. Dies schränkte die für energische Offensiven und Nahkämpfe verfügbaren Einheiten ein. Man kann deshalb von einem partiellen Zusammenbruch der syrischen Armee sprechen. Doch die Regierung ist natürlich nicht daran interessiert, von Deserteuren zu reden. Sie will den bewaffneten Widerstand einzig und alleine als durch das Ausland hervorgerufenen Terrorismus darstellen. Etwas davon mag zutreffen. Doch die Deserteure hat es tatsächlich gegeben.
Schwere Waffen statt Mannschaftseinsätze
Die innere Lage der Armee hat den ganzen grausamen Krieg der letzten vier Jahre in Syrien geprägt. Es gibt einen harten Kern mit schweren Waffen, der gar nicht anders kann, als für die Asad-Familie zu kämpfen. Sein eigenes Überleben hängt davon ab. Aber es gibt auch die grosse Masse der syrischen Sunniten, die es bisher nicht aufgegeben hat, gegen die Regierung und ihre Armee aufzubegehren, und die Soldaten der Armee (jedoch nicht ihre führenden Offiziere) sind mehrheitlich Sunniten.
Die grosse Masse der Anti-Asad-Kräfte ist allerdings in Dutzende von Widerstandsgruppen zersplittert. Es findet ein langsamer Zusammenlegungsprozess derselben, vergleichbar mit dem in Libyen geschilderten, statt.
Die irakische Armee wurde aufgelöst
Im Irak wurde die Armee von den Amerikanern nach ihrer Niederlage aufgelöst. Später wurde mit amerikanischer Hilfe und Beratung eine neue Armee aufgebaut. Doch die irakische Regierungsmacht unter Nuri al-Maleki, einem früheren schiitischen Aktivisten, sorgte dafür, dass dies eine einseitig schiitisch dominierte Armee wurde.
Das Gleiche galt für die neuen Sicherheitskräfte. Dies führte zu Ressentiments der sich übergangen fühlenden arabischen Sunniten, die ein knappes Viertel der Bevölkerung bilden, jedoch in früheren Jahren, ja in den vorausgegangenen Jahrhunderten seit dem Beginn der Abbasidenzeit (751 nach Chr.) , stets die Zentrale von Bagdad beherrscht hatten.
Misslungener Wiederaufbau der Streitkräfte
Der politisch ausgerichtete Aufbau der neuen irakischen Armee führte zu schwerer Korruption unter den Offizieren. Sie wurden nach Kriterien der Loyalität gegenüber dem Ministerpräsidenten ausgewählt, nicht nach der beruflichen Qualifikation, und dies führte dazu, dass zum Schluss Offizierspositionen gekauft wurden, gewissermassen als Spekulation. Der erfolgreiche Ersteigerer zählte darauf, dass er die Kosten seiner Ernennung durch Manipulationen mit Gewinn einbringen könne.
Zu diesem Zweck führte er dann Soldaten auf dem Papier, die es in Wirklichkeit gar nicht gab, die der Staat jedoch finanzierte. Oder er erlaubte Soldaten, ihren halben Sold zu behalten, die andere Hälfte jedoch an ihn zu bezahlen und dafür nicht zum Dienst zu erscheinen. Diese abwesenden Soldaten nannte man "Astronauten", weil sie „irgendwo im Weltall“ herumstrichen. Wenn solche Offiziere sich nur als gute Schiiten gaben und sich als loyale Anhänger des Ministerpräsidenten zeigten, konnten sie sich ungestraft bereichern.
Einseitig handelnde Sicherheitskräfte
Die schiitisch dominierten Sicherheitskräfte sahen es als ihre Hauptaufgabe an, Sunniten zu überführen, indem sie sie des Verrates bezichtigten. Manchmal waren sie schuldig, doch es gab auch Fälle, in denen ihre Frauen verhaftet wurden mit der Drohung, sie könnten vergewaltigt oder gefoltert werden, wenn der Mann sich nicht stelle und schuldig bekenne, gleich wie die Dinge in Wirklichkeit lagen. Das böse Blut, das durch diese Methoden erregt wurde und allmählich zunahm, trug entscheidend dazu bei, dass die sunnitische Bevölkerung sich den sunnitschen Extremisten zuwandte, die zuerst im Widerstand gegen die Amerikaner, dann in Opposition gegen die Maleki Regierung, Attentate verübten und Gefängnisse stürmten, und schliesslich im Juni 2014 Mosul eroberten und die sunnitisch-arabischen Gebiete der Nordhälfte des Iraks in Besitz nahmen, während die irakische Armee, Offiziere voran, davonlief.
Zweiter Teil erscheint am Ostersonntag