Die Eiszeit zwischen der Schweiz und der EU nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen hält an. Könnte ein neuer Plan das Eis zum Schmelzen bringen und den Weg zu erfolgreichen Verhandlungen ebnen?
Wir erinnern uns: Der Bundesrat hat im Mai die Verhandlungen einseitig abgebrochen, weil er zur Überzeugung gelangte, das Ergebnis würde bei Parlament und Volk nicht bestehen. Während die EU ein Einfrieren der Verhandlungen wohl noch verstanden hätte, ist die Verärgerung nun nachhaltig. Im November ist Bundesrat Ignatio Cassis nach Brüssel gereist und traf den Vizepräsidenten der EU-Kommission, Maros Šefčovič. In einem Zeitungsinterview behauptete er dann, Šefčovič habe an der Pressekonferenz nach seinem Gespräch mit Cassis etwas völlig anderes berichtet als das, was tatsächlich besprochen worden sei. Die Tatsache, dass er dem Slowaken öffentlich Doppelzüngigkeit vorwarf, half wohl nicht, einen politischen Dialog zu beginnen, sondern hat den Graben eher noch vertieft.
Die Position der EU
Die Position der EU ist bekannt: Einigung in den Streitpunkten Rechtsübernahme, Lohnschutz und Streitbeilegung kommt vor neuen sektoriellen Sonderwünschen wie ein Strom- oder ein Finanzdienstleistungsabkommen. Zudem erwartet Brüssel regelmässige Kohäsionsbeträge, quasi als Eintrittsticket zum Binnenmarkt. Die EU erwartet von der Schweiz Vorschläge in den zentralen Fragen und ist in der Zwischenzeit nicht mehr bereit, bestehende sektorielle Abkommen aufzudatieren.
Mit der Forderung, eine Roadmap vorzulegen, hat Brüssel den Ball elegant nach Bern gespielt. Wird Cassis bei einem nächsten Treffen mit Šefčovič das Eis zum Schmelzen bringen?
Damit hat Brüssel den Ball elegant nach Bern gespielt. Das kommt daher, dass die Schweiz in Brüssels Optik in den letzten 50 Jahren immer auf Zeit gespielt und versucht hat, die Rosinen aus dem Binnenmarkt herauszupicken und den Rest abzulehnen.
Ursprünglich war vereinbart, dass sich Cassis und Šefčovič am Weltwirtschaftsforum in Davos wieder sehen würden. Da dieses Treffen abgesagt wurde, wird ein neuer Termin gesucht. Mit welchem Vorschlag im Gepäck wird der Tessiner den Vizepräsidenten der EU-Kommission treffen? Und wird endlich das Eis schmelzen?
Untaugliche Strategie
Ein Vorschlag, der schon länger zirkuliert, basiert darauf, institutionelle Fragen für jedes Abkommen separat zu regeln. Er geht zurück auf den ehemaligen Staatssekretär und Chefunterhändler der bilateralen Verträge, Michael Ambühl. Das Problem dabei ist, dass die EU diesem Vorgehen bisher reserviert gegenübersteht. Der Grund ist nicht, dass das nicht funktionieren würde. Der Schengen-Vertrag ist nach diesem Muster gestaltet, und die Schweizer Schengen-Assoziation funktioniert. Doch es liegt auf der Hand: Dieses Vorgehen lädt geradezu ein, Rosinen zu picken und bei den übrigen Fragen auf Zeit zu spielen. Mit einer solchen Strategie im Gepäck dürfte Cassis also scheitern.
Die EU hat immer klar kommuniziert: Wer am Binnenmarkt teilnimmt, muss sich an dessen Regeln halten und diese dynamisch anpassen. Nun will sie wissen, ob die Schweiz überhaupt an Verhandlungen interessiert ist.
Die EU hat immer klar kommuniziert: Wer am Binnenmarkt teilnimmt, muss sich an dessen Regeln halten und diese dynamisch anpassen. Weiter muss dieser externe Teilnehmer einen Mechanismus zur Streitschlichtung akzeptieren. Die EU möchte nun ein politisches Bekenntnis der Schweiz zu neuen Verhandlungen, das heisst, sie will wissen, ob die Schweiz überhaupt an Verhandlungen interessiert ist. Šefčovič will also eine Art «Roadmap» für die Verhandlungen.
Das bedeutet: Ohne geregelte Streitschlichtung geht es nicht. Dabei kommt entweder der im Rahmenabkommen vorgesehene Mechanismus in Frage oder der EWR-Gerichtshof. Weiter geht es nicht ohne automatische Rechtsübernahme. Hier wäre die Lösung im Rahmenabkommen dank der Beteiligung der Schweiz an der EU-Rechtsentwicklung vorteilhaft. Die übrigen im Rahmenabkommen umstritten gebliebenen Punkte – Staatsbeihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie – sind in der Optik der EU Probleme, die gelöst werden müssen und gehören dadurch zur Verhandlungsmasse. Das heisst auch: Hier ist die Möglichkeit, einen Kompromiss zu finden, grösser.
Prüfenswerter SP-Vorschlag
Nun macht die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) einen interessanten Vorschlag, der prüfenswert ist. «Unser Weihnachtsgeschenk für Bundesrat Cassis» nennt ihn SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Interessant daran ist, dass er alle innen- und aussenpolitischen Probleme anspricht und in ein Gesamtkonzept einbindet. Dadurch schafft er neue Verhandlungsmasse, was den Spielraum für Kompromisse vergrössert. Eine entscheidende Rolle bei der Erarbeitung der Strategie spielte wohl der basellandschaftliche SP-Nationalrat Eric Nussbaumer – als bekennender Euroturbo bisher nicht im Entscheidungszentrum der Partei.
Der SP-Vorschlag schafft neue Verhandlungsmasse, was den Spielraum für Kompromisse vergrössert.
Die Strategie besteht aus der Phase der Stabilisierung und der Phase neuer Verhandlungen.
Bis 2027: Stabilisieren
Wie von Bundesrat Cassis geplant, soll ein politischer Dialog zu einer Stabilisierung und Entspannung führen. In dieser Phase werden – in einem befristeten Abkommen geregelt – die strittigen Fragen vorerst ausgeklammert. Beide Parteien regeln die Praxis und die unmittelbaren Probleme. Das heisst: Die Schweiz willigt in eine Erhöhung der Kohäsionszahlungen ein, fordert aber Verhandlungen über eine Assoziierung an den Programmen Horizon (Forschung) und Erasmus (Studierende).
Der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen erfolgte nicht, weil das Abkommen per se schlecht war, sondern vor allem aus innenpolitischen Gründen. Der Bundesrat gelangte zur Überzeugung – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt –, dass dieses Abkommen zurzeit in der Schweiz nicht durchzusetzen sei.
Ein grosses Problem der Schweizer Europapolitik ist tatsächlich, dass sie innenpolitisch schlecht abgestützt ist und kaum eine Diskussion darüber stattfindet, was wir eigentlich wollen. Wenn Exponenten der EU erklären, die Schweiz solle endlich sagen, was sie wolle, dann haben sie damit nicht ganz Unrecht.
Wenn Exponenten der EU erklären, die Schweiz solle endlich sagen, was sie wolle, dann haben sie damit nicht ganz Unrecht.
Vorgesehen ist deshalb ein Europagesetz, das die Eckpfeiler für die nächsten Schritte definiert. Darin soll stipuliert werden, dass regelmässige Kohäsionszahlungen vorgesehen sind und dass die Lösung der institutionellen Fragen (dynamische Rechtsentwicklung, Schiedsgericht) sowie der gleichberechtigte Zugang zum Binnenmarkt das Ziel sind. Dieses Gesetz würde eine öffentliche Diskussion auslösen, da es einen Volksentscheid benötigt, und zwar bevor ein völkerrechtlicher Vertrag fertig ausverhandelt ist.
Ab 2023: Verhandeln
Im Stabilisierungsabkommen wäre stipuliert, dass der Bundesrat bereits ab 2023 mit der EU neue Verhandlungen über ein Wirtschafts- und Kooperationsabkommen führt. Dieses Abkommen würde die Zukunft der bilateralen Verträge inklusive Streitbeilegung und Aktualisierung der Abkommen regeln. Hier würde es dann wieder um die Punkte gehen, die im Rahmenabkommen strittig geblieben sind, sprich: von denen der Bundesrat glaubte, sie seien innenpolitisch nicht durchsetzbar. Die Gegner des Abkommens befürchteten insbesondere, die Schweiz müsste die Unionsbürgerrichtlinie übernehmen, welche EU-Bürgern in der Schweiz mehr Rechte verleihen würde.
Die Ausgangssituation ist so schwierig, dass sich die Frage aufdrängt: Warum soll ausgerechnet das von der SP vorgeschlagene Vorgehen eher eine Einigung ermöglichen, die dann auch bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit fände?
Einigung auf ein mehrheitsfähiges Paket ist möglich
Einerseits ist es nicht ausgeschlossen, dass für das Freizügigkeitsabkommen (Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie) im politischen Dialog mit der EU und durch die Arbeitsgruppe des ehemaligen Staatssekretärs Mario Gattiker, welche mögliche Anpassungen des Schweizer Rechts prüft, eine Lösung gefunden werden kann.
Andererseits – und das ist wohl wesentlich erfolgversprechender – sollen die Chancen eines Abkommens vergrössert werden, indem diesmal gleichzeitig neue sektorielle Abkommen verhandelt würden, zum Beispiel ein Stromabkommen, ein Vertrag zur Gesundheit oder ein Finanzdienstleistungsabkommen. Die Bevölkerung würde dann über das Resultat in einem Paket abstimmen.
Warum? In komplexen Verhandlungen wird mit Kreuzkonzessionen gearbeitet: «Du kommst mir beim Lohnschutz entgegen, ich komme Dir im Finanzdienstleistungsbereich entgegen». Indem also die Verhandlungsmasse vergrössert wird, entstehen neue Möglichkeiten zur Kompromissfindung.
Besteht eine Chance, dass die EU sich auf eine solche Strategie einlässt? Immerhin hat sie bisher immer darauf bestanden, dass sofort wieder über die Streitpunkte verhandelt wird. Nationalrat Eric Nussbaumer findet, dieses Zweiphasenmodell sei für beide Seiten attraktiv. Steigt die Schweiz auf die Forderung der EU ein, sofort wieder dort weiterzufahren, wo die Verhandlungen unterbrochen wurden, besteht die Gefahr, dass man sich wieder verbeisst und nicht weiterkommt. Und der Idee, die bisher von der Bundesverwaltung favorisiert wird – nämlich, Verträge isoliert zu flexibilisieren – haftet der Verdacht des Rosinenpickens an, weshalb die EU wohl nicht darauf einsteigen wird.
Ein ausgewogenes Abkommen liegt vor allem im Interesse der Schweiz. Es wäre mehrheitsfähig und würde das Europa-Dilemma der Schweiz auf Dauer lösen.
Eine Alternative zu dieser doppelten Blockade könnte wie folgt aussehen: Zum einen wird in der Phase des politischen Dialogs eine Vertrauensbasis geschaffen und auf beiden Seiten mit hohem Verhandlungseinsatz nach Lösungen und Kompromissen gesucht. Und zum andern führt die innenpolitische Diskussion zur Einsicht, dass ein ausgewogenes Abkommen vor allem im Interesse der Schweiz liegt. So kann der von der SP ins Gespräch gebrachte Plan in ein Abkommen münden, das mehrheitsfähig ist und das Dilemma der Schweiz mit dem europäischen Einigungsprozess auf Dauer löst.