
Wie fremd China für den Westen ist, zeigt sich manchmal an Kleinigkeiten. Im vorliegenden Fall ist es eine künstliche Intelligenz, die sich als künstliche Ignoranz erweist und zufällig auf einen Stolperstein im Verkehr mit der fremden Kultur hinweist.
Auf dem Youtube-Kanal «Politik 24» ist seit nunmehr einem Jahr ein Video mit dem Titel «Putins Falle! Die britischen Eliten sind in Panik» zu sehen. Dieser YouTube-Kanal existiert seit September 2023. Er hat seinen Geschäftssitz in Deutschland. Dies ist jedoch nicht zuverlässig verifizierbar, da die genauen Geolocations der Videos versteckt sind. Infolge eines fehlenden Impressums und unvollständiger Metadaten können Aufschlüsse darüber, wer genau hinter dem Kanal steht, nicht ermittelt werden. Diese Hintergründe sind im vorliegenden Zusammenhang indes nicht weiter von Belang.
In dem Video werden drei Personen erwähnt: Putin, der britische Premier Sunak und der chinesische Staatspräsident Xi Jinping, der, was angängig ist, als «Vorsitzender» tituliert wird. Jedes der aufeinander folgenden Bilder ist mit einem Text versehen, der von einer männlichen Stimme vorgelesen wird. Etwa in der Minute 2:15 erscheint ein Text, laut welchem Sunak mit dem «Vorsitzenden Xi» nicht kommunizieren wolle.
Der Sprecher sagt nun aber, Sunak wolle nicht mit dem «Vorsitzenden Elf» kommunizieren. Offenbar wird «Xi» (mit kleinem «i») mit einem «XI» (mit grossem «I») gleichgesetzt. Deshalb glaubt der Sprecher, Xi sei die römische Zahl XI. Der Sprecher ist, wie man leicht erkennt, nicht ein Mensch, sondern eine computergenerierte Stimme.
Offensichtlich ist KI «nicht so schlau, wie sie oft erscheint» (Christian J. Meier in Tages-Anzeiger, 12.09.2024, S. 14). Sie produziert auch «grobe Fehler» (Hansuli Keller, NZZ, 2.10.2024, S. 18). Der mit dem Nobelpreis geehrte britische Informatiker Geoffrey Hinton warnte 2023 in der Technology Review, KI könnte «eine neue und bessere Form von Intelligenz hervorbringen» (Ulrich Schnabel: Jetzt klingt seine Warnung noch lauter, in: Die Zeit, 10.10.2024, S. 35). Bis dahin scheint es aber noch ein weiter Weg zu sein. Im Moment ist KI «noch ein bisschen tollpatschig» (Isabel Hemmel in: Tages-Anzeiger, 03.03.2025, S. 19).
Natürlich ist letztlich ein Mensch für den «Vorsitzenden Elf» verantwortlich, stammt doch die Programmierung der KI-Stimme von Menschen. Somit ist der «Vorsitzende Elf» ein besonders anschauliches Beispiel für einen hierzulande weit verbreiteten Sachverhalt, nämlich China-Ignoranz.
Die China-Ignoranz besteht auch etwa darin, den Namen Xi Jinping analog zu beispielsweise dem Namen Joe Biden zu lesen, also vom Präsidenten Jinping Xi so zu reden, wie man von Präsident Joe Biden spricht. Hierzu zwei Beispiele: «Chinese President Jinping in Paris on a two-day visit» und «Übernachtung am Flughafen Zürich: Weiwei zeigt sich von der Abweisung überrascht.» Letztere Nachricht verbreitete «Blick» am 11.02.2025. Im ersten Beispiel wird «Jinping», im zweiten Beispiel «Weiwei» als Familiennamen behandelt.
Nun steht aber im Chinesischen der Familienname vor dem Vornamen. Der Name von Chinesinnen und Chinesen, also auch des chinesischen Staatspräsidenten, ist also umgekehrt aufgebaut wie der Name von Joe Biden. So sind Jpinping und Weiwei Vornamen, Xi und Ai sind die Familiennamen. Der volle Name des berühmten chinesischen Künstlers lautet «Ai Weiwei». Korrekterweise müsste es also «Chinese President Xi in Paris on a two-day visit» und «Ai zeigt sich überrascht» heissen.
«Vorsitzender Elf» mag nur eine Marginalie sein. Aber Kleines deutet oft auf Grosses hin. So gibt es zahlreiche weit wichtigere nicht wahrgenommene sino-westliche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Zu den Unterschieden zählen beispielsweise die im Vergleich zu westlichen zumeist gerade einmal auf zehn Jahre angelegten staatlichen Strategien vielfach weitaus grösseren chinesischen Zielhorizonte. Zu den Gemeinsamkeiten die vielen Themenresolutionen, die im Uno-Menschenrechtsrat in Genf einstimmig verabschiedet werden, also sowohl von China zusammen mit Staaten des Globalen Südens als auch von westlichen Staaten.
Näheres in Harro von Senger: Moulüe – Supraplanung. Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte. Hanser Verlag, München 2024