„Seit den Fünfzigerjahren ist die Schweizer Europapolitik geprägt von Mythen, Vorurteilen, Verdrängung und selektiver Wahrnehmung. Jetzt ist es Zeit für eine realistischere Einschätzung. Das InstA ist massgeschneidert für uns. Die wenigen noch offenen Probleme lassen sich lösen. Der Lohnschutz kann zum Beispiel mit innenpolitischen Massnahmen sichergestellt werden. Der Bundesrat soll mit den Sozialpartnern eine solche Regel aushandeln, das Abkommen unterschreiben und dann offensiv vertreten, anstatt nur auf Zeit zu spielen und den Gegnern einer konstruktiven Europapolitik Raum zu geben. Ich freue mich auf den Abstimmungskampf!“ – Das ist die Kurzversion, mit der ich mich auf der Plattform progresuisse.ch geäussert habe.
Ich habe bereits hier in einem persönlich gehaltenen Essay das Verhältnis der Schweiz zur EU seit deren Anfängen in den Fünfzigerjahren beleuchtet und gezeigt, warum das Rahmenabkommen (InstA) in unserem Interesse ist. Dann habe ich hier gezeigt, warum ein Entscheid zum Rahmenabkommen mit der EU nicht beliebig lange aufgeschoben werden kann und warum es keinen valablen Plan B gibt. Und schliesslich habe ich im Oktober 2020 hier gezeigt, dass die Verschnaufpause, die uns die Corona-Pandemie bei der Europapolitik gewährt hat, vorbei ist. Ich habe das Abkommen auch inhaltlich vorgestellt und die offenen Punkte umfassend diskutiert.
In der Zwischenzeit hat sich einiges getan. Nach einem längeren Geplänkel zur Frage, ob die Nachverhandlungen über Videokonferenz oder von Angesicht zu Angesicht stattfinden würden, setzte sich die Schweiz durch: Staatssekretärin Livia Leu flog nach Brüssel. Das ist aber auch fast der einzige Punkt, bei dem die Schweiz sich durchgesetzt hat. Die „technischen Gespräche“ wie sie im diplomatischen Jargon heissen, gehen weiter und sollen noch im März abgeschlossen werden.
In der Zwischenzeit wetzen die Gegner des Abkommens die Messer. Nebst den üblichen Verdächtigen von der SVP haben sich auch Komitees gebildet wie Kompass Europa und Autonomiesuisse. Auf der Befürworterseite gibt es wie erwähnt die Plattform Progresuisse. Die neue Schweizer Verhandlerin Livia Leu war im Herbst beauftragt worden, Konzessionen in den Bereichen Lohnschutz, öffentliches Beschaffungswesen und Unionsbürgerrichtline herauszuholen. Die Sonntagszeitung berichtete in der Zwischenzeit, dass es der Unterhändlerin nur in Bezug auf das Beschaffungswesen gelungen sei, Konzessionen zu erwirken. Beim Lohnschutz sei nicht viel Bewegung auszumachen und das Thema Unionsbürgerrichtlinie ist bekanntlich im Rahmenabkommen gar nicht erwähnt; aber die Schweiz hätte es gerne explizit ausgeschlossen. Es liege ein Übungsabbruch in der Luft und in der Bundesverwaltung würde man mit einem Plan B liebäugeln, einer Art Übergangs- und Stillhalteabkommen, das mehr oder weniger den Status quo garantieren würde.
Eine Woche später forderte auch der NZZ-Chefredaktor in einem Leitartikel Übungsabbruch, was vom Chefredaktor des Tages Anzeigers, Arthur Rutishauser, in seiner gewohnt selbstsicheren Art mit „Das war es dann wohl“ kommentiert wurde. War es das mit dem Rahmenabkommen?
Totgesagte leben länger
Wer sich kaum zum Thema äussert, ist Brüssel. Während die Schweiz in Verkennung ihres politischen Gewichts ansatzweise versucht hatte, durch Vorstösse in einigen Hauptstädten die EU zu spalten, spricht diese nach wie vor mit einer Stimme. Was Grossbritannien nicht gelungen war, gelingt auch der Schweiz nicht: über den Dialog mit den Hauptstädten Konzessionen herauszuholen, die die Kommission nicht zu gewähren bereit ist.
Und wer sich überhaupt nicht äussert, ist der Bundesrat. Nur so ist es zu erklären, dass die Gegner in aller Ruhe ihre Messer wetzen können. Fachleute für Europarecht wie zum Beispiel Professorin Christa Tobler oder Professor Thomas Cottier, versuchen zwar geduldig immer wieder ihren Standpunkt zu vertreten, aber der Bundesrat hält den Ball nach wie vor flach. Hat das Abkommen so überhaupt noch eine Chance? Ganz entschieden: ja!
Der Bundesrat hat in der zwölfjährigen Geschichte des Rahmenabkommens einen einzigen strategischen und ganze viele taktische Fehler gemacht.
Der strategische Fehler
Seitdem der Binnenmarkt vor dreissig Jahren entwickelt wurde, ist die Position der EU in einem Punkt immer gleich: Wer ganz oder teilweise dabei mitmacht, muss die gleichen Regeln übernehmen und diese auch gleich auslegen und durchsetzen. Was logisch tönt, hat seine Tücken. So ist das Dilemma um die Frage entstanden, welcher Gerichtshof für die Auslegung der Verträge zuständig ist, die unter das Rahmenabkommen fallen.
Als die Diskussion über ein Rahmenabkommen vor über zehn Jahren begann, schlug die EU vor, dass für die Streitbeilegung bindend der Efta/EWR-Gerichtshof zuständig sei. Dieser Gerichtshof ist unabhängig von Brüssel und hat das schon in diversen Entscheiden – ich denke an die Gerichtsfälle um die Bankenkonkurse in Island – bewiesen. Es war die Schweiz, die diese Lösung nicht wollte, weil sie als verbindlich vorgesehen war.
In zähen Verhandlungen ist dann die Lösung entstanden, wie wir sie heute haben: Streitbeilegung über ein Schiedsgericht, das sich an der Rechtsprechung des EUGH orientieren muss. Setzt die Schweiz Urteile nicht um, kann die EU verhältnismässige Gegenmassnahmen treffen. Professor Baudenbacher hat auf eine Art Recht, wenn er die Streitbeilegung im Rahmenabkommen kritisiert. Allerdings ist die vorliegende Lösung immer noch besser als der Status quo, weil heute die EU jede Art von Ausgleichsmassnahmen – sprich: Sanktionen – treffen kann; ob sie verhältnismässig sind oder nicht, spielt keine Rolle. Das ist der grosse strategische Fehler der Schweiz in diesen Verhandlungen. Die Streitbeilegung im Rahmenabkommen ist in der Tat ein Murks, aber einer, der funktionieren dürfte und allemal besser ist als der Status quo.
Gegner des Abkommens argumentieren damit, dass der Status quo besser sei, weil Streitfälle beim Ausbleiben einer Einigung im gemischten Ausschuss liegen bleiben bis in alle Ewigkeit. Sie vergessen zu erwähnen, dass die EU-Druckmittel in der Hand hat. Wir sind auf den Zugang zum EU-Binnenmarkt stärker angewiesen als die EU auf die Schweiz. An einer Verrechtlichung der Beziehung haben wir deshalb ein grosses Interesse. Ausserdem hat die EU zu verstehen gegeben, dass sie ohne Rahmenabkommen die bestehenden sektoriellen Abkommen nicht mehr aufdatieren würde – oder nur dann, wenn es in ihrem Interesse liegt. Das würde dazu führen, dass die bewährten bilateralen Verträge langsam zerbröseln und ihre Wirkung verlieren.
Ausgezeichnet verhandelt
Ansonsten haben die Schweizer Unterhändler geschickt, um nicht zu sagen ausgezeichnet, verhandelt. Es ist ihnen zuerst gelungen, den Geltungsbereich des Rahmenabkommens deutlich einzuschränken. Nur fünf von etwa 120 Verträgen sind diesem Abkommen unterstellt (einer ist zugegebenermassen sehr wichtig: das Freizügigkeitsabkommen). Beim Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geht es um viel mehr: Da müsste zum Beispiel das ganze Finanzdienstleistungsrecht der EU übernommen werden.
Umso unverständlicher ist es deshalb, dass gerade aus dieser Ecke dem Abkommen Widerstand erwächst. Richtig ist, dass die EU erklärt hat, sektorielle Abkommen mit der Schweiz zukünftig nur noch abzuschliessen, wenn diese dem Rahmenabkommen unterstellt werden. Das heisst aber noch nicht, dass ein solches Abkommen schon vor der Tür oder per se schlecht ist. Es müsste dann im normalen Gesetzgebungsprozess verhandelt und beschlossen werden.
Auch die Frage der Mitbestimmung beim Rechtssetzungsprozess in den vom Rahmenabkommen betroffenen Rechtsgebieten ist ein Dauerbrenner. Sie wird gegen jedes Abkommen mit der EU seit den Fünfzigerjahren wieder und wieder ins Feld geführt. Das Problem ist hier: Anerkennt man, dass im Binnenmarkt überall gleiche Spielregeln gelten, kann die Schweiz nicht beanspruchen, wie bei einem völkerrechtlichen Vertrag quasi auf Augenhöhe an der Ausarbeitung beteiligt zu werden.
Die Lösung, die das Rahmenabkommen bietet, liegt darin, dass die Schweiz an der Weiterentwicklung des relevanten Binnenmarktrechtes mitarbeiten und dies durch den eigenen Rechtsetzungsprozess ins innerstaatliche Recht überführen kann. Wird aber ein solcher Rechtsakt zum Beispiel durch ein Referendum abgelehnt, dann kann die EU verhältnismässige Gegenmassnahmen ergreifen. So funktioniert das bereits beim Schengen-Abkommen. Das ist ein fairer Kompromiss in einem Dilemma, das fast nicht zu lösen ist.
Auch hier ist der Status quo schlechter. Der Status quo besteht darin, dass wir im autonomen Nachvollzug selbst unsere binnenmarktrelevanten Gesetze europakonform gestalten und hoffen, dass die EU unsere Regelung dann als gleichwertig (das heisst äquivalent) anerkennt – ohne daran mitzuarbeiten und ohne, dass wir überhaupt angehört werden. Mit der jetzigen Lösung können wir gar nicht mitreden und die EU hat das Druckmittel in der Hand, uns die Äquivalenz in diesem oder jenem Bereich zu entziehen. Dieses Druckmittel entfiele mit dem Rahmenabkommen.
Die Gegner des Abkommen führen die Einigung zum Brexit mit Grossbritannien an, um zu zeigen, dass eine Einigung auf der Basis eines klassischen völkerrechtlichen Vertrages trotzdem möglich ist. Der Vergleich hinkt, denn der Vertrag mit dem UK enthält kein Binnenmarktrecht. Nach dem Brexit befindet sich das Land ungefähr dort, wo die Schweiz sich vor zwanzig Jahren befunden hat: vor dem Abschluss der bilateralen Verträge. Wollen wir das wirklich? Immerhin sind wir ein Land, das stärker in den Binnenmarkt integriert ist als mancher EU-Staat. Das Vorbild Grossbritannien taugt also nicht und Boris Johnson ist kein gutes Vorbild.
Gegner des Abkommens argumentieren weiter, dass dieses eine Art Super-Guillotineklausel enthalte. Mit diesem unsympathischen Begriff ist gemeint, dass das Rahmenabkommen zwar ohne weiteres kündbar ist, dass in einem solchen Fall aber sämtliche ihm unterstellten Verträge dahinfallen. Man muss diesen Mechanismus nicht mögen. Aber schon die bilateralen Verträge I und II enthalten eine solche Bestimmung. Das soll Rosinenpickerei verhindern. Hätte also die Schweiz das Personenfreizügigkeitsabkommen gekündigt, dann wären schon damals sämtliche Bilateralen I dahingefallen.
Es wurde noch vereinbart, dass Verhandlungen über die Modernisierung des Freihandelsvertrages von 1972 aufgenommen würden. Falls man sich hier aber nicht einigt, dann gibt es keine Möglichkeit einer automatischen Unterstellung unter das Rahmenabkommen. Selbstverständlich könnte die EU diesen Vertrag kündigen. Das ist aber heute schon so. Auch hier: Das Rahmenabkommen bringt keine Schlechterstellung.
Die Unionsbürgerrichtlinie war, so hört man, in den Verhandlungen umstritten. Die Schweiz wollte dieses weitreichende Regelwerk explizit ausschliessen. Der Kompromiss war, dass sie im Rahmenabkommen nicht erwähnt wird. Auch das ist eine Verbesserung gegenüber dem Status quo. Auch heute ist es nicht ausgeschlossen, dass die EU von der Schweiz die Übernahme dieser Richtlinie verlangt – ganz oder teilweise. Und sie hat – wie gezeigt – eine ganze Reihe von Druckmitteln in der Hand. Über den Geltungsbereich des Freizügigkeitsabkommens hinaus kann die EU von der Schweiz auch mit dem Rahmenabkommen nichts verlangen.
Bleibt nur die Frage des Lohnschutzes. Falls es nicht gelingt, diesen vom Abkommen auszunehmen, dann können die Sozialpartner immer noch einen innenpolitischen Mechanismus vereinbaren, der das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ sicherstellt. Das müsste aber nicht mehr nur an der Grenze geschehen, sondern allgemein gültig sein. Das ist der Preis, den die bürgerlichen Parteien für die Unterstützung der Gewerkschaften bezahlen müssen.
Die taktischen Fehler
Der Bundesrat und unsere Diplomaten haben also sehr gut verhandelt. Es liegt ein solides, massgeschneidertes Abkommen vor, das unsere Europapolitik auf ein zukunftsfähiges Fundament stellt. Warum ist es denn derart umstritten? Der Bundesrat hat viele taktische Fehler begangen. Falls das Abkommen entweder gar nicht unterschrieben oder an der Urne abgelehnt wird, dann sind sie wohl die entscheidenden Gründe, die dazu führen, dass wir europapolitisch auf Feld eins zurückkehren.
Der Bundesrat hat das Anliegen nicht offensiv vertreten. Er hat nicht versucht, es sich zu eigen zu machen. Er hat nie agiert, nur reagiert. Gleichzeitig versuchte er, die Verhandlungen von der Öffentlichkeit möglichst fernzuhalten. Es war nie klar, ob der Bundesrat hinter der Idee steht. So hat er den Gegnern kommunikativ das Feld überlassen und es ist der Eindruck entstanden, das Abkommen habe keine Chance.
Zusätzlich versuchte die Landesregierung, auf Zeit zu spielen und zu verzögern. Diese Taktik ist nicht aufgegangen. Nun muss die Landesregierung Farbe bekennen. Entweder bricht der Bundesrat die Übung ab oder er unterzeichnet das Abkommen und leitet es den Räten zur Beratung weiter. Und dann kommt es zur Volksabstimmung. Es ist zu wünschen, dass er sich für den zweiten Weg entscheidet. Einen derartigen folgenschweren Entscheid soll er nicht in eigener Kompetenz fällen. Es braucht einen echten demokratischen Meinungsbildungsprozess, bei dem alle Institutionen diskutieren und Farbe bekennen.
Und dann muss man die Gegner des Abkommens direkt fragen, wie sie sich die Alternativen vorstellen, denn bisher sind sie mit ihrer Kritik billig davongekommen. Man kann zwar hoffen, dass die EU auch gegenüber der Schweiz einem zu Grossbritannien analogen Freihandelsvertrag zustimmen würde. Aber dieser Vertrag würde kein Binnenmarktrecht enthalten und uns zu einem Zustand zurückführen vor den Bilateralen I. Man kann das wollen, muss es aber ausdrücklich sagen.
Man kann auch den Versuch unternehmen, ein Stillhalteabkommen abzuschliessen. Die Aussichten sind aber fraglich, denn es läuft darauf hinaus, dass die Schweiz wiederum Zeit gewinnen will – was sie seit der ersten Idee zu einem Rahmenabkommen immer tut. Und die EU hat wiederholt erklärt, dass sie ohne Rahmenabkommen keine neuen sektoriellen Abkommen abschliessen und die bestehenden nicht mehr aufdatieren würde. Wie kann man annehmen, dass Brüssel davon abrücken wird? Auch Boris Johnson ist es nicht gelungen, die diesbezüglichen Positionen der EU aufzuweichen.
Ich freue mich auf die politische Auseinandersetzung und auf den Meinungsbildungsprozess beim Rahmenabkommen. Die Aussichten dieses Vertrags an der Urne sind besser als sie scheinen.