
«Die grossen Jahre der Soziologie» heisst der Untertitel des neuen Buches von Thomas Wagner. Es erzählt spannende Wissenschaftsgeschichte rund um die zentralen Figuren Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno, den konservativen und den neomarxistischen Meisterdenker.
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gaben in den öffentlichen Debatten in Politik, Kultur und Wissenschaft konservative Stimmen den Ton an. Der grösste Teil des Personals dieser Sparten war, wie der Autor Thomas Wagner berichtet, schon im Dritten Reich aktiv gewesen. Rückkehrer, die vor den Nazis geflohen waren, wurden misstrauisch beäugt. Das im NS-Staat propagierte Feindbild des jüdischen Linksintellektuellen war im Nachkriegsdeutschland immer noch wirkmächtig.
Zu den nach dem Krieg in Amt und Würden gebliebenen Nazis gehörte der Soziologe, Anthropologe und Philosoph Arnold Gehlen (1904–1976). Zwar war er kein Antisemit, doch er trat schon 1933 der NSDAP bei und unterzeichnete das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler. Nach dem Krieg war er ab 1947 Dozent an der Verwaltungs-Akademie in Speyer, ab 1962 Professor an der Technischen Hochschule Aachen.
Sein Gegenspieler, der Philosoph, Soziologe und Musiker Theodor W. Adorno (1903–1969), prägte zusammen mit Max Horkheimer massgeblich die Denkrichtung der Kritischen Theorie. Im amerikanischen Exil schloss Adorno sich dem vorübergehend in die USA emigrierten Frankfurter Institut für Sozialforschung an. Nach dem Krieg war er einer der wichtigen Public Intellectuals. Demokratisierung der Gesellschaft und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus standen im Fokus seines öffentlichen Wirkens.
Die Ordnungen und die Aufklärung
Nicht nur biographisch waren Adorno und Gehlen Antipoden. Auch ihre geistig-wissenschaftlichen Entwicklungen waren denkbar unterschiedlich. Für Gehlen ging es immer um Ordnungen. Von seinem anthropologischen Denkansatz her war ein friedliches Zusammenleben nur mittels stabiler Institutionen zu sichern. Diese mussten über Gewaltmittel verfügen, die das Sich-Einordnen der Einzelnen nötigenfalls erzwingen können. Von daher betrachtete Gehlen die Parolen der Veränderung, die von der Achtundsechziger Bewegung in breite Kreise der Gesellschaft hineingetragen wurden, mit Sorge und Argwohn.
Ganz anders Adorno. Sein Denken speiste sich aus den Energien der Aufklärung und sein Bild der Gesellschaft war marxistisch grundiert. Die Geschichte der menschlichen Kultur sollte die begonnene Emanzipation aus Unfreiheit und Not vorantreiben, und sowohl Philosophie wie Sozialwissenschaften hatten Fermente dieses Prozesses zu sein.
Kaum vorstellbar, dass diese beiden akademischen Stars je zusammenfinden könnten. Und doch geschah genau dies, wenigstens für eine gewisse Zeit. Adorno war fasziniert von Gehlens anthropologischer Theorie der gesellschaftlichen Institutionen. Er erkannte sogleich, dass seinem Kollegen damit etwas ganz Ausserordentliches gelungen war, nämlich eine Begründung für den schwer zu erklärenden Umstand, dass Gesellschaften in aller Regel stabil sind. Gehlen musste nicht – wie etwa Thomas Hobbes oder Jean-Jacques Rousseau das getan hatten – zum Konstrukt eines Gesellschaftsvertrags greifen (bei dem ja nie erklärt wird, wer ihn wann weshalb aufgesetzt und abgeschlossen hat).
Nachahmung als Baustein der Gesellschaft
Statt des Bezugs zu dieser Vertragstheorie konnte Gehlen auf anthropologische Forschungen verweisen, die zeigen, wie aufrüttelnde und das Zusammenleben gefährdende Ereignisse von Gesellschaften in Rituale überführt werden. Im Reflex des Nachahmens bändigen die Menschen dann das potentiell Destruktive und schaffen durch rituelle Verstetigung dieses Vorgangs Institutionen: Clans, Arbeitsgemeinschaften, Stämme, irgendwann auch Verträge und Rechte.
Mit dem Kernelement der Nachahmung hatte Gehlen den Schlüssel gefunden, die Stabilität des Sozialen ohne spekulative Konstrukte zu erklären. Davon war Adorno in hohem Mass fasziniert, weil Gehlens Theorie (eigentlich gegen dessen Intention) es erlaubte, die Herausbildung von Gesellschaft als rationalen historischen Prozess zu sehen. Von der Nachahmung im gesellschaftlichen Ur-Stadium führte nun eine ungebrochene Linie zur Aufklärung des 18. und zur Kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts.
Verbunden durch Kunstbegeisterung
Ein weiterer Berührungspunkt der beiden so unterschiedlichen Denker war ihre Begeisterung für den Lyriker und Essayisten Gottfried Benn – was für Gehlen näher lag als für Adorno. Letzterer tat sich schwer mit Benns nationalsozialistischer Verstrickung, erkannte aber in dessen Werk eine Modernität, die in ihrer Kompromisslosigkeit Massstäbe setzte. Für Gehlen wiederum waren Benns Essays eine Inspiration zum Verständnis moderner Kunst, zu der er lange keinen Zugang gefunden hatte.
1960 erschien Gehlens «Zeit-Bilder: Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei». Dieses Buch brach das letzte Eis zwischen Adorno und ihm. Sie tauschten gegenseitig ihre Publikationen aus, besuchten einander (samt Ehefrauen) und standen in regem brieflichem Kontakt.
1964 traten die beiden Soziologen erstmals als Diskutanten in einem Radiogespräch des WDR auf. «Öffentlichkeit – was ist das eigentlich?» war das Thema, das einerseits hoch akademisch, andererseits aktuell politisch verhandelt wurde. Die Spiegel-Affäre hatte gerade die junge Bundesrepublik erschüttert. Adorno empörte sich über die flagrante Missachtung der Pressefreiheit durch den damaligen Verteidigungsminister Franz-Joseph Strauss, während Gehlen vielmehr die angebliche Untergrabung staatlicher Autorität und Stabilität bedenklich fand.
Konflikt und Faszination bestimmte das Klima, das zwischen den beiden akademischen Alphatieren bestand; mal stand eher das eine, dann das andere im Vordergrund. Auch im gemeinsamen Interesse an moderner Kunst gab es deutlich unterschiedliche Akzentuierungen. Für Gehlen hatten deren ästhetische Freiheiten eine Entlastungsfunktion in der kaum mehr veränderbaren Gesellschaft, während Adorno im experimentellen Charakter der zeitgenössischen Kunst das Potenzial zur gesellschaftlichen Innovation sehen wollte.
Aufgewühlte Zeiten
Institution und Freiheit – das waren in der Tat Schlüsselbegriffe der Sozialphilosophie und Soziologie. Ihnen galt ein Fernsehgespräch zwischen Adorno und Gehlen, das der WDR am 3. Juni 1967 ausstrahlte. Thomas Wagner resümiert es in seinem Buch auf ganzen sechzehn Seiten.
An eine ruhige Erörterung der Thematik war in der Zeit der aufkommenden Studentenproteste kaum zu denken. Adorno, der für manche Impulse der Achtundsechziger Sympathien hatte (und deswegen von Gehlen der Komplizenschaft verdächtigt wurde) tat sich schwer mit dem chaotischen Aufruhr, der auch ihn persönlich ins Visier nahm. Für Gehlen wirkte das Zeitklima an den Unis gar beängstigend. Er zog sich immer mehr zurück und reagierte auf die Unruhen panisch.
Mit seiner Studie «Moral und Hypermoral» (1969) löste Gehlen allerdings auch bei Gesinnungsgenossen Befremden aus, insbesondere wegen der darin enthaltenen krass überzogenen Intellektuellenschelte. Wie weit er sich da aus dem Fenster gelehnt hat, zeigt seine Behauptung, überhaupt persönliche Meinungen zu haben, sei «ein Laster, denn sie sind es, mit denen angebbare Kreise die Auflösung der Institutionen legitimieren, um die Gesellschaft in eine Masse von Particüliers zu verwandeln».
Zum Reaktionär geworden
Da unterschreitet Gehlen sein eigenes Niveau und macht es seinen Gegnern allzu leicht. Adorno brauchte nur darauf hinzuweisen, dass schon das Nachdenken über Gesellschaft die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, an denen Gehlen festhalten will, auflöst. Der durch den Zeitgeist zunehmend marginalisierte Gehlen hielt an seiner Rückzugsposition fest und hatte dabei durchaus einen Punkt, wenn er gegen den Anarchismus, mit dem die protestierenden Studenten sympathisierten, konstatierte: «Es hat nie herrschaftslose Gesellschaften gegeben.»
In den frühen Siebzigerjahren gewann die linke Fraktion der Soziologie, nunmehr vor allem unter dem Einfluss von Jürgen Habermas, in der debattierenden Öffentlichkeit zunehmend an Einfluss. Gehlen jedoch verhärtete sich zum Reaktionär mit schwerverdaulichen Positionen wie etwa seiner ausdrücklichen Gutheissung der Niederschlagung der tschechoslowakischen Revolte gegen den doktrinären Sowjetkommunismus im August 1968. Stabilität um jeden Preis wurde bei ihm zum Popanz. Den Schritt, die Reform von Institutionen als humane Option für die Gesellschaft anzuerkennen, ist er nicht gegangen.
Wagners Buch spiegelt, lebhaft erzählt, die geistesgeschichtlichen Kontroversen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts weit über den engeren Fachbereich der Soziologie hinaus die Gesellschaft in ihren Bann schlugen. Neben den hier herausgehobenen Hauptpersonen tauchen etliche weitere Exponenten auf, welche dazu beigetragen haben, dass die Soziologie zu einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft werden konnte.
Thomas Wagner: Abenteuer der Moderne. Die grossen Jahre der Soziologie 1949–1969. Klett-Cotta 2025, 330 S.