Ist 2021 wie 1991? Für die schweizerische Europapolitik scheint dies zuzutreffen. Eine wissenschaftliche Forschungsstelle der Schweiz, genannt «Dodis», analysiert anhand Hunderter Dokumente die schweizerische Europapolitik des Jahres 1991. Es ist ein frustrierendes Jahr, nicht nur für die schweizerische Aussenpolitik.
«Dodis» steht für die Forschungsstelle «Diplomatische Dokumente der Schweiz», ein Team von rund einem Dutzend wissenschaftlich geschulter Mitarbeiter, welche jeweils den Jahrgang von Dokumenten analysiert, der nach Ablauf der 30-jährigen Sperrfrist vom Bundesarchiv freigegeben wird. Seit dem 1. Januar 2022 also den schweizerischen Beitrag an das Weltgeschehen im Jahre 1991, im Spiegel von Dokumenten des EDA sowie von Protokollen und anderen Schriftstücken mit aussenpolitischer Relevanz.
EWR = InstA
Dodis 1991 erwähnt in der konzisen Einleitung – tatsächlich eine leicht lesbare Zusammenfassung, welche die Suche nach speziell interessierenden Zeitzeugnissen in den über 50 publizierten Dokumenten über rund 300 Seiten einfach macht – die Leidensgeschichte des Abschlusses der EWR-Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel an prominenter Stelle.
Dabei frappiert, wie ähnlich das innenpolitische Gerangel damals verlief, verglichen mit dem Trauerspiel 30 Jahre später rund um den im Mai dieses Jahres vom Bundesrat verfügten Abbruch der Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen (InstA).
Adolf Ogi sieht den EWR als «Trainingslager» für die volle Teilnahme an europäischer Politik.
Dissonanz im Bundesrat, düstere Prophezeiungen von Chefbeamten und eine heillos zerstrittene Politik schaffen bereits 1991 das vergiftete Klima für einen im kommenden Jahr anstehenden Volksentscheid, der bekanntlich knapp negativ verlief.
In einer Beziehung unterschied sich die damalige Lage von der gegenwärtigen Blockade in unseren Beziehungen zu Europa. Ein Beitritt zur EU war damals näher als heute. So zeigt sich Flavio Cotti gewillt, anstatt dem EWR direkt den Beitritt der Schweiz anzustreben. Adolf Ogi sieht den EWR als «Trainingslager» für die volle Teilnahme an europäischer Politik.
Quer über Parteigrenzen hinweg wird im Bundesrat so der Boden gelegt für das offizielle schweizerische Ersuchen um gelegentliche Mitgliedschaft im kommenden Jahr 1992.
Jubiläumsjahr
An allererster Stelle der Übersicht haben die Dodis-Historiker – unter der Gesamtleitung von Sacha Zala und der redaktionellen Federführung von Thomas Bürgisser – die 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft gestellt. Aus innenpolitischer Sicht sicher zu Recht. Der internationale Wellenschlag des Jubiläums hält sich indes in Grenzen.
Der Einladung speziell zum schweizerischen Europatag am 7. September in Sils folgen insbesondere gekrönte, aber politisch nicht zentrale Persönlichkeiten. Immerhin wird dem Schreibenden so zuteil, einige Momente Prinz Charles mit höflicher Plauderei, hoffentlich, zu unterhalten. Europäisch ist die Schweiz eben bereits ein politisches Leichtgewicht, nachdem im Laufe des Jahres klar wird, dass Bern dem expliziten EU-Beitrittsgesuch von Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen (1994 in einer Volksabstimmung abgelehnt) nicht unmittelbar folgen wird.
Hier soll – gerade im Lichte der aktuellen Europadebatten in Helvetien – in Erinnerung gerufen werden, dass 1991 das schweizerische Parlament dem Beitritt höchstwahrscheinlich, wie das für die vier anderen eben erwähnten EFTA-Mitglieder zutraf, mehrheitlich zugestimmt hätte. Im Bundesrat allerdings gewinnt, eine weitere Parallele zu heute, die Angst vor einem negativen Volksentscheid die Oberhand.
Ex-Jugoslawien
Stand das Jahr 1990 noch voll im Zeichen eines Neuanfangs in Gesamteuropa, mit der Pariser KSZE/OSZE-Konferenz (Übergang von KSZE, Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in eine Organisation) als glanzvollem Höhepunkt, so kommen 1991 die ersten grossen Schatten der Vergangenheit zurück.
Der verzweifelte Versuch alt-sowjetischer Kräfte, das Rad der Zeit im Baltikum mit militärischen Aktionen zurückzudrehen, endet immerhin mit der formellen Anerkennung der drei Republiken als unabhängige Staaten, früh glücklicherweise auch durch die Schweiz, möglich geworden nach der Niederschlagung des Putsches dieser Kräfte in Moskau durch den russischen Präsidenten Jelzin.
In Jugoslawien laufen rechts-nationalistische Kräfte Amok, insbesondere unter dem grossserbische Phantasien vertretenden Teilpräsidenten von Serbien, Slobodan Milošević. Das jahrelang andauernde Fanal der Implosion dieses traditionellen Vielvölkerstaates wird eingeläutet durch die als Völkermord etikettierte Zerstörung der kroatischen Stadt Vukovar durch die mittlerweile ausschliesslich serbische «jugoslawische Volksarmee». Die entsprechende westliche Verurteilung, unumgänglich auch durch die Schweiz, fällt scharf aus, da solches seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr geschehen ist und im Europa nach der Zeitenwende von 1990 nicht mehr möglich erscheint.
Gute Dienste leisten: ja. Die Schweiz als Friedensstifterin: nein
Wie gewöhnlich versucht sich die Schweiz als «Guter Dienstleister». Einmal via OSZE und auch bilateral mit einem Angebot an Milošević und den kroatischen Teilpräsidenten Tudjman, als nationalistischer Scharfmacher seinem serbischen Pendant durchaus ebenbürtig, sich in Genf zu treffen. Slobodan Milošević lehnt rundweg ab, was im Lichte seines Vorgehens der folgenden Jahre nicht erstaunt; die erwähnte Verurteilung durch die Schweiz spielt dabei keine Rolle, entgegen anderslautenden Aussagen.
Irak/Kuwait
Der dreiste Überfall von Saddam Husseins Irak auf seinen kleinen Nachbarn Kuwait, sowie die nachfolgende Besetzung des Landes – in Methode und Art an Nazi-Verbrechen in Osteuropa zu Beginn des zweiten Weltkriegs erinnernd – führt zur grossen internationalen Krise des Jahres. Bemerkenswert fällt die damals mögliche Reaktion aus, wie sie heute mit einem revanchistischen Russland und einem aggressiv antiwestlichen China kaum mehr vorstellbar wäre. Unter Führung eines integren amerikanischen Präsidenten, George Bush senior, vertreibt eine breite internationale Militärkoalition die Iraker aus Kuwait, macht aber auf Befehl von Bush Halt vor einer durchaus möglichen Eroberung des Iraks mit Absetzung von Saddam. Der ehemalige Uno-Botschafter der USA, Bush, respektiert damit das Uno-Mandat ausschliesslich zur Befreiung von Kuwait.
Die formell noch einer traditionellen Neutralität anhängende Schweiz tut sich schwer mit ihrer Haltung angesichts eines Konfliktes, in dem Gut(e) und Bös(e) klar unterscheidbar sind. Man schliesst sich bereits 1990 Wirtschaftssanktionen gegen Saddam an, aber nach Beginn der Operation zur Befreiung von Kuwait wird der Überflug von Material und Truppen der internationalen Koalition vom Bundesrat untersagt. Dies wird international wenig geschätzt. Ebenso gespalten wie die offizielle Haltung zeigt sich die innenpolitische Lage in der Schweiz, wo primär linke Kräfte Frieden um jeden Preis verlangen und auch Konservative individuelle Profilierungssucht als «neutrale» Vermittler ausleben.
Welche Lehre aus der Geschichte kann mit Blick auf die gescheiterten Missionen des Jahres 1991 gezogen werden? Gute, diskrete Dienste als Briefträger (Beispiel Iran-USA) und als Gastgeber (Genf als Ort von Gipfeltreffen): ja, die Schweiz als inhaltliche Friedensstifterin: nein.