Mit einem Besuch von Cassis bei der EU Präsidentschaft in Slowenien und bei der EU-Kommission in Brüssel in der vergangenen Woche ist die offizielle schweizerische Europapolitik noch weiter entgleist. Das aktuelle Narrativ des schweizerischen Aussenministers zeugt von einem beunruhigenden Realitätsverlust, welcher die Schweiz teuer zu stehen kommen wird.
Absurd sind einmal die Äusserungen von Cassis nach seinen Gesprächen in Ljubljana, Slowenien halte die Beziehungen der Schweiz mit der EU für beide Seiten für viel zu wichtig, um sich von gewissen Differenzen ablenken zu lassen. Wenn das wirklich vom Präsidenten von Slowenien so gesagt worden ist, handelt es sich um eine bedeutungslose Höflichkeitsfloskel, ohne Bezug zur slowenischen Aussenpolitik.
Anlässlich einer internationalen akademischen Konferenz an der Uni Zürich lamentierte kürzlich ein reputierter Professor der Uni Ljubljana, dass Slowenien unter dem nationalistischen Premierminister Janez Jansa, der als Wirrkopf bezeichnet wurde, keine eigentliche Aussenpolitik führe.
Für Slowenien ist seine EU-Mitgliedschaft überlebenswichtig, das Land wird sich auch in den sechs Monaten seiner Präsidentschaft hüten, in Angelegenheiten, welche für seine Interessen marginal sind – so die Beziehungen zwischen Brüssel und Bern – eine von der EU-Kommission abweichende Politik zu vertreten.
EUK-Vizepräsident Sefcovic
Nicht nur absurd in der Sache, sondern auch beleidigend gegenüber seinem neuen Gesprächspartner in der EU, dem slowenischen Vizepräsidenten der EU-Kommission Maros Sefcovic fielen Cassis’ Interview-Antworten im «Tagesanzeiger» vom 19.11. aus. Sefcovic habe an seiner Pressekonferenz nach dem gemeinsamen Gespräch von deren Inhalt völlig abweichende Verlautbarungen abgegeben. Ganz abgesehen davon, was immer genau zwischen den beiden wirklich besprochen worden ist, zählt allein, was Sefcovic an seiner PK gesagt hat.
Indem Cassis den auf höchster EU-Ebene für die Beziehungen mit Bern Verantwortlichen – im Gegensatz zu seinem Premierminister international respektiert – öffentlich der Doppelzüngigkeit bezichtigt, dürfte er es wohl mit diesem bereits verspielt haben. Eine grobe diplomatische Ungeschicklichkeit gleich beim ersten persönlichen Kontakt.
Bekannte EU-Positionen
Absurd ist Cassis’ Beteuerung, er habe das Ziel erreicht, einen politischen Dialog zwischen der Schweiz und der EU zu beginnen. Sefcovic ist offensichtlich kein Jota von der bekannten Position abgewichen, die drei grossen Streitpunkte Rechtsübernahme, Lohnschutz und Streitbeilegung müssten, so wie das Brüssel Bern seit langem signalisiert, zunächst gelöst werden, bevor über sektorielle Sonderwünsche des Nichtmitgliedes Schweiz gesprochen werden könne. Neu ist, dass dies bis zum nächsten Zusammentreffen am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos, also im kommenden Januar, geschehen soll.
Bekannt ist weiterhin, dass von der Schweiz regelmässige Kohäsionsbeiträge erwartet werden als Mithilfe zum Ausbau des Binnenmarktes, dem die Schweiz ja angehört, den wir aber als EU-Nichtmitglied nicht mit regulären Beiträgen unterstützen. Norwegen tut dies mit Beiträgen, welche ein Mehrfaches der bisherigen Zahlungen der Schweiz umfassen, auch wenn die Schweiz nun neu die letzte Zahlung verdoppeln sollte.
In der Sicht der EU – die zu verstehen sich eine grosse Mehrheit der schweizerischen Politikerinnen und Politiker seit Jahrzehnten weigert – sind das «non negotiables», weil sie den Kern des europäischen Einigungsgedankens betreffen: durch fortschreitende Unionisierung in vielen (nicht allen) Politikbereichen sowohl den einzelnen Mitgliedern Frieden und Wohlstand zu sichern als auch Europa und seinen Werten mehr Gewicht in der Weltpolitik zu verschaffen.
Rechtsübernahme und Lohnschutz
Beide Bereiche können mit gutem Willen und grossem Verhandlungseinsatz gelöst werden, nicht bis im Januar, aber bis dann können entscheidende Linien festgeschrieben werden. In beiden Bereichen besteht Verhandlungsmasse auf Seiten der Schweiz – die Schnittmengen, welche Cassis so gerne beschwört –, welche Einigungen erlauben könnten. Vorausgesetzt, dass in der Schweiz beim Lohnschutz linker Nationalpopulismus zurückgedrängt wird. Und bei der Rechtsübernahme alarmistische Berechnungen von Beamten betreffend die Folgen der Unionsbürgerrichtlinien gegen übergeordnete politische Erwägungen gewogen und zu leicht befunden werden. Mit anderen Worten dürfen sowohl bei der SP als auch der FDP und der Mitte die entsprechenden internen Scharfmacher nicht mehr länger den Blick versperren auf die wichtigste staatspolitische Herausforderung der Schweiz seit dem 2. Weltkrieg, die Bereinigung unseres Verhältnisses zu Europa.
Streitbeilegung
Die im Rahmen des Institutionellen Abkommens (InstA) vorgesehenen Prozeduren der Streitbeilegung sind das Maximum, was Brüssel annehmen kann, da im europäischen Binnenmarkt europäisches Recht gelten muss. Alles andere würde Rechtswillkür Tür und Tor öffnen. Dass dies nicht nur für die Schweiz gilt, hat eben der britische Unterhändler David Frost erfahren, welcher nach schweizerischem Muster zur Interpretation des Nordirlandprotokolls ein Dritt-Schiedsgericht verlangt hat und damit eine schmähliche Abfuhr erlitt. Wo sich der Brexit-Betonkopf Frost die Zähne ausbeisst, wird auch das politische Leichtgewicht Schweiz nichts ändern können.
Wie Analysen von schweizerischen Experten dieser hochkomplexen Materie zeigen, ist das auch gut so. Eine letztinstanzlich einheitliche Rechtsanwendung im Binnenmarkt bedeutet für alle Marktteilnehmer ein Plus an Rechtssicherheit, ganz besonders für jene aus dem Nichtmitglied Schweiz. Solcherart geteilte Souveränität ist allemal besser als ohnmächtiger Nachvollzug. Wer sich in dieser Materie wirklich vertiefen will, dem sei die luzide Analyse von Cottier/Holenstein «Die Souveränität der Schweiz in Europa» empfohlen.
Davos ist real
Konkrete Nachteile des schweizerischen Abbruchs der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen (InstA) sind bereits eingetreten, nämlich für die schweizerische Forschung und schweizerische KMUs. Es braucht nun rasche Entscheide im Bundesrat, mit entsprechendem Druckaufbau aus dem Parlament, um den Knoten, geschnürt in der Folge von jahrelanger «Feigheit» (Originalzitat des ehemaligen FDP-Präsidenten Philipp Müller) gegenüber rechtsnationalistischem Gepolter der SVP, zu zerschneiden. Je länger die von Cassis vorgespurte europapolitische Reise nach Absurdistan weitergeführt wird, desto schmerzhafter für die schweizerische Bevölkerung und auch unwürdiger für die Schweiz wird der letztlich unausweichliche Canossagang nach Brüssel ausfallen.