
Das kleine Wort ist im Alltag omnipräsent. Praktisch wie die Löschtaste und unverbindlich wie ein Hallo, macht es das Entschuldigen zu einfach. Zwar braucht es keinen Gang nach Canossa, aber mindestens ein Bewusstsein für die Wichtigkeit des Eingestehens.
Rückblickend scheint es schlicht glücklicher Zufall zu sein, dass mir dabei keine der Kugelspitzen ins Auge gerammt wurde. Der junge Herr an der Tramhaltestelle hat mir im Vorübergehen seinen ausgespannten klatschnassen Regenschirm über die Stirn gezogen. Natürlich, das kann bei der Enge des Trottoirs passieren. Was folgt, ist das eigentliche Ärgernis. Nämlich ein «Sorry, gell!» – und weg ist der Schirmträger. Bin ich zu verzärtelt, zu domestiziert, wenn mir diese Reaktion zu wenig ist, ja unangemessen erscheint? Warum nur stösst der praktische Zweisilber so sauer auf?
Butter bei die Fische und Hand aufs Herz: Der schreibende Ankläger ertappt sich ja selbst immer öfter dabei, dass ihm in der Hektik des Alltags ein «Sorry» rausrutscht. Meist folgt ein Biss in die Lippe: Warum nur schon wieder das Unwort aus eigenem Munde, wo es doch beim Hören immer wieder für Verärgerung sorgt? «Sorry» nicht nur infolge nasser Regenschirme, sondern auch nach Beinahe-Kollisionen mit Velos auf dem Fussgängerstreifen. Hausaufgaben vergessen? «Sorry!» Und am Telefon als Replik auf die Frage, ob der Termin verschoben werden könne: «Sorry, nichts zu machen.» Schlimm? Nein, natürlich nicht. Irritierend? Ja, schon.
Canossa und Conduite
Selbstredend kann man es auch übertreiben. Im Winter 1076/77 verscherzt es sich Heinrich IV. im Investiturstreit mit Papst Gregor VII. und entscheidet sich, primär aus machtpolitischem Kalkül, für die «Mutter aller Entschuldigungen». Er zieht über die Alpen und liegt der Legende nach drei Tage schweigend vor der Burg zu Canossa im Schnee, ehe sich das Kirchenoberhaupt des Exkommunizierten erbarmt und ihm Einlass gewährt. Es ist dies der sprichwörtlich gewordene «Gang nach Canossa», ein Urbild der Abbitte. Die Alltagstauglichkeit dieser Variante der Entschuldigung darf in Zweifel gezogen werden.
Wie aber steht es um die Excusatio anno 2025? Sie hat wohl schon bessere Tage gesehen. Gesellschaftliche Konventionen unterliegen stetigem Wandel, keine Frage. Adolf Freiherr von Knigge schreibt 1788 in seinem aufklärerischen Standardwerk «Über dem Umgang mit Menschen» (welches kaum etwas mit dem zu tun hat, was heute populär als «der Knigge» figuriert) vom «esprit de conduite». Wir wählen eine jüngere, wenngleich auch bereits leicht angestaubte Formulierung: Der gesunde Menschenverstand.
Dieser erlaubt es uns kraft seiner sozialen Wirkmacht zu erkennen, dass die Interjektion «Sorry» nur selten mehr als eine taktlos hingeschleuderte Floskel darstellt. Es sei denn, man ist unter Freunden oder auf dem Fussballplatz und eine aufwändigere Formel wäre zu kompliziert. Die nötige Reflexion zeigt sich in der grammatischen Reflexivität des «Sich-Entschuldigens». Es ist eine kurze Spiegelung der eigenen Befindlichkeit, die es braucht, um die Aufrichtigkeit des Entschuldigungswunsches zu verdeutlichen. Eine inhärente Wahrheit dabei: Ebendiese Aufrichtigkeit muss nicht zwingend gefühlt werden. Es ziemt sich einfach, ihr Ausdruck zu geben. Die eigentliche Ent-Schuldigung obliegt ohnehin dem Adressaten.
Kein Imprägnieren
So ist es denn auch ein Trugschluss, zu denken, dass das im Urgermanischen wurzelnde Sorry die an sich ehrlichste aller möglichen Optionen der Entschuldigung sei, bringt sie doch die Unverbindlichkeit gegenüber dem Mitmenschen mit der grösstmöglichen Nonchalance zum Ausdruck. Ein Trugschluss darum, weil die verbal eingesparte Energie des Verursachers beim perplexen Objekt seiner Handlung für überproportionale Rage sorgen kann. Ja, ein «Es tut mir leid» oder «Ich bitte um Entschuldigung» entspricht vielleicht nicht immer dem tatsächlich Empfundenen, doch lohnt der minim grössere performative Aufwand im Sinne eines friedlichen und respektvollen Miteinanders.
Es könnte hierbei auch von Interesse sein, die allzu saloppe Eindeutschung des Anglizismus zu hinterfragen. «To be sorry» ist seinem Wesen nach nämlich umfassend, kommt gleichsam aus Fleisch und Blut. Die adjektivische Konstruktion bemüht eine Verinnerlichung der Schuld, ein Aufsichnehmen, und äussert danach als Konsequenz eine Einsicht. «Sorry» ist daher auch nicht das Teflon der zuvorkommenden Abwehr, kein Imprägnieren wider Unbill und erwartete Aggression, sondern ein basales Eingeständnis: Es war mein Fehler und ich stehe dazu. Eine wortwörtlich reife Leistung und Katharsis, die bewusst erbracht werden muss.
«Sie müssen entschuldigen!» ist zu Recht eine Floskel, welche kaum mehr bemüht wird, denn auch sie vermag den Kern der Sache nicht zu treffen. Nicht wenige Leute stiess mein Grossvater jeweils vor den Kopf, wenn er auf besagte Gedankenlosigkeit nassforsch entgegnete: «Nein, muss ich nicht.» Nur um ins verdutzte Gesicht vis-à-vis zu ergänzen: «Aber Sie dürfen mich um Entschuldigung bitten.» Mit Verlaub: Dem inflationären Sorry ist Einhalt zu gebieten. Knigge hin, Canossa her – der kollektive «esprit de conduite» gebietet es allemal. Sorry, gell!