
Der Wandel ist augenfällig: Waren wir einst stolz auf unseren von aktiver Mitwirkung getragenen Föderalismus, so zeichnet sich heute eine Mehrheit ab, die sich als Konsumenten des Staates versteht. Die Menschen fordern, wo sie früher leisteten.
Europaweit zeigt sich ab, dass sich das Volk von Staat und Regierung entfremdet. Der moderne Konsument interessiert sich weniger für staatliche Belange, dafür tritt die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse in den Vordergrund. Diese egoistische Fokussierung auf die nächsten Ferien, das neue Auto oder den letzten Modetrend ist oft wichtiger als die aktive Teilnahme.
Neuerdings wird zum Beispiel die Forderung laut, «der Staat» habe gefälligst die kleinen Kinder auf dem Weg in den Kindergarten oder die erste Klasse zu begleiten. Der Staat soll, der Staat muss. Zeigt sich da eine Flucht vor praktischen Alltagsproblemen? Sind die Menschen überfordert? Haben sie falsche Vorstellungen vom Funktionieren des Staats? Oder sind sie ganz einfach in allem unsicher und unselbständig?
Etwas überraschend sind auch die neusten Erhebungen einer OECD-Studie, wonach 1,7 Millionen Erwachsene in der Schweiz kaum lesen und rechnen können. Zudem lasen wir in der Pisa-Studie des letzten Jahres, dass jeder Vierte hierzulande als «leistungsschwach» eingestuft wurde. Dies mag einen Zusammenhang mit der Migration haben, doch passt es auch zu einer allgemeinen Entwicklung. Fühlen sich immer mehr Menschen im Land überfordert?
Die Frühpensionierung ruft
Während in der Schweiz rund 30’000 offene Stellen zu besetzen sind, ist es offensichtlich, dass dieser Arbeitskräftemangel auch damit zusammenhängt, dass immer mehr Menschen vorzeitig in den Ruhestand gehen. Jeder zweite Staatsangestellte macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Sie wollen «den Ruhestand geniessen», wie es dann heisst. Dies setzt natürlich voraus, dass man es sich leisten kann. Oder anders erklärt: Gemäss einer Untersuchung des Instituts IWP der Universität Luzern beträgt der mittlere Jahreslohn in der Bundesverwaltung 120’000, jener in der Privatwirtschaft knapp 90’000 Franken.
Indirekt mit dieser Thematik zu tun hat der neuere Trend, sein Angespartes in der 2. Säule nicht für den Rentenbezug beiseitezulegen, sondern bei der Pensionierung den ganzen Betrag als Kapitalbezug en bloc zu beziehen. Erstmals hat sich 2023 das Verhältnis umgekehrt: Neu entschied sich die Mehrheit für den Kapitalbezug.
Doch Achtung: Wenn im Alter das Geld ausgeht, ruft man ganz selbstverständlich nach dem Staat! Dieser ist ja zur Unterstützung finanziell Schwacher verpflichtet. Jedes Jahr steigen die Ausgaben für solche Ergänzungsleistungen zur AHV. In zwanzig Jahren dürften auf die Allgemeinheit ungemütliche Ausgabensteigerungen zukommen.
Das Prestige der Führerfiguren
Parallel zu dieser neuen Entwicklung ist das weltweite Aufkommen der «starken Führer» als Regierungspersonen zu beobachten. Das Duo Trump/Musk steht stellvertretend dafür. Musk hat zweihundert Millionen Follower auf X, wo Desinformationen an der Tagesordnung sind. Dass zweifelhafte Führerfiguren derart erfolgreich werden können, liegt nicht zuletzt an der Überschwemmung der Welt mit News aus den sozialen Medien. Anscheinend glauben immer mehr Menschen, was man ihnen in diesen Shows vorsetzt.
Bei der jüngeren Bevölkerung sind die sozialen Medien die Hauptquellen der Information, dies anstelle der traditionellen Medien und der politischen Parteien. Machtmenschen wie Trump, die darauf aus sind, die Gesellschaften zu spalten, nutzen diesen direkten, ungefilterten Zugang zu ihrem Publikum an einem Ort, wo auf Faktenchecks verzichtet wird.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag?
Minouche Shafik, geboren 1962 in Ägypten, britisch-US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin, hielt im Januar 2025 in Zürich ein vielbeachtetes Referat. Darin analysierte sie die Gründe der oben erwähnten globalen Unsicherheit, den Zerfall alter Ordnungen und der scheiternden Gesellschaftsverträge.
«Wenn das alte Weltordnungssystem stirbt und wir uns in einer Zeit der Monster befinden», rief sie den Gästen im Saal zu, «wenn wir jetzt nicht handeln, riskieren wir, dass das Chaos triumphiert. Ein neuer Gesellschaftsvertrag muss auf den drei Säulen Wohlstand, Sicherheit und Identität basieren.» Shafik macht veraltete Strukturen und soziale Ungleichheiten für populistische und nationalistische Strömungen verantwortlich.
Doch sind es nicht gerade diese drei erwähnten Werte, auf denen auch das helvetische Modell beruht? Dann läge es an uns, die vielerorts tatsächlich veralteten Strukturen – etwa die Vormachtstellung der kleinen Kantone im Ständerat – aufzubrechen und Wege zu finden, die beklagten Ungleichheiten – etwa die abgehobene Position der Superreichen – zu mildern.