Manchmal erinnern die Diskussionen mit Besuchern des Festivals an Begegnungen mit Fussballfans. Wer auf die Ersatzbank gehört und wer ins Stammkader aufgenommen werden sollte, sind Fragen, die auch in Cannes vermehrt für Debatten sorgen.
«Volveréis» etwa, eine Eric-Rohmer-Variation über die Trennungspläne eines jungen Madrider Paars von Jonas Trueba, in der «Quinzaine des cinéastes» programmiert, hätte, wie manche Stimmen monieren, auch im offiziellen Wettbewerb keine schlechte Figur gemacht. Bezieht man sich auf die Applauslänge nach der Projektion, wäre auch «Le roman de Jim», das süsssaure Familiendrama des Brüderpaars Arnaud und Jean-Marie Larrieu, ein Kandidat für eine Teilnahme in der ersten Liga gewesen.
Durchlässige Grenzen zwischen den Genres
Teils haben die zunehmend kontrastierenden Produktionsetats die Hierarchien zwischen den verschiedenen Filmen verwischt. Während Paolo Sorrentino mit seiner Zelebration der makellosen Schönheit seiner Hauptdarstellerin Celeste Dalla Porta in «Partenope» über das geballte Savoir-faire der Saint-Laurent-Gruppe verfügen konnte, gestaltete der Brasilianer Karim Aïnouz sein etwas verfahrenes, aber nicht unattraktiv hedonistisches Dreiecksverhältnis in «Motel Destino» grösstenteils als Huis clos.
Auch die Grenzen zwischen den Genres sind mittlerweile so durchlässig, dass Coralie Forgeats «The Substance», eine grelle Horror-Dystopie über das Verfallsdatum der Schauspielerinnen, sich ebenso wie Michel Hazanavicius’ Shoah-Animation «La plus précieuse des marchandises» um die Palme d’or bewerben kann.
Eheliches «Great Game»
Da der generell gut besetzte Wettbewerb Überraschungen bereithielt und die grossen Namen generell eher enttäuschten, hatte sich dieses Jahr jedoch kein eindeutiger Favorit profilieren können. Oft erwiesen sich die vorgestellten Werke als Variationen von Erprobtem: Miguel Gomes’ Beitrag etwa, in schwarzweissen, oft frontal gefilmten Aufnahmen gehalten, steht seinem Vorgänger «Tabu» zu nah, um eine eigenständige Dynamik entwickeln zu können. Die titelgebende «Grand Tour» führt die Figuren anfangs des 20. Jahrhunderts durch die britischen Kolonien Südostasiens, die hier wie eine ironische Illustration der Reiseprosa Somerset Maughams erscheinen. Der Plot des Films wiederum erweist sich als eine Art eheliches «Great Game»: Edward, der sich der drohenden Heirat entziehen will, flieht vor seiner ihn unbeirrbar verfolgenden Verlobten Molly von Mandalay über Singapur bis nach Shanghai.
Die von einer Off-Stimme überlagerten, grobkörnig-verwaschenen Bilder verschmelzen die Handlung immer wieder mit der Gegenwart, was eine attraktive Unschärfe des historischen Kontexts zur Folge hat: Man weiss nicht, ob die mit einem Strauss-Walzer unterlegte Einstellung eines Kreisverkehrs in Saigon spielt oder in Ho-Cho-Minh-Stadt. Als Molly schliesslich im chinesischen Eukalyptuswald ihrer Krankheit erliegt, gelingt es der Inszenierung jedoch nicht, die Emotionen zur Kristallisation zu bringen.
Chinesischer Meister und franko-italienische Filmgeschichte
Jia Zhang-Kes «Caught by the Tides» erweist sich ebenfalls als ein Blick auf den eigenen Werkkatalog: Der Rückgriff auf Szenen aus früheren Filmen, etwa «Unknown Pleasures» (2002) und «Ash is Purest White» (2018), aufgenommen in der Minenstadt Datong und in Chongqing während des Baus des Drei-Schluchten-Damms, erlaubt es dem chinesischen Meister, die Evolution zu skizzieren, die sein Heimatland seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts zurückgelegt hat. Interessanter vielleicht ist jedoch die eheliche Introspektion: Da Jia Zhang-Ke die weiblichen Hauptrollen seiner Inszenierungen jeweils seiner Frau Tao Zhao anvertraut, koinzidiert der Blick in die Vergangenheit auch mit einer luziden Reflexion über das Altern.
Auch Christophe Honoré hat mit seiner Kamera die verlorene Zeit zu beschwören versucht. «Marcello mio» ist eine Familienkomödie, doch da die Hauptdarstellerin, Chiara Mastroianni, sich entschieden hat, sich unter dem nervösen Blick ihrer Mutter Catherine Deneuve mit ihrem Vater Marcello zu identifizieren, taucht die etwas schräge und sich am Ende verlierende Inszenierung zugleich in die franko-italienische Filmgeschichte. Der Sprung in den Trevi-Brunnen fehlt hierbei nicht, ebenso wenig wie der ernüchternde Besuch in einem Römer Fernsehstudio.
Wie sympathisch die Leute doch sind, sagt Catherine Deneuve in der Mitte des Films, als sie vom neuen Besitzer ihrer einstigen Wohnung eingeladen wird, einen Blick in ihr früheres Wohnzimmer zu werfen. «Sie sind nicht nett», antwortet Chiara, «sie sind nett zu Catherine Deneuve.» Es ist einer der ein wenigen nüchternen Sätze, die man zu hören kriegt.
«La Belle de Gaza» und geopolitische Spekulationen
Frappant war in der diesjährigen Ausgabe auch die Präsenz von Produktionen, die ihren Blick auf die Mutationen des (weiblichen) Körpers richten. «La Belle de Gaza» von Yolande Zauberman, ausser Wettbewerb gezeigt, begibt sich auf die Suche einer Transfrau im nächtlichen Tel Aviv, die «zu Fuss», wie das Gerücht lautet, aus Gaza-Stadt in die nahöstliche LGBT-Hauptstadt geflüchtet sei. Fündig wird die französische Filmemacherin nicht, immerhin liefern die zahlreichen Begegnungen und Gespräche mit den Frauen, die zumeist auf dem lokalen Strich arbeiten, bewegende Porträts: Die Leinwand, hat man bisweilen den Eindruck, wird zum letzten Ort des Asyls, in dem die Misere des Alltags zumindest kurzfristig in den Hintergrund tritt.
Bei Cronenberg wird der Körper im Moment seiner Zersetzung zelebriert. «The Shrouds» setzt ein, als der erfolgreiche Bestatter Karsh (Vincent Cassel) aus Trauer über den Verlust seiner Frau Becca deren Leichnam in einem mit Sensoren ausgestatteten Tuch begräbt, um den Verwesungsprozess mittels täglich übermittelten Computeranimationen begleiten zu können. Nachdem Unbekannte die Stelen seines Friedhofs vandalieren und Hacker Karshs AI-Sekretärin manipulieren, verliert sich das Drehbuch während langen Sequenzen in geopolitischen Spekulationen.
Erst am Ende, als die drohende Gefahr der Nekrophilie umschifft ist, gewinnt der Film wieder an Schärfe: Karshs skurrile Begegnungen – zunächst mit einem Blind Date, später mit der Schwester der Verstorbenen, der Hundefrisörin Lenny (wie die Ehefrau von Diane Kruger gespielt), und schliesslich mit einer blinden Geliebten –, alternierend mit souverän inszenierten Traumszenen, situieren «The Shrouds» in einem Vakuum, in dem Beccas abwesender Körper unverhofft zum präzisen (und einzigen) Ausdruck einer «wahren Empfindung» wird.
«Emilia Pérez» – Musical über einen Drogenboss
Die erstaunlichste körperliche Verwandlung, die in Cannes zu sehen war, stammt jedoch vielleicht von Jacques Audiard. Der Franzose, der mit einem Grossen Jurypreis für «Un prophète» (2009) und einer goldenen Palme («Dheepan», 2015) zu den meistprämierten Regisseuren des Wettbewerbs zählt, hat in «Emilia Pérez» ein Musical über einen mexikanischen Drogenboss vorgelegt. Man fragt sich vor der Projektion, ob das gutgehen kann, doch die Antinomie, die aus den beiden Begriffen resultiert, ermöglicht es Audiard nicht nur, seine Film- und Formensprache grundsätzlich zu erneuern, sie verleiht der Inszenierung auch ihre nie nachlassende Energie.
Die Titelfigur, von der spanischen Transschauspielerin Karla Sofía Gascón gespielt, entzieht sich dem drohenden Krieg mit den konkurrierenden Kartellen (und ihrer generellen Müdigkeit), indem sie sich ihres männlichen Namens und Körpers entledigt und dank der sicheren Hand eines israelischen Chirurgen als Emilia Pérez aufersteht. Dank einer messerscharfen Regieführung meistert «Emilia Pérez» die anschliessenden Volten des Drehbuchs unbeschadet, unterstützt hierbei von einem verhaltenen Soundtrack (komponiert von der französische Sängerin Camille) und der eleganten, präzise ausgemessenen Choreografie von Damien Jalet, die bei aller Leichtigkeit nie den Blick für die (mexikanische) Wirklichkeit verliert.
Noch kein Ende von «New Hollywood»
Zu den beeindruckenden Produktionen zählte schliesslich auch Sean Bakers «Anora» über eine Sexarbeiterin in Brooklyn, die nach einer einwöchigen Bekanntschaft einen infantilen russischen Oligarchensohn heiraten wird. Der Regiestil, sichtlich von der agilen Kamera der Brüder Benny und Josh Safdie («Uncut Jems») beeinflusst, begleitet das Paar so lange, bis aus den stereotypen Figuren Individuen werden und auch die komplexeren und widersprüchlichen Züge der Protagonistin zum Tragen kommen. Der Reifeprozess dauert eine gute Filmstunde – ebenso lange werden die armenischen Sidekicks der Eltern darauf brauchen, um die Ehe in einer burlesken, eine Nacht und einen Tag dauernden Expedition wieder aufzulösen.
Die Queens- und Coney-Island-Sequenzen halten den Vergleich mit James Grays «The Yards», die Spannungsmomente sind souverän getimt, die psychologische Feinschraffur erinnert an die Filme von Cassavetes und Mike Leigh. Solange das amerikanische Independent-Kino so präzis inszeniert ist, lässt sich auch das absehbare Ende von «New Hollywood» verkraften.
Preisverleihung
Unter der Leitung der amerikanischen Regisseurin Greta Gerwig hat die Jury des 77. Filmfestivals von Cannes — der unter anderem der Regisseur Hirokazu Kore-Eda, die Drehbuchautorin Ebru Ceylan sowie die Schauspieler Pierfrancesco Favino und Omar Sy angehörten — die folgenden Preise verliehen:
Goldene Palme: Sean Baker für «Anora»
Grosser Preis: Payal Kapadia für «All We Imagine as Light»
Jurypreis: Jacques Audiard für «Emilia Pérez»
Regiepreis: Miguel Gomes für «Grand Tour»
Spezialpreis der Jury: Mohammad Rasoulof für «The Seed of the Sacred Fig»
Weiblicher Darstellerpreis: ex æquo für Selena Gomez, Karla Sofía Gascón, Adriana Paz und Zoé Saldaña für «Emilia Pérez» von Jacques Audiard
Männlicher Darstellerpreis: Jesse Plemons für «Kinds of Kindness» von Yorgos Lanthimos
Drehbuchpreis: «The Substance» von Coralie Fargeat
Caméra d’Or (für die beste Erstinszenierung): «Armand» von Halfdan Ullmann Tøndel
Ehrenpalme: George Lucas