Streikdrohungen und Enthüllungsberichte zu sexuellen Belästigungen in der französischen Filmindustrie überschatten die Eröffnungszeremonie.
Am Dienstagabend wird das 77. Filmfestival von Cannes mit der französischen Komödie «Deuxième acte» von Quentin Dupieux offiziell eröffnet. Bis am 25. Mai werden sich 22 Langspielfilme um die Goldene Palme bewerben, als Jurypräsidentin amtiert Greta Gerwig, die Regisseurin von «Frances Ha» und «Barbie». Meryl Streep wird als Ehrengast an der Eröffnungszeremonie teilnehmen, die Palme d’honneur wird dieses Jahr George Lucas überreicht.
Hundertsiebzig Produktionen
Insgesamt — die Sondervorführungen und die Kurzfilme mitgerechnet — werden während der zwölf Festivaltage über hundertsiebzig Produktionen zu sehen sein. Ob sich die Dynamik, die die letztjährige, in vielfacher Hinsicht aussergewöhnliche Edition geprägt hatte, wiederholen wird, ist offen: Wie Iris Knobloch, die ihrerseits das zweite Jahr ihrer Amtszeit als Präsidentin des Festivals bestreitet, an der Pressekonferenz detailliert darlegte, waren 2023 Filme aus hundertzwanzig Ländern an der Côte d’Azur zu sehen; 220’000 Tickets seien über den Tisch gegangen, beansprucht von über 35’000 Festivaliers. Auch die beruflichen Akkreditierungen sollen mit 14'000 einen neuen Höchststand erreicht haben.
Relevanter als diese Zahlen sind jedoch vermutlich die Karrieren, die sich den wichtigsten Filmen im Anschluss an die Vorführungen in Cannes eröffnet hatten: Neun Filme des Wettbewerbs wurden für die diesjährigen Oscars nominiert, mit «Anatomie d’une chute» (Bestes Drehbuch), «Zone of Interest» (Bester internationaler Spielfilm und Bester Ton) hatten die beiden prominentesten Produktionen der letzten Ausgabe zusammen drei Statuen davontragen können. Beide Filme haben zudem einen Zuschauererfolg verzeichnen und auch ein breiteres Publikum erreichen können, als dies der formal innovative Stil, der beiden Inszenierungen unterliegt, erwarten liess.
120 Millionen Dollar aus eigener Hand
Viel Aufmerksamkeit wird in diesem Mai Francis Ford Coppola beschieden sein, der sich mit «Megalopolis» nach «The Conversation» und «Apocalypse Now» um eine dritte Palme d’or bewirbt. Das Projekt wurde seit so vielen Jahren als «work in progess» bezeichnet, dass man die Ankündigung seiner Vorführung im Palais als eigentliche Sensation werten konnte. Ein Grossteil der Produktionssummen soll aus dem Privatvermögen des Regisseurs stammen, der offenbar einen Teil seiner Ländereien veräussert hat, um dem Produktionsetat 120 Millionen Dollar aus eigener Hand beizusteuern – eine Entscheidung, die in der Filmgeschichte vermutlich einzigartig ist.
«Kinds of Kindness» von Yorgos Lanthimos, der ebenfalls am Wettbewerb teilnimmt, wird auch mit Spannung erwartet, zumal die Besetzung mit Emma Stone und Willem Defoe auf zwei Schauspieler setzt, die bereits am Erfolg von «Poor Things», Lanthimos’ letzter Inszenierung, massgeblich beteiligt waren. Jacques Audiard, ein weiterer vielgesehener und -prämierter Gast an der Croisette, wird sich, nach dem Erfolg von «Dheepan» mit «Emilia Perez», um einen zweiten Hauptpreis bewerben: Es handle sich bei dieser Produktion mit Selena Gomez und Zoé Saldaña um ein «Musical bei den mexikanischen Kartellen» – und mithin um eine beachtliche Kursänderung in Audiards Filmographie –, wie der künstlerische Leiter Thierry Frémaux anlässlich der Präsentation der Filmauswahl präzisierte.
Warten auf Überraschungen
Wie jedes Jahr scheint die Compétition das Gleichgewicht zwischen bekannten, meist «hollywoodgestützten» Namen und einer neuen Generation zu suchen. Zu den Ersteren zählt unter anderen Paul Schrader, der nun mit «Oh Canada» (mit Richard Gere und Uma Thurman) antritt, sowie David Cronenberg (mit «The Shrouds»), dessen jüngere Inszenierungen einen überraschenden, aber letztlich überzeugenden Hang zur narrativen Vereinfachung zeigten und der hier erstmals frontal die Thematik des (menschlichen) Verlusts aufgreift.
Weniger bekannt – in cinephilen Kreisen dafür umso heisser erwartet – sind die neuen Werke von Jia Zhangke, der in «Caught by the Tides» eine ein Vierteljahrhundert umspannende Beziehungschronik nachzeichnet, und von Miguel Gomes, dessen «Grand Tour» im Kielwasser seines kleinen Juwels «Tabou» (2012) einen ästhetisch gebrochenen Schwanengesang auf die britischen Kolonien in Asien verspricht.
Es sei denn, die Überraschungen kommen von den neuen Namen, etwa von der Französin Coralie Fargeat, die sich mit der (amerikanischen) Produktion «The Substance» – mit Demi Moore und Margaret Qualley – in den Grenzbereich des «Body-Horrors» vorwagt, oder von Agathe Riedinger, deren Erstinszenierung «Diamand brut» aufgrund einer virtuosen Kamera an die Produktionen der Dardenne-Brüder erinnern könnte.
Steigende Nervosität
Wie jedes Jahr wird jedoch auch heuer die Aussenwelt für Interferenzen sorgen. Meist wurden exogene Konflikte an die Croisette getragen, wie 1968, als Jean-Luc Godard und Claude Lelouch das Festival «aus Solidarität mit den Studenten und den streikenden Arbeitern» zum Abbruch zwangen. Vor zwei Jahren wurde während der Eröffnungszeremonie Wolodimir Selenskyi zugeschaltet, der die geladenen Gäste an die politische Dimension des Kinos erinnerte.
Neu ist heute vermutlich, dass die Spannungen, sei es die Streikdrohung seitens der temporären Festivalmitarbeitern, seien es die Berichte über die sexuelle Belästigung in der Filmindustrie, die nicht mehr überhört werden können, das Festival direkt tangieren und eine Reaktion der Leitung unvermeidlich erscheinen lassen. Frémaux hatte im Vorfeld der Veranstaltung verlauten lassen, am Festival werde «nur über das Kino geredet». Symptomatisch für die steigende Nervosität ist jedoch, dass die Präsidentin eine Kommunikationsagentur verpflichtet hat, um auf anfällige Krisen adäquat reagieren zu können.
Selbstreferenziell ist auch Dupieux’ Komödie, in der vier der zurzeit prominentesten Schauspieler Frankreichs – Vincent Lindon, Louis Garrel, Léa Seydoux und Raphaël Quenard – ihre Textzeilen rezitieren und sich zugleich über das mediokre Drehbuch beklagen. Die Möbius-Schlaufe, die durch das Oszillieren zwischen Filmset und ausserfilmischer Wirklichkeit entsteht, erlaubt es Dupieux, seinem Hang fürs Absurde freien Lauf zu lassen. Die Leerläufe, in denen sich die Figuren verlieren, erinnern an die letzten Filme Buñuels, der kühle Blick der Kamera, die das Geschehen unbeteiligt aufnimmt, scheint jeder ethischen Verpflichtung enthoben. Vor dem Abspann sind minutenlang die Aluminiumschienen zu sehen, auf denen die vorhergehenden Plansequenzen gefilmt worden waren. Die Einstellung, ein Bild von Naturzustand und Ruine, erhält im diesjährigen Kontext eine besondere Resonanz.