1916 wurde in Leipzig das erste Institut für Zeitungskunde im deutschen Sprachraum eingerichtet. Als Gründerväter des Fachs gelten der Nationalökonom Karl Bücher, der damals mitten im ersten Weltkrieg die Institutsleitung übernahm, und Emil Dovifat, der später den ersten Lehrstuhl für Zeitungswissenschaft in Berlin erhielt und von dort aus über Jahrzehnte hinweg prägend wirkte.
Der große Aufschwung kam in den 70er Jahren. Die Publizistik- und später die Kommunikationswissenschaft verzweigte sich immer weiter, erst wurde die Ausbildung von Journalisten akademisiert, später auch die von Öffentlichkeitsarbeitern, die sich heute so gerne vollmundig „Kommunikationsmanager“ nennen. Allerorten vermehrten sich auch in Österreich einschlägige Studiengänge, Institute und Forschungseinrichtungen.
Anders als der Bestseller-Protagonist von Jonas Jonasson, der auf seiner Abenteuerreise in die wichtigsten politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts verwickelt wird, war unsere Jubilarin, die 100-jährige Kommunikationswissenschaft, allerdings selten mit den Herrschenden auf Du und Du. Die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann, die als Beraterin bei Bundeskanzler Helmut Kohl ein und aus ging, ist bis heute eine Ausnahmeerscheinung geblieben.
Die beiden anderen fachfremden Säulenheiligen, auf die sich viele Kommunikationsforscher in ihrer Arbeit gerne beziehen, der Soziologe Niklas Luhmann und der Philosoph Jürgen Habermas, pflegten mehr Distanz zur Macht. Zugleich leisteten sie sich einen wissenschaftlichen Jargon, der es der Medien- und Kommunikationsforschung schwer gemacht hat, das zu tun, was sie lehrt und erforscht, nämlich: zu kommunizieren. Aber Luhmann und Habermas hatten zu ihrer Zeit zumindest als öffentlich wahrgenommene Intellektuelle weit über die eigene Scientific Community hinaus „Diskurshoheit“.
Forscher im Hamsterrad
Inzwischen scheint sich das Fach weiter von der Wirklichkeit zu entfremden und sich selbst zu marginalisieren. Die meisten der immer zahlreicheren Forscher sind emsig in ihrem Hamsterrad zugange. Jeder ist hochspezialisiert, kaum einer denkt noch in großen Zusammenhängen. Es gibt nach einer Phase rapider Expansion zwar weiterhin Zulauf, weil viele junge Menschen „irgendwas mit Medien“ studieren wollen. Aber im gesellschaftlichen Ringen um die offenen Zukunftsfragen und die Weiterentwicklung der Demokratie und unseres Mediensystems spielt die Disziplin so gut wie keine Rolle.
Zum Teil liegt das daran, dass die meisten Medien sich selbst und der Wissenschaft wenig Aufmerksamkeit zollen. Es fehlt aber auch an mangelnden Anreizen für Wissenschaftler, sich öffentlich zu exponieren: Man forscht zwar mit Steuergeldern, aber die Förderinstitutionen erwarten in der Regel nicht, dass die Forscher dem Steuerzahler gegenüber Rechenschaft legen und die Öffentlichkeit auf angemessene Weise an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen. So bleibt trotz vieler Fortschritte und trotz der erfreulichen Internationalisierung des Fachs die Medienforschung meist Nabelschau. Sie wird außerhalb kleinster Scientific Communities nicht zur Kenntnis genommen – und sie dient vorrangig der Verlängerung von Publikationslisten und der Absicherung der nächsten Kongresseinladung, denn die meisten Wissenschaftler reisen gerne.
Große Fragen
Dabei bräuchte diese Gesellschaft so dringend Antworten auf Fragen, wie die Medien wirken, welche Macht sie haben, und wie diese Macht missbraucht werden kann. Wie können wir erreichen, dass junge Leute mit hinreichender Medienkompetenz ausgestattet sind, um sich in der Medienwelt, in sozialen Netzwerken und Suchmaschinen zurecht zu finden? Wie lässt sich verhindern, dass fünf gigantische Konzerne (Alphabet = Google, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft) sich unser aller Daten aneignen und womöglich damit Schindluder treiben, dass sie obendrein mit Hilfe ihrer undurchschaubaren Algorithmen steuern können, was wir erfahren und was nicht?
Wie kann man der Schwindsucht von Redaktionen und schrumpfender journalistischer Recherchekapazität entgegenwirken? Droht die „Aufmerksamkeitsökonomie“, die der Wiener Sozialforscher Georg Franck vor Jahren so eindrucksvoll skizziert hat und in der wir uns häuslich eingerichtet haben, in eine „Desinformationsökonomie“ umzukippen? Lohnt es sich inzwischen für machthungrige Politiker, aber auch für mafiöse Unternehmen schlichtweg, mit Hilfe hochgerüsteter PR-und Propagandatrupps und ganzer Trollfabriken im Netz Desinformation und Verschwörungstheorien zu verbreiten, weil weder Wissenschaft noch Journalismus sich dieser Flut zu erwehren vermögen?
Gewiss, auf solch „große“ Fragen kann Forschung immer nur kleine, vorläufige Antworten liefern. Und obendrein überblickt niemand mehr flächendeckend den ausufernden Forschungsoutput und könnte ihn gar zusammenführen. Was für die Gesellschaft und für die Medienpraxis relevant ist, muss man wie die Stecknadel im Heuhaufen suchen. Selten polieren Forschern ihre kostbaren Fundstücke so auf, dass sie auch außerhalb der eigenen Scientific Community erstrahlen. Wir bilden zwar Heerscharen von PR-Experten und Journalisten aus, bringen ihnen aber merkwürdigerweise nicht bei, wie Medienforschung aufzubereiten wäre, dass eine interessierte breitere Öffentlichkeit von unseren Erkenntnissen und „Heldentaten“ etwas erfährt.
Gründerväter als Vorbilder
Eine kleine Ausnahme bildet immerhin die Schweiz. Dort leitet der Kommunikationsforscher Otfried Jarren die von der Regierung eingesetzte „Eidgenössische Medienkommission“. In ihr machen sich weitere Wissenschaftler zusammen mit anderen Medienexperten ernsthaft Gedanken über die Zukunft des Mediensystems, und die Medien berichten regelmäßig über allfällige Arbeitsfortschritte. Obendrein haben die Stimmbürger in der direkten Demokratie auch ein kräftiges Wörtchen mitzureden, wenn es darum geht, politisch Weichen zu stellen, zum Beispiel über die Rundfunkgebühr.
Wenn unsere Hundertjährige im gesellschaftlichen Diskurs wieder eine Rolle spielen möchte, täte sie gut daran, ihre Gründerväter auch als Vorbilder wieder zu entdecken: Dovifat und Bücher waren nicht nur Forscher, sondern auch Publizisten, die öffentlich Wirkung erzeugten und Brücken zur Medienpraxis bauten. Bücher steht als Nationalökonom außerdem für die Verwurzelung des Fachs in der Wirtschaftswissenschaft. Fast alle drängenden Fragen der heutigen Medien sind ökonomischer Natur. Viele Kommunikationswissenschaftler schwafeln zwar ständig von der „Ökonomisierung“ der Medien, haben aber Berührungsängste zu ihrer einstigen Mutterdisziplin und lassen sich kaum auf interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ökonomen ein.
Erstveröffentlichung: derStandard.at vom 3. April 2016