Lassen sich nach der ersten Festivalwoche bereits Schlüsse bezüglich der diesjährigen Ausgabe ziehen? Zwei Filme des Wettbewerbs – «Diamant brut» der Französin Agathe Riedinger, in dem sich eine junge Frau einen Platz unter den Scheinwerfern einer Reality-Show zu erkämpfen versucht, und «The Girl with the Needle» von Magnus von Horn, der die weiblichen Lebensbedingungen im Dänemark des Beginns des 20. Jahrhunderts ausleuchtet – beinhalten Szenen, in denen sich junge Frauen körperlich versehren.
Die Hauptfigur von «Furiosa», ein Prequel von George Millers «Mad Max: Fury Road», wird sich ihren (bereits lädierten) Arm amputieren, um ihren Peinigern zu entkommen. In «Bird», dem
Wettbewerbsbeitrag der Britin Andrea Arnold, wirkt das von der Protagonistin durchlebte Schicksal vergleichsweise versöhnlicher: In ihrem Aufbegehren gegen das autoritäre Gehabe des infantilen Vaters wird sich das adoleszente Mädchen ihre Frisur ruinieren. Das «richtige Bild» zu finden, ist auch für Rithy Panh eine permanente Herausforderung.
Panh, der in Cannes vor dreissig Jahren mit seinem Dokumentarfilm «S21, la machine de mort khmère rouge» die Spuren des kambodschanischen Völkermords nachzeichnete, hat dieses Jahr eine Fiktion vorgelegt, inspiriert von einem Erfahrungsbericht der amerikanischen Journalistin Elisabeth Becker. Die Reporterin Lise Delbo (Irène Jacob), begleitet von einem Fotojournalisten (Cyril Gueï) und dem kommunistischen Sympathisanten Alain Cariou (Grégoire Colin) folgt nach dem Ende des Bürgerkriegs der Einladung des Regimes, die potemkinschen Dörfer des ausgebluteten Landes zu besuchen. Als sich seitens der französischen Gäste der Verdacht verdichtet, dass die Intellektuellen des Landes dem revolutionären Furor zum Opfer gefallen sind, reichert die Regie die fiktive Rekonstitution ihres Aufenthalts mit dokumentarischen Sequenzen an, andere Szenen wiederum sind mit Holzfigurinen nachgestellt, was der Wirklichkeit des Genozids einen wechselweise direkten und distanzierten Ausdruck verleiht.
Am Ende, als Alain Cariou bei seinem ehemaligen Pariser Studienkollegen Pol Pot eine Privataudienz erhält, taucht die anbrechende Nacht den Präsidentenpalast langsam in ein gespenstisches Dunkel: Selten war im Kino ein derart präzises Bild für das kambodschanische «Herz der Finsternis» zu sehen.
«Oh, Canada»
Dem Filmbild, beziehungsweise dessen «Wahrheitsgehalt», ist auch Paul Schraders «Oh, Canada» gewidmet. Das Kammerspiel, eine Adaptation des Romans «Foregone» von Russell Banks, zeigt ein kanadisches Drehteam, das dem krebskranken Dokumentarfilmer Leonard Five (Richard Gere), der sich in den sechziger Jahren als politischer Aktivist und amerikanischer Kriegsdienstverweigerer profiliert hat, ein filmisches Porträt widmen will. Five, seit seiner Ausreise aus den USA in Montreal installiert, akzeptiert die Idee eines Interviews, allerdings unter der Bedingung, dass die Fragen von seiner ehemaligen Studentin und nunmehr Produzentin und Partnerin Emma (Uma Thurman) gestellt werden können.
Vieles plädiert dafür, «Oh, Canada» als Meditation über das Sterben einzustufen. Der Film ist Banks gewidmet, der im Januar 2023 an Krebs gestorben ist und in Interviews des Öfteren betont hatte, sich nur für Literatur zu interessieren, in der «der Tod präsent ist». Richard Geres verwittertes Gesicht, von Schraders Kamera aus grosser Nähe beobachtet, lässt wiederum Reminiszenzen an Schraders mittlerweile vierzig Jahre zurückliegende Inszenierung «American Gigolo» hochsteigen. Die Schmerzen und der vom Morphium verursachte Rauschzustand lassen Fives Erinnerungen freischweben und sind teilweise auch widersprüchlich, was sich in stilistischen Variationen und überraschenden Zeitsprüngen spiegelt. Immer wieder schneidet die Montage auf Schwarzweiss-Sequenzen, da die Rolle des Protagonisten wechselseitig von Gere und dem fünfzig Jahren jüngeren Jacob Elordi besetzt ist, ergeben sich auch bei der Figurenzeichnung identitäre Mischzonen.
Die zentrale Idee des Films gründet indessen auf der Idee, das Interview mittels einer neuen Aufnahmetechnik als frontale Begegnung zwischen dem Regisseur und seiner Frau zu inszenieren: ein vor der Kamera installierter Monitor (das sogenannte «Interrotron», eigentlich vom Filmemacher Errol Morris erfunden), erlaubt es den Gesprächspartnern, ihrem Gegenüber während der Aufnahme in die Augen zu blicken. Die Kamera, die sich wie eine Trennwand zwischen das Paar stellt, wird alsbald zum singulären Ort, an dem sich das Wahre manifestieren kann: Nicht nur die Legende des grossen Künstlers während der Aufnahme erhält Risse, auch die moralische Autorität von Five implodiert unter dem desillusionierten Blick der Ehefrau.
Während einer Unterrichtsstunde sagt Five seinen Studenten, jede Biografie sei auch ein Bericht über das Sterben. In «Oh, Canada» koinzidiert Fives Tod mit dem Augenblick, in dem er von seiner Überquerung der kanadischen Grenze berichtet: Er versinke in einer schwarzen Leere, die nach und nach «alles Licht» absorbiere, sagt er im Off, während das gleissende Weiss eines Filmspots die Leinwand füllt. La Rochefoucauld schrieb einst in einer Maxime, man könne «weder der Sonne noch dem Tod ins Auge sehen». Für Schrader scheint das Kino den Aphorismus widerlegen zu können.
«Megalopolis»
Sei’s wegen der Filmografie des amerikanischen Meisters, sei’s aufgrund der Kosten und der offenbar barocken Produktionsbedingungen: Unbestrittenes Schwergewicht der ersten Festivalwoche war Francis Ford Coppolas «Megalopolis». Die Dimensionen des Projekts erinnern an Griffiths Stummfilmmonument «Intolerance», der artistische Gestus verrät eine Faszination für Werke, wie sie vor allem im Goldenen Zeitalter Hollywoods entstehen konnten. Oft wirken Coppolas Optimismus und sein nachgerade störrisches Festhalten an der «grossen Form» wie aus der Zeit gefallen, insgesamt hinterlässt der Film jedoch den Eindruck, der mittlerweile 85-jährige Regisseur sei von einem solideren Glauben ans Kino beseelt als viele seiner virtuellen Enkel.
Tatsächlich hat Coppola mit seinem als «Fabel» qualifizierten Alterswerk sämtliche Brücken abgebrochen; da er den Grossteil des Produktionsetats mit seinem eigenen Vermögen gestemmt hat, ist er auch persönlich auf den finanziellen Erfolg des Films angewiesen. Natürlich ist er sich auch der Stärke bewusst, die mit dieser Entscheidung einhergeht: «Nur wenn wir ins Unbekannte springen, beweisen wir, dass wir frei sind», ist ein Satz, der mindestens zweimal von einer der Filmfiguren zu hören ist. Die Schlussszene, ein direktes Plädoyer für die familiären Werte, lässt überdies erkennen, dass Coppolas Prioritäten ohnehin eher im Privaten liegen.
Insgesamt zeugt der Plot von einer verblüffenden Simplizität: New Rome, die besagte «Megalopolis», die man leicht für New York halten könnte, ist von ähnlichen Gefahren bedroht, die bereits ihre antike Vorgängerin in den Ruin getrieben haben. Cesar Catalina (Adam Driver) ist ein visionärer Stadtplaner, der die Megalopole von Grund auf neu designen will, der Bürgermeister (und ehemalige Staatsanwalt) Franklin Cicero hält dagegen, zumindest bis seine Tochter Julia (Nathalie Emmanuel), ein zur Monogamie übergetretenes Partygirl, den Vater über ihre Heiratspläne mit Cesar und die anstehende Niederkunft informiert.
Auch die peripheren Charaktere tragen extravagante Namen: Da ist der Onassis-artige Banker Hamilton Crassus III, mit viel Gourmandise von Jon Voight gespielt, die junge Fernsehmoderatorin Wow Platinum (Aubrey Plaza), die später Crassus heiraten wird, sowie Claudio, dessen Sohn (Shia LaBeouf), ein Hofnarr, der sich mit der anonymen Denunziation von Sexskandalen hervortut.
Trotz der ambitiösen Anlage der Inszenierung sind viele der stärksten Momente in Nahaufnahme gedreht, etwa die Eingangsszene, wenn Adam Driver aus einem Dachfenster des Chrysler-Buildings steigt und einen Schritt ins Leere macht, bevor er den Zeitfluss mit einem Fingerschnippen zum Stoppen bringt. Später wird er sich zusammen mit Julia in der goldigen Abendsonne in schwindelerregender Höhe auf einem Stahlbalken der Umwelt entziehen, um sich allein vom Fluss der Emotionen tragen zu lassen.
Wenn die Stadt in Totalen als Zukunftsvision erscheint, erweisen sich die entfernt an Zaha Hadid erinnernden Gebäude als realitätsfern, als ob die filmische Wirklichkeit irrelevant wäre. Allerdings liegen die Stärken der Inszenierung ohnehin in den Dissonanzen und den ästhetischen Brüchen. Die Dialoge können reibungslos von Smalltalk zu Zitaten von Mark Aurel übergehen, Musicaleinlagen kontrastieren mit visuellen Trouvaillen und Versatzstücken eines politischen Dramas, das aus den Achtzigerjahren stammen könnte.
Auch Anspielungen auf die Filmgeschichte sind nie fern – die Präsenz von Laurence Fishburne in der Rolle eines Limousinen-Chauffeurs genügt, um die Erinnerungen an «Matrix» wachzurufen.
In «Oh, Canada» lässt Schrader seine Kamera während des Vorspanns diverse Utensilien eines Filmdrehs einfangen: Ein Scheinwerfer wird installiert, ein Stativ verschoben, eine Frauenhand klebt ein kreuzförmiges Positionsmal auf den Parkettboden. Coppola sagte während seiner Pressekonferenz, er habe in seiner Karriere alles realisiert, was er machen wollte. Beide Wettbewerbsbeiträge, von Gründerfiguren des «New Hollywood» gedreht, stehen heute auch für einen Generationenwechsel, der imminenter erscheint als je.